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Frankreich stellt die Uhren um PDF

232 Pages·1960·7.849 MB·German
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SIÉMON . FRANKREICH STELLT DIE UHREN UM HUGUES SIÉMON Frankreich stellt die Uhren urn WESTDEUTSCHER VERLAG· KöLN· OPLADEN ISBN 978-3-663-00546-9 ISBN 978-3-663-02459-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02459-0 Softcover reprint of the hardcover I st edition 1960 © 1960 Westdeutscher Verlag, Köln and Opladen Gesamtherstellung: Frinkische Gesellschaftsdruckerei, Würzburg INHALT Vorwort .... 7 I. Die Regeln 1. Von den Erscheinungsformen des Nationalismus 15 2. Vom Wesen des Nationalismus . 23 II. Das Dossier 1. Aigeriens Weg vom politismen Bestandteil Frankreims zum Bestandteil der französischen Politik . 53 2. Die »groBe Stumme« verlangt das Wort. 95 3. »Die neue Welle« - heute und morgen. . . 146 4. Der Franzose in der Wirtschafl:. . . . . . . 182 5. Zwismen smon vergangenerGegenwart und nom nimt gegenwärtiger Zukunfl: . . . . . . . . . . . . . . . .. 198 lIl. Der ProzeB beginnt 1. Wird Frankreim explodieren? . . . . . . . . . . . .. 219 5 VORWORT Ober alles wahrhaft sein, selbst über sein Vaterland. Jeder Bürger hat die Pflicht, für sein Vaterland zu sterben, nicht aber hat er die PfJicht, für es zu lügen. Montesquieu Weit ist der Bogen, der hier gespannt wird, und weit muB er aum sein, so11 ins Smwarze getroffen werden. Er wird reimen von den Erkenntnissen der modernen Soziologie bis zu aufsehenerregenden und dennom in Deutsmland fast unbekannt gebliebenen Vorgängen im öffentlimen Leben des Nambarlandes, er wird reimen von der Tierpsymologie bis zur Psymologie der Völker, es wird die Rede sein von explosiven Strukturen und von Explosionen struktureller K.räfte. So ist dieses bescheidene Bum das Ergebnis unbesmeidenen Stre bens. Dom sei nimts vorweggenommen, auBer diesem einen, das dem Verfasser besonders wimtig ersmeint: Wenn hier viel von Frankreich und den Franzosen die Rede sein wird, so gesooeht das auBerhalb aller Wertuneile. Sie werden nur als Beispiel dienen, an dem zu erkennen sein wird, wie Ursame und Wirkung dicht beieinander wohnen. Frankreim, die Franzosen und das Franzosentum werden hier aber ungesmminkt ersmeinen, fast ohne die Hül1e literarismen Erbgutes, nackt wie die Wahrheit. Ein solmes Unterfangen birgt Gefahren. Lehrt nimt die Erfah rung, daB jeder Bürger eines Landes, daB jedes Volk dieser Welt von anderen Ländern und anderen Völkern fixe, von der Wirklimkeit weit entfernte, für die anderen wenig sdlmeimelhafte Vorste11ungen hat und sorgsam pflegt? Die UNESCO hat vor einigen Jahren einen Forsmungsauftrag erteilt: Es sollte nach den Ursamen der »Spannungszustände« ge sumt werden, also jener MiBverständnisse, Antipathien und Gegen sätzlimkeiten, welme in den bewaffneten Auseinandersetzungen vor ausgehenden Tagen besonders virulent zu werden pflegen. Das Er- 7 gebnis ist erschütternd: Auf der weiten Welt wurde kein einziges Volk ausfindig gemacht, welches über die Nachbarvölker nicht mit verächtlichen, wenn nicht gar gehässigen Vorurteilen und mit Vor würfen aller Art aufwartet! Und so sind auch die Fehlurteile der Franzosen über Deutschland, der Deutschen über Frankreich ohne Zahl. Es wäre sicher der Mühe wert, diesen Dingen auf den Grund zu gehen und es nicht dabei be wenden zu lassen, daB ein paar Schulbücher von Fehlern, Lügen und HaB bereinigt werden, und daB ein paar Journalisten aus beiden Ländern von Zeit zu Zeit zusammenkommen, urn gute Vorsätze zu fassen. Aber gerade in diesem Punkte wird dieses Buch bescheiden bleiben müssen: Es wird das Obel angehen, aber nicht erfassen kön nen, die Aussage wird fragmentarisch bleiben, das Frankreichbild der Deutschen wird auch hier nicht die grundlegende Berichtigung erfahren, die ihm nottut. Die moderne Soziologie hat in Frankreich das Licht der Welt er bli<kt, die Völkerpsychologie in Deutschland. Das dürfte kein Zufall sein. Es wäre wohl ein Irrtum, daraus vorschnell den SchluB zu zie hen, die Franzosen seien nach innen, die Deutschen nach auBen ge kehrt. So einfach sind die Dinge nicht. Aber immerhin: Es gibt in Frankreich ein etwas eigenbrötlerisches Streben und in Deutschland offensichtlich neben der Selbstüberhebung auch eine Oberbewertung des Fremden. Wenn die Fortschritte dieser Welt der aus These und Antithese geborenen Synthese zu verdanken sind, so darf man sich nicht wundern, daB in dies en beiden Ländern und riicht nur zwischen ihnen These gegen Antithese gar häufig steht. Wenn also von Völkerpsychologie die Rede ist, so wird man nicht an ihrem Vorläufer, dem Deutschen Herder, vorübergehen können. Er istwohl dererste, der denimmerhin lobenswerten Versuchmachte, sich in die Empfindungen der Menschen eines anderen Kulturkreises einzufühlen, wenn dieser Versuch auch trotz des Beifalls der Zeit genossen als miBglü<kt angesehen werden muB. Es ist nicht ohne Interesse, wie der bekannteste, lebende Herderforscher Frankreichs, Max Rouché, gerade Herders völkerpsychologischen Versuch be wertet: »Die von Herder entworfenen psychologischen Bildnisse mehrerer Völker leiden an tendenziösen Verzerrungen. Diese sind herzuleiten aus einer Dogmatik, welche er bald aus der Zeit, in welcher er lebte, 8 bald aus seinem persönlichen Verhältnis zu der in Frage kommen den Nation bezog. Zuweilen gebärdet er sich gar zu sehr als Patriot, als gar zu sehr bestrebt, allein seinen beiden Heimatländem Deutsch land und RuBland eine Zukunft zu verheiBen, oder aber er ist be müht, nationale Gebrechen zu beschönigen, die Merkmale eines natio nalen Genius dic:k zu unterstreichen, um so aus der Weltgeschic:hte das Fundament des deutschen, literarischen Autarchieideals zu ma chen; ein andermal wiederum verlegt er sich allzusehr auf das Mora lisieren und philantropische Gedankengänge, im Bestreben, aus der Geschic:hte das Unrecht zu verbannen; und wieder andere Male er scheint er allzusehr der Gefangene der V orurteile des klassischen Humanisten des Westens, der er ja ist. So wird es verständlich, daB man im Werke Herders vergebens nach rein beschreibenden und in durchaus objektiver Geisteshaltung verfaBten Monographien suchen würde. Es sei ihm daraus kein Vorwurf gemacht. Er wollte ja Ge schichtsphilosophie, nicht aber Völkerpsychologie treiben ...« Hier müBte nun eigentlich noch von Ratzel, Wundt, Karl Lam precht, Kurt Breysig und vielen anderen die Rede sein. J eder hat seinen Stein zum Bau beigetragen. Aber genau wie die Kinder selten aus den Erfahrungen ihrer Eltem etwas lernen, so scheint auch die deutsche Publizistik sich nicht die Lehren der Völkerpsychologen zu eigen gemacht zu haben. Zudem scheint gerade in Deutschland dieser Wissenszweig jetzt vernac:hlässigt zu sein, sonst hätte sic:h doch wohl jemand im Jahre 1951 daran erinnert, daB seit dem Ersc:heinen des Manifestes von Lazarus und Steinthal just ein J ahrhundert vergan gen war. Zwar haben Thurnwald, Rudolf Steinmetz, Wilhelm E. Mühlmann, Hellpach und andere das Werk fortgesetzt, aber sie haben nicht verhindem können, daB der Wissenszweig irgendwie disziplinlos wurde. So ist es durchaus verständlich, daB in Deutsch land die Völkerpsychologie immer noch gutwilligen Literaten vor behalten bleibt, die nach den gleichen Regeln zu verfahren pflegen, nach welchen vor ihnen schon Herder verfuhr. Auch jetzt noch wird das Frankreichbild der Deutschen von einer Darstellung, die auf das heutige Frankreich angewandt, zur Ver zerrung wird - »Gott in Frankreich« von Sieburg - und zwei Pan egyriken - »Lebendiges Frankreich« und »Franzosen und Deutsche« von Distelbarth - bestimmt, Curtius verschwindet im Hintergrund. Damit ist aberdie Seele des französischen Volkes zwar verschleiert 9 sichtbar, bei weitem aber nicht enthüllt. Ist es nicht fast tragikomisch, da~ in unseren Tagen die Deutschen Frankreich, den Franzosen und dem Franzosentum wachsende Sympathien entgegenbringen, zu gleich aber sim immer weniger urn die Erforschung der französismen Psyche bemühen? Wäre es anders, so wäre es nicht zu begreifen, da~ selbst die un mittelbaren Motive des kollektiven Handeins der Franzosen von den Deutschen so weitgehend unverstanden bleiben. Zwar sind dieDeut schen fragmentarisch über Indochina und Algerien, über den franzö sischen Kommunismus und den französischen Nationalisrnus unter richt et worden. Aber echte Kenntnisse darüber sind seIten. Vnd der in Deutschland so häufige Hang zum Werturteil wirft gar zu leicht Reste vergangener mit Anfängen neuer Propaganda in die Waag schalen. Ja, es stimmt schon: »Frankreichs Vhren gehen anders«, wie es im Titel eines lesens- und bemerkenswerten Buches der Nach kriegszeit festgestellt wird. Aber seitdem es erschienen ist, hat sim wiederum viel es geändert. Vnd vor allem ist man jetzt in Frank reich bestrebt, die Uhren ernsthafl: umzustellen. Manch einer hat den Eindruck, ihr Ticktack sei schon jetzt nicht mehr das der jetzigen, sondern bereits das der kommenden Stunde. Vnd solche Eindrücke trügen nicht immer und nicht allerorts. Aber selbst dort, wo die Vhren umgestellt wurden, pulsiert das Leben anders als anderwärts, da und dort immer noch langsamer, aber meistenfalls doch viel schneller als die Norm. Denn die Franzosen haben sich in ihrer gan zen Geschichte nur an eine einzige Norm gehalten, und diese Norm ist das Abnormale. Aber gerade damit wird das Leben erst interes sant: Wäre es im alten Deutsmen Reich nicht entsetzlim langweilig zugegangen, wenn nicht auch die Bayern dieses Abnormale zur Norm erhoben hätten? Genau wie es keine Kriege zwischen Preu~en und Bayern mehr gegeben hat, seitdem sie im Deutsmen Reich ver einigt wurden, genauso wird es zwischen Deutschland und Frank reich keine Kriege mehr geben, seitdem sie in der europäischen Ge meinschafl: zusammengefunden haben. Aber wie die Ba juwaren im deutschen Raume für die Vertreibung der Langeweile Sorge trugen, so werden es jetzt die Franzosen im europäischen Raume tun. Der Urheber dieses Buches ist Franzose. Als solcher wird er sim hier nicht der schier übermenschlichen Aufgabe unterziehen, mit Irr tümern und Fehlurteilen über sein Land aufzuräumen. Ihm geht es 10 mehr darum, in der Schilderung seiner Heimat die Wahrheit anzu streben. Damit übernimmt er die Verpflichtung, nach bestem Wissen und Gewissen nichts, vor allem aber nicht das Gesamtbild zu beschö nigen, aber er fühlt sich auch frei von jenem subjektiven überlegen heitsgefühl, welches besonders in den vergangenen tausend Jahren gar manchem zum Gemeingut gewordenen Literatenurteil über sein Land anhaftete. Nicht zeitgebundene Dogmatik und auch nicht der Hang zum Euphemismus wird hier die Feder führen. Es sei unbestritten, da~ derjenige, der hier schreibt, sein Vaterland liebt. Das hindert ihn nicht, ja gerade das ermutigt ihn dazu, auch Deutschland und die Deutschen zu lieben. Und diese Liebe zu zwei Vaterländern ver pflichtet zur Wahrheit. Man kann Frankreich keinen besseren Dienst erweisen, als es den Deutschen so darzustellen, wie es in Wirklichkeit ist. Man kann Deutschland keinen besseren Dienst erweisen, als ihm nicht nur die Fehler, sondern auch die Vorzüge, nicht nur die Vor züge, sondern auch die Fehler des jetzt befreundeten Landes zu zei gen. Und man kann der Wahrheit keinen besseren Dienst leisten, als sie in den Dienst des besseren Verstehens zwischen zwei Völkern zu stellen, denen die Natur gemeinsame Aufgaben gestellt hat, deren Erfüllung bis dahin nur die Unkenntnis hindernd im Wege stand. Nun, so sei denn der weite Bogen gespannt und eine erste Erinne rung wachgerufen: 23. November 1958: Der erste Wahlgang zur Erneuerung der französischen Nationalversammlung fÎndet statt. Eine Woche später, am 30. November, werden die Wähler zum zweiten Wahlgang an die Urne gerufen werden. Nur zur Erneuerung der Nationalver sammlung? Nein, mehr noch: zur Erneuerung der Republik. Denn jetzt wird auf die vierte die fünfte Republik folgen. Marianne die Fünfte wird aus der Taufe gehoben werden. Wie wird sie aussehen? Schon an dem dem ersten sonntäglichen Gang zur Urne folgenden Montag schreibt André Chêneboit im »Monde«, der immer noch besten Tageszeitung des Landes: »Jetzt ist nur noch ein einziges Gegengewicht zu erkennen, und dies es Gegengewicht ist General de GaulIe selbst. Das Schicksal hat ihm offensichtlich die Rolle des Schiedsrichters übertragen. Und so ist es jetzt unerlä~lich geworden - er wei~ es wohl, ja man möchte sagen, er habe alles vorausgesehen -, den Präsidenten der Republik 11 mit den emten Vollmachten eines moralischen und politischen Schieds richters auszustatten. Da nun die eigene Mehrheit gleich der sagen haften Braut gar zu schön ausgefallen ist, wird er nun Schiedsrichter sein müssen in ihr. Innerhalb der sich auf seine Gedanken berufen den Fraktion der UNRl wird er sich als Schiedsrichter zu betätigen haben. Geschieht das nicht, dann läuft Frankreich Gefahr, mit den besten Absichten der Welt in eine Krise des Nationalismus hinein zuschlittern, wie es eine solche seit dem vergangenen Jahrhundert nicht mehr erlebt hat, auch dann nicht, wenn die Remte die Mehr heit hatte. Denn nunmehr werden die 71 Abgeordneten Aigeriens den sogenannten Gaullismus noch zusätzliclï verstärken, die mate riell und moralisch im Kriegszustand befindlichen algerischen De partements werden also mit Hilfe ihrer Zivilisten und ihrer Solda ten weiterhin ihren Druck ausüben auf die Verwaltung und die öffentlichen Gewalten im Mutterland ...e Am 30. November bestätigt der zweite Wahlgang das so gekenn zeichnete Ergebnis, ja es verstärkt noch jeden einzelnen der Faktoren, welche André Chêneboit zur Bildung seines Urteils beremtigten. Von nun an hat Frankreich eine nationalistische Volksvertretung, im Wahlkampf sind fast alle nichtnationalistÏschen Strömungen dezi miert worden. Das Schwergewicht im Parlament liegt nun beim Na tionalismus. Und dessen einziges Gegengewicht ist tatsächlich der General de Gaulle. Er wird also mehr sein müssen als ein Schiedsrichter. Es wird ihm eine Aufgabe gestellt, die nicht in der Verfassung, die in keiner Ver fassung der Welt vorgesehen ist. Die Verfassung macht ihm die Len kung der Politik des Staates zur Aufgabe. Die durch die Wahlen geschaffene politische Situation überträgt ihm zusätzlich die Erfül lung der Aufgaben einer staatsbejahenden Opposition. Es mag gestritten werden über den einer solchen politischen Kon stellation innewohnenden Gehalt an Demokratie, wichtig scheint aber die Tatsache, daB hier in einem dennoch nach demokratischen Grundsätzen aufgebauten Staat mit allem Herkömmlichen gebrochen wird. Denn hier ist eine Absage erfolgt nicht nur an die Lebenden, an Maurice Torrès, Guy Mollet, Mendès-France, Edgar Faure und auch an Robert Schuman, pflimlin und Bidault, sie ist auch ergangen 1 UNR = Union pour la Nouvelle R~publique = Zusammensdtlu6 für die neue Republik. 12

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