- 1 - Aus der Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Abteilung Poliklinik für Kieferorthopädie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Funktionelle Untersuchungen zur Lippenmorphologie bei der Angle Klasse II/2 INAUGURAL – DISSERTATION zur Erlangung des Zahnmedizinischen Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Vorgelegt 2001 von Alberto Mager geboren in Heidelberg - 1 - Dekan: Prof. Dr. rer. nat. Martin Schumacher 1. Gutachter: Prof. Dr. med. dent. I. Jonas 2. Gutachter: Prof. Dr. rer. nat. H. F. Kappert Promotionsjahr: 2002 - 3 - Meinen Eltern - 44 - 1 Einleitung_________________________________________________________ 6 2 Theoretische Grundlagen_____________________________________________ 8 2.1 Okklusion ____________________________________________________________ 8 2.1.1 Normokklusion___________________________________________________________8 2.1.2 Okklusionsabweichungen___________________________________________________8 2.2 Die Anomalie der Klasse II/2_____________________________________________ 9 2.3 Die mimische Muskulatur______________________________________________ 13 2.3.1 Die periorale Muskulatur __________________________________________________14 3 Material und Methoden_____________________________________________ 15 3.1 Hardware ___________________________________________________________ 15 3.1.1 Die EMG-Elektroden _____________________________________________________15 3.1.2 Die Drucksensoren _______________________________________________________15 3.1.3 Eichung der Sensoren _____________________________________________________17 3.1.4 Computer_______________________________________________________________18 3.2 Software ____________________________________________________________ 19 3.2.1 Registrierung der Daten ___________________________________________________19 3.2.2 Ergebnisse der Lippendruckmessungen _______________________________________20 3.2.3 Auswertung der EMG und Drucksignale ______________________________________21 3.3 Befestigung der Elektroden_____________________________________________ 23 3.4 Herstellen der Tiefziehfolien und Anbringen der Drucksensoren______________ 23 3.5 Bestimmung des Frontzahnneigungswinkels_______________________________ 23 3.6 Probandengut________________________________________________________ 24 3.7 Versuchsablauf_______________________________________________________ 24 3.7.1 Positionierung der Elektroden_______________________________________________24 3.7.2 EMG-Einzelmessung _____________________________________________________26 3.7.3 Simultanmessung ________________________________________________________27 3.7.4 Bestimmung der Lippenschlußlinie___________________________________________30 3.8 Statistische Auswertung________________________________________________ 32 4 Ergebnisse________________________________________________________ 33 4.1 Vergleich der klinischen Werte im Frontzahnbereich _______________________ 33 4.2 Ergebnisse der Lippendruckmessung ____________________________________ 38 4.2.1 Unterteilung nach Methoden zur Bestimmung der Ruhelippenposition_______________38 - 55 - 4.2.2 Beziehung zwischen Ruhelippendruck und Höhe der Lippenschlußlinie______________43 4.3 Ergebnisse der EMG-Messungen________________________________________ 45 4.4 Korrelation der Druckwerte____________________________________________ 49 5 Diskussion________________________________________________________ 58 6 Zusammenfassung_________________________________________________ 70 7 Literaturverzeichnis ________________________________________________ 71 A Anhang__________________________________________________________ 76 - 66 - 1 Einleitung Die Anomalie mit der Trias Distalverzahnung, Steilstand der Oberkieferfront und Tiefbiß wurden das erste Mal von Angle als Klasse II Untergruppe 2 zusammengefaßt [Angle 1899]. Der Begriff „Deckbiß“ wurde erst später von Mayerhof eingeführt [Mayerhof 1912]; er bezeichnet den ausgeprägten frontalen Überbiß, der sehr häufig, aber nicht regelmäßig bei Patienten mit einer Angle Klasse II/2 zu finden ist. Ätiologisch werden verschiedene Faktoren diskutiert. Die Inversion der oberen Schneidezähne soll dabei eine entscheidende Rolle spielen [Schulze 1982], für die eine genetisch bedingte steile Keimlage verantwortlich sein soll. Andere Autoren sehen in einer hohen Lippenschlußlinie [Karlsen 1994] und einem erhöhten Lippen- bzw. Mentalistonus [Fränkel und Falk 1967] den wesentlichen einflußnehmenden Faktor auf die Entstehung der Klasse II/2. Außerdem kommen eine vertikale Überentwicklung der Prämaxilla [Korkhaus 1939] und eine, im Verhältnis zu den unteren zu kleine Breite der oberere Incisivi in Betracht [van der Linden 1983]. Ursächlich scheint die genetische Komponente eine hohen Stellenwert zu besitzen, wie verschiedene Studien gezeigt haben [Litt und Nielsen 1984, Markovic 1992], wobei eine additive Polygenie postuliert wird [Christiansen-Koch 1981]. Eine ausschließlich genetische Ätiologie wird von den meisten Autoren jedoch nicht akzeptiert. Eine Untersuchung an monozygoten Zwillingen mit phänotypisch unterschiedlichen Anomalien ( Klasse II/1 und Klasse II/2) unterstützt die Hypothese, daß die Vererbung nicht den einzigen ätiologischen Faktor darstellt [Ruf und Pancherz 1999]. Die Klasse II/2 zeichnet sich durch ein hohes Rezidivpotential und einen nach Abschluß der Gebissentwicklung progredienten Verlauf aus, was ebenfalls für eine multifaktorielle Genese spricht. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stand der Einfluß des umgebenden Weichgewebes auf die Oberkieferfrontzahnstellung. Dieser sollte mit Hilfe von EMG-Messungen und Lippendruckmessungen untersucht werden. Es wurden dabei speziell für den perioralen Bereich entwickelte EMG-Sonden verwendet, die nicht die Nachteile der konventionellen - 77 - Meßsonden besitzen [Lapatki 1998]. Um genaue Aussagen über den Kraftangriffspunkt zu machen, wurden pro Zahn zwei Drucksensoren, in incisaler und cervikaler Region, appliziert. Die Drucksensoren wurden speziell für diese Studie modifiziert und die Messungen bei insgesamt 42 Probanden im bleibenden Gebiß durchgeführt. Davon besaßen 21 Probanden die charakteristischen Merkmale einer Klasse II/2-Anomalie; die Kontrollgruppe bestand aus 21 Probanden mit Klasse I-Verzahnung und physiologischen Frontzahnbeziehungen. - 88 - 2 Theoretische Grundlagen 2.1 Okklusion 2.1.1 Normokklusion Nach Angle liegt eine Regelverzahnung der Seitenzähne vor, wenn der obere Eckzahn zwischen unterem Eckzahn und dem unteren ersten Prämolaren beißt, während der mesiobukkale Höcker des oberen ersten Molaren in die erste bukkale Hauptfissur des ersten unteren Molaren greift [Angle 1899]. Die sagittale Frontzahnstufe (Overjet) und der vertikale frontale Überbiß (Overbite) betragen 2-3 mm. Der Overjet ist definiert als die Distanz zwischen Inzisalkante der oberen mittleren Incisivi und Labialfläche der unteren mittleren Schneidezähne. Das Maß für den Overbite ist der vertikale Abstand zwischen den Schneidekanten der oberen und unteren mittleren Incisivi. 2.1.2 Okklusionsabweichungen 2.1.2.1 Einteilung der Okklusionsabweichungen in der Sagittalen Die klassische Einteilung nach Angle basiert auf der Seitenverzahnung insbesondere der ersten Molaren. Der Bezugspunkt ist dabei der Unterkiefer. Angle definierte folgende Gruppen : • Angle Klasse I: Der mesiobukkale Höcker des oberen Sechsers beißt in die Furche zwischen dem mesio- und mediobukkalen Höcker des unteren Sechsers. Man spricht von Neutralbiß oder Normokklusion. • Angle Klasse II/1: Der Unterkiefer ist im Bezug zum Oberkiefer nach distal verschoben und die Oberkieferfrontzähne sind nach labial gekippt. Die vordere Zahnbogenlänge ist vergrößert. - 99 - • Angle Klasse II/2: Es liegt ein Distalbiß mit Steilstand der Oberkieferfrontzähne vor. Die vordere Zahnbogenlänge ist verkürzt. • Angle Klasse III: Der Unterkiefer befindet sich in einer mesialen Position zum Oberkiefer. Um individuelle Unterschiede der Zahngrößen zu berücksichtigen, werden die Abweichungen in der Bißstellung in Prämolarenbreiten bzw. in deren Bruchteile angegeben. Die Einteilung nach Angle ist eine rein dentale, sie beschreibt eine intermaxilläre Zahnstellung. Angle setzt die Okklusionsstellung im Seitenzahnbereich mit der sagittalen Kieferlagebeziehung gleich. Durch Wanderung der Zähne kann es jedoch zu Veränderungen der intermaxillären Relation der Seitenzähne kommen. Die Relation der Seitenzähne ist dann unabhängig von der Kierferlage. Die Bißlage kann erst durch gedankliche Rückversetzung der Wanderungen bestimmt werden. Man spricht von der „Rekonstruktion der Bißlage“ nach Schwarz oder dem „Umdenken“ nach Grünberg [Rakosi und Jonas 1989]. 2.1.2.2 Einteilung der Okklusionsabweichungen in der Vertikalen Die Einteilung der Okklusionsabweichungen in der Vertikalen erfolgt nach dem Ausmaß des vertikalen Überbisses. Man unterscheidet den offenen Biß und den Tiefbiß. Der Überbiß gilt als verstärkt, wenn die oberen Incisivi die Labialfläche der unteren um mehr als ein Drittel bzw. um mehr als 2-3 mm bedecken. Sowohl der offene Biß als auch der Tiefbiß können skelettal oder dentoalveolär manifestiert sein. 2.2 Die Anomalie der Klasse II/2 Die Klasse II/2 ist charakterisiert durch die Trias: Tiefbiß, retroinklinierte Oberkiefer- frontzähne und eine Distalbißlage. Sie wurde erstmals von Angle als eigene Gruppe definiert [Angle 1899]. Hinsichtlich der Kippung der Oberkieferfrontzähne lassen sich vier Varianten unterscheiden [Jonas 1999]: • Steilstand der Einser und Labial- oder Normalstand der Zweier • Steilstand der Incisivi und Vestibulärstand der Dreier - 1100 - • Steilstand aller sechs Frontzähne • Gemischte Form mit einseitigem Steilstand der Incisivi Für den besonders ausgeprägten Tiefbiß führte Mayerhof 1912 den Begriff Deckbiß ein. Der Deckbiß ist ein häufiges aber nicht notwendiges Symptom der Klasse II/2, ebenso treten Deckbißfälle ohne Distalbißlage des Unterkiefers auf. Durch die Palatinalkippung der Frontzähne kommt es zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Engstand. Je nach dem wie ausgeprägt der Engstand ist, spricht man von einer breiten oder schmalen Form der Klasse II/2. Der kurze, frontal abgeflachte Zahnbogen gilt dabei als typisches klinisches Erscheinungsbild der Anomalie [Jonas 1999]. Das Verhältnis der Zahnbreiten der Frontzähne gegenüber der der Seitenzähne spielt dabei eine wesentliche Rolle. In einem Teil der Fälle stehen die beiden mittleren Incisivi invertiert und die beiden lateralen weichen nach labial aus. Dabei lagert sich oft die Unterlippe hinter die seitlichen Schneidezähne ein und verstärkt die Labialkippung der oberen Zweier. Bei sehr ausgeprägten Engständen kommt es zur unterminierenden Resorption des Milcheckzahns. Die vier Frontzähne nehmen den gesamten Raum ein und es entsteht das klinische Bild einer Flachfront. Die Achsenstellung der Unterkieferfrontzähne kann variieren. Der Interincisalwinkel ist immer vergrößert [Jonas 1999]. Die Unterkieferfrontzähne finden während des Durchbruchs keinen okklusalen Kontakt zu den steil stehenden oberen und stehen im bleibenden Gebiß mehr oder weniger in Supraposition, das verstärkt den Overbite bis hin zum kompletten Deckbiß. Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist die Diskrepanz in der Höhe der Alveolarfortsätze der Front- und Seitenzähne, der dentoalveoläre Komplex ist im Seitenzahnbereich erniedrigt [Karlsen 1994]. Röntgenkephalometrisch zeichnet sich die Klasse II/2 durch eine vorwiegend horizontale Wachstumsrichtung aus, was für einen skelettalen Tiefbiß spricht [Brezniak et al. 1998]. Der Oberkiefer kann sowohl pro-, ortho- als auch retrognath eingebaut sein [Karlsen 1994, Pancherz und Winneberg 1981, Renfroe 1948]. Der Unterkiefer liegt meist retrognath [Karlsen 1994] . Der SNB ist bei normal liegendem Pogonion verkleinert, so daß man von einem retrognathen Einbau des dentoalveolären Komplexes des Unterkiefers ausgeht. Man findet meistens einen eher zu großen Wert für den ANB, was für eine Tendenz zur skelettalen Klasse II spricht [Pancherz et al. 1997].
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