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Fremde und Andere in Deutschland: Nachdenken über das Einverleiben, Einebnen, Ausgrenzen PDF

246 Pages·1995·0.66 MB·German
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Fremde und Andere in Deutschland Siegfried Muller Hans-Uwe Otto Ulrich Otto (Hrsg.) Fremde und Andere in Deutschland N achdenken uber das Einverleiben, Einebnen, Ausgrenzen Leske + Budrich, Opladen 1995 ISBN 978-3-322-95854-9 ISBN 978-3-322-95853-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95853-2 © 1995 by Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieBlich alIer seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu stimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere ftir Ver vieWiltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Zur Einfiihrung VII Rainer Treptow Fremdheit und Erfahrung Zur Normalitat der Fremdheitszumutung 1 Klaus Prange Das Fremde und das Eigene im ErfahrungsprozeB 19 Ursula Apitzsch "Denken des Anderen" - Uber Traditionen des Interkulturellen 33 Farideh Akashe-Bohme Frausein - Fremdsein 51 Christoph Deutschmann Fremdenfeindlichkeit im vereinten Deutschland 61 Peter Pawelka Der fremde Orient als neues Feindbild des Westens? 75 Manfred Bornewasser Motivationale Hintergriinde von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt 87 Gerhard Winter Stereotypisierung und Diskriminisierung von Fremden 103 Josef Held Politische Orientierungen Jugendlicher im Kontext gesellschaftlicher Veranderungen ........................ 117 Burkhard MUller Sozialer Friede und Multikultur Thesen zur Geschiehte und zum Selbstverstandnis sozialer Arbeit 133 Ralf Koerrenz Das biblische Bild vom Fremden Anthropologische und soziologische Perspektiven 149 Heinz Giebenhain Die gesellschaftliehe Integration von Fremden durch den Sport 165 Klaus-Peter Kopping Ausgrenzung oder Vereinnahmung? Eigenes und Fremdes aus der Sieht der Ethnologie 179 Utz Jeggle Fremdsein im eigenen Land 203 Konrad Kostlin Das fremde Essen - das Fremde essen: Anmerkungen zur Rede von der Einverleibung des Fremden 219 Autorinnen und Autoren 235 Zur Einfiihrung Hoyerswerda war nur der Anfang. Der HaB und die Gewalttatigkeiten gegen Fremde baben keinen exldusiven Ort mehr in Deutschland. Es vergeht kaum eine Woche, in der die Medien nieht von fremdenfeindliehen Ubergriffen und AnschIagen berichten. Allein 1992 kamen dabei 17 Menschen zu Tode - im Osten und Westen des vereinten Deutschland. Bevor die Brandsatze flogen und auf offener StraBe Jagd auf Fremde gemacht wurde, fielen dieSpriiche: zunachst anonym, dann an den Stammtischen und schlieBlich unverhohien auch in der Offentliehkeit. Die Fremdenfeindlichkeit beginnt mit dem hier archisierenden Abgrenzen und dem diskriminierenden Ausgrenzen. Am SchiuB brennen dann die Menschen - drauBen vor der Tiir und umgeben von einer Mauer des Schweigens. Die Emporung findet nur lang sam ihre Sprache. Erst angesiehts der zu Tode gekommenen Opfer zeigt sieh eine, zumeist noch ohnmachtige Betroffenheit. Die Toten schrecken die Offentlichkeit auf; nieht die Gewalttatigkeiten gegen die, die noch einmal davongekommen sind, schon gar nieht die alltaglichen Diskriminierungen der Fremden. Die Lichter ketten sind edoschen und Pravention steht auf der Tagesordnung einer ratlo sen und auf schnelle Losungen bedachten Politik. Die vieifaItigen sozialpM agogischen Programme zum Abbau der Gewaltbereitschaft Jugendlieher sind mit den Hoffnungen eines friedlichen Zusammeniebens von In- und AusIan derInnen verbunden. Ais ob dies nur eine Angelegenheit einer interkulturellen Erziehung sei. Die der Fremdenfeindlichkeit zugrundeliegenden Probleme der Ab- und Ausgrenzung liegen tiefer und sind keineswegs nur auf Deutschland be schrankt. In einer Zeit, in der totalitare Systeme zusammenbrechen und natio nalstaatliche Grenzen in Europa an Bedeutung verlieren, werden neue Gren zen gezogen: ethnisch, kulturell, sprachlich und auch religiOs. Das - zumeist nur vermeintliche und stets konstruierte -Eigene wird betont, indem es gegen das (eben so konstruierte) Fremde hervorgehoben und positiv abgegrenzt wird. Unter neorassistischen Gesiehtspunkten werden die Fremden als minderwertig typisiert und in der Konkurrenz urn knappe Gilter als Bedrohung empfunden. Aite Nationalismen brechen auf und kulturelle Unterschiede werden als Krite rien der ZugeMrigkeit und AusschlieBung reklamiert. Und dies keineswegs nur an den Randern der Gesellschaft, wenn auch dort besonders auffaIlig und VII in einem hohen MaBe stereotypisiert. Die Andersheit der Fremden wird zum Limes der Ausgrenzung, die im Kopf beginnt und sieh schlieBlich in kollekti yen nationalen Gewaltakten konkretisiert. Doch wer sind die Fremden und wodurch unterscheiden sie sieh von den Eigenen? Auf der personalen Ebene ist dies die Frage danach, wer wir sind. Auf der kollektiven Ebene geht es dabei urn ZugehOrigkeit. Wer gehOrt zu uns und soll zukiinftig zu uns gehOren - und hat damit, jenseits aller gesell schaftlichen Binnendifferenzierungen, einen Anspruch auf jene partikularen Rechte, die den Eigenen vorbehalten sind. Die Fremden und die Eigenen: Bei der Suche nach einer durch Staatsgrenzen nicht bestimmbaren kollektiven Identitat (die dem Weltbiirger stets fremd war), treffen intensive Homogeni sierungswiinsche und Trennungsphantasien aufeinander. Blutsbande, Sprach gemeinschaft, kulturelle Ubereinstimmung und historisches Schieksal: all dies sind keine festen Grundlagen, sondem konstruierte und "geglaubte Gemein samkeiten" (Max Weber), die man nieht ontologisch ermitteln kann. Mit dem Konstrukt des Eigenen wie des Fremden wird Komplexitat reduziert und wer den Differenzen markiert. Ohne das Fremde gibt es das Eigene nieht; ohne Differenz zum Fremden ist das Eigene nieht erfahrbar. In der Abgrenzung werden so zugleieh die Bediirfnisse nach ZugehOrigkeit befriedigt. Differen zierungsbedarf und Identitatswiinsche korrespondieren eng miteinander. Die Fremden: Das sind nieht nur die "Wanderer, die heute kommen und morgen bleiben" (Simmel) und auf die sieh der HaB und die Feindseligkeiten konzentrieren - und die so bewegt werden sollen, iibermorgen wieder zu gehen. Es sind nieht die "vertrauten" AusUinderInnen, sondem die, die anders sind: Anders im Verhalten, Habitus, Aussehen und vor allem in ihren kultu rellen Eigenheiten. Diese Andersheit wird als fremd empfunden und als Bedrohung der vermeintlich eigenen kulturellen Identitat angesehen. Es sind nieht die Fremden schlechthin, von denen man sich abgrenzt und auf die sieh dann die Feindlichkeiten konzentrieren. AussiedlerInnen, GastarbeiterInnen und AsylbewerberInnen: Sie sind in unterschiedlichem AusmaB Objekt nega tiver Typisierungen und konkreter Anfeindungen. Auch untereinander. Das Eigene und das Fremde: Die Grenzziehungen haben keine stringente Logik. Sie sind in einem hohen Mafie kontingent, historisch variabel und mitunter auch situationsabhangig. Bei dem Versuch, die Fremdenfeindlichkeit zu verstehen, geht es in erster Linie nieht urn die Fremden, sondem urn uns. Es geht darum, warum wir all gemein und in bestimmten gesellschaftliehen Situationen das Fremde ausgren- VIII zen und in den Fr-emden das Andere entwerten - und mitunter auch hassen, sofem es sieh nieht einverleiben laBt. Doch fremd ist UDS nieht nur das An dere an den unvertrauten AuslanderInnen, fremd ist uns auch die Andersheit bei den Eigenen, das Fremde an ihnen - und das Fremde in uns. So sind uns manche Fremde vertrauter als die Eigenen. 1m vereinigten Deutschland besteht ein Fremdheitsproblem nieht nur zwi schen In- und AuslanderInnen. Die separate Nachkriegsgeschiehte hat auch die Kultumation getrennt, die Deutschen untereinander fremd werden lassen. Auch wenn es politisch nieht gerade oppurtun ist: Manchen aus den alten Bundeslandem sind die Menschen und die Verhaltnisse in der Toscana vertrauter als die in der Oberlausitz. Ihnen geht es dabei sieherlich nicht an ders als manchen Sachsen mit Prag und Mtinchen. Das Fremde verstehen heiBt nieht, es sich dadurch vertraut zu machen, indem man es "entfremdet", heimisch macht und auf diese Weise neutralisiert. Man kann sieh mit dem Fremden auch vertraut machen, ohne es gleieh einzuverleiben, indem man den Fremden das ihnen Eigene laBt. Das Vertrautwerden mit dem Fremden, das man ohnehin nie vollstandig verstehen kann, nimmt ibm - das ist jeden falls die Hoffnung - das Bedrohende und erlaubt so einen zivilisierten Um gang mit den Fremden. Damit ist eine Erwartung verbunden, die wir gegen tiber den Fremden im Umgang mit uns fUr selbstverstandlich halten. In dem vorliegenden Band wird der Versuch untemommen, einigen der hier angedeuteten Probleme aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen auf den Grund zu gehen. Die von der Sache her gebotene Interdisziplinaritat der Erforschung der Fremdheitsproblematik setzt zunachst einmal Disziplinaritat ~ voraus. Die einzelnen Beitffige gehen im wesentliehen zuruck auf eine Fach- tagung der Zeitschrift neue praxis mit der Gilde Soziale Arbeit und auf eine Ringvorlesung der Fakultat fUr Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Eberhard-Karls-Universitat Ttibingen. Der Universitat verdanken wir die Moglichkeit, hierzu auch Gaste eingeladen haben zu konnen. Ein besonderer Dank gilt Andreas Bieligk, Margarete Finkel und Ellen Hagmann. Ohne ihre engagierte Mitarbeit ware dieses Buch nieht zustandegekommen. Ttibingen/Bielefeld, im Marz 1995 Siegfried Mtiller/Hans-Uwe OttolUlrich Otto IX Rainer Treptow Fremdheit und Erfahrung Zur NormalWit der Fremdheitszumutung 1. Wahrheitsanspruch als Fremdheitszumutung: Erinnerung an den "Fall Galilei" Rom, 22. Juni 1633. Ort der Handlung: der GroBe Saal Santa Maria im Kloster St. Minerva. Hier, in dieser Stiitte hatte bereits der Naturphilosoph Giordano Bruno, kniend im BiiBerhemd, das Urteil des ,J-Ieiligen Offiziurn" entgegengenommen, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden (vgl. Hem leben 1969). Jetzt, dreiBig Jahre danach, steht ein anderer im BiiBerhemd vor der Inquisition. Zwei Verhfue, am 27. und am 30. April, hat er bereits durch gestanden. Entschieden verlangen die Vertreter des ,J-Ieiligen Offtziurns" jetzt und endgiiltig, seinen "Irrlehren" abzuschworen. Sie haben die Vollmacht des Papstes, dem 70jahrigen mit der Folter zu drohen, falls er nicht widerrufe. Die Anldage lautet: "Sie sind vercllichtig, fiir wahr gehalten und geglaubt zu haben, daB die Sonne der Mittelpunkt der Welt ist, und daB sie sieh nieht von Ost nach West bewegt, und daB die Erde sieh bewegt und nieht der Mittelpunkt der Welt ist. Sie sind weiter venllichtig, zu meinen, daB man eine Meinung vertreten und als wahrscheinlich verteidigen diirfe, nachdem erkHirt und festgestellt ist, daB sie der Heiligen Schrift zuwider ist" (zit. nach Hemleben 1969, S. 131). Gali leo Galilei kniet nieder vor den versammelten Richtem, KardinaIen und In quisitoren. Er spricht die Abschworformel, unterzeiehnet ein Dokurnent. Er widerruft die Arbeit seines ganzen Lebens. Der Physiker liigt, genauer: er tut, als sei er bekehrt. So reUet er sieh. Dreihundertfiinzig Jahre spater, 1992, wird Galilei yom Vatikan ,,rehabilitiert". Indessen: nicht das Verhalten Galileis solI hier von Interesse sein; es geht nieht vor allem urn die bohrende Frage Brechts nach dem VerhaItnis des IntelIektuelIen zur Macht (vgl. Brecht 1975), auch nicht urn die gelassene Einscbatzung Horkheimers, Galilei sei eine notwendige Erscheinung in der Morgendammerung des btirgerlichen Zeitalters (vgl. Horkheimer 1987). Von Interesse ist vielmehr, daB der Physiker seine Ergebnisse nur hat aussprechen kannen, indem er sie als das Fremde gegen das Vertraute setzte. Das neue Wissen wird dem Uberlieferten als das Fremde zugemutet: Fremdheit als Konstrukt der Wissenschaft Ftirwahr: ein ungewohntes Gebilde hatte Galilei konstruiert, als er das Un erhOrte vortrug, daB die Erde nicht Mittelpunkt sei. Durch die Anwendung des damals vallig neuen Fernrohrs entwickelte er eine neu inspirierte Metho de, die Berechnungen des Kopemikus mit empirischer Beobachtung zu ver binden. Wie abwegig, wie befremdlich mussen seine Entdeckungen auf seine Zeitgenossen gewirkt haben! Aufgeregt schreibt ein Priester aus Padua in einem Brief an ihn, ,,niemanden" habe er finden kannen, "der Eurer Meinung beipflichten wiirde, daB die Erde sich bewegt", und er rat ibm dringend davon ab, eine Sache noch langer zu verteidigen, "die so sehr der Einsicht und Fassungskraft des Menschen widerstrebt" (zit. nach Hemleben 1969, S. 71). Hans Blumenberg tragt die Dokumente zusammen, die zeigen, welch hart nackige Abwehr von gelehrten Zeitgenossen sogar dagegen be stand, sich durch Augenschein uberzeugen zu lassen. Der eine "weigerte sich lebenslang lich, iiberhaupt einen Blick durch das Fernrohr zu werfen, weil dies seinen Kopf verwirren kanne, wie er mit schOner Offenheit in einem Brief ( ... ) schrieb" (Blumenberg 1981, S. 764); ein anderer, der den Mut dazu hatte, be hauptete gar, "nichts von den Trabanten wahmebmen zu kannen" (ebd.) -er hat sich selbst blind gemacht. Nachdem wieder jemand wortreich begriindete, daB er beim Blick durchs Femrohr nicht gesehen hat, was nicht gesehen werden durfte, klagt Galilei: ,,Mit logischen (!) Argumenten, als seien es magische Beschwarungen, wollte er die neuen Planeten yom Himmel gewalt sam abreiBen und hinwegreden" (zit. nach ebd.). " ... Gewaltsam abreiBen und hinwegreden" - dies alles, weil er die Ver trautheitsannahmen, das alltagliche Herrschaftswissen, mit einer Konstruktion konfrontiert, die urn so fremder, ja absurder erscheinen muBte, je grundsatzli cher sie die egozentrische SelbstgewiBheit mit der Kriinkung bedroht, die Wahrheit sei, der Mensch halte sich allenfalls am Rande des Sonnensystems auf. Die neue Argumentation, die auf vemunftige Priifung von Methode und Berechnung vertraut, sie droht nichts Geringeres an als die Entwertung der lebensweltlichen Vertrautheit, der Raum- und Zeit-Koordinaten, in denen das eigene Selbst verortet wird. Das alte WeItbild kippt -auch in der Folge einer Forschungslogik, die es dazu natigte, sich den neuen Beobachtungen anzupas- 2

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