Frankreich-la hrbuch 1997 Frankreich -J ahrbuch 1997 Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte, Kultur Herausgeber: Deutsch-Französisches Institut in Verbindung mit Lothar Albertin . Wolfgang Asholt . Hans Manfred Bock Marieluise Christadler Ingo Kolboom . Adolf Kimmel Robert Picht· Henrik Uterwedde Redaktion: Joachim Schild Leske + Budrich, Opladen 1997 ISBN 978-3-322-95117-5 ISBN 978-3-322-95116-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95116-8 © 1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervieWUtigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich Inhalt Vorwort ..................................................................................................... 7 Lothar Albertin Herausforderungen: Steht Frankreich sich selbst im Wege? ..................... 9 Themenschwerpunkt: Frankreich und der Maghreb Wolfgang Asholt Nachbarn mit schwieriger Vergangenheit und ungewisser Zukunft: Frankreich und der Maghreb ............ ........................ ........................ ......... 39 Remy Leveau Frankreich - Algerien: wechselseitige Vorstellungen ...... .......... .......... ...... 59 Jörg Zell Die letzte Bastion - Die französische Algerienpolitik verharrt in überholten Politikmustern ............. ..... ............. .................... ................. ..... 71 Annette Jünemann Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union: Demokratisierungsprogramme zwischen normativer Zielsetzung und realpolitischem Pragmatismus.. ........ ...................................... ............ 93 Werner Ruf Möglichkeiten einer konstruktiven Sicherheits politik zwischen Europa und dem Maghreb...................................................................................... 117 Klaus Manfrass Migration aus den Maghrebländern nach Frankreich................................ 135 Philippe Estebe!Marie-Christine Jaillet Die Städte und die Frage der Solidarität.................................................... 159 Inhalt Dietmar Hüser Black-Blanc-Beur - Jugend, Musik, Immigration und Integration in Vorstädten französischer Ballungszentren ............................................ 181 LindaMayer Überlegungen zum aktuellen interkulturellen Diskurs der frankophonen Literatur Marokkos am Beispiel Tahar Ben Jellouns und Abdelkebir Khatibis ....... ... ...................... ................................... ........ 203 Beiträge Ulrike Guerot Deutschland, Frankreich und die Währungsunion - über Diskussionen und Metadiskussionen ........... .......... ............... ..... ..... ......... ......... ............... 223 UweLudwig Chlodwig, die Franzosen und die Deutschen - Beobachtungen zum Nachleben eines Frankenkönigs ........................................................ 241 Rezension Henrik Uterwedde Die Globalisierung und das "eindimensionale Denken". Neuerscheinungen zur Wirtschafts-und Sozialdebatte in Frankreich ....... 265 Dokumentation Chronik August 1996-Mai 1997 ................................................................ 279 Sozio-ökonomische Basisdaten im internationalen Vergleich .................. 291 Ergebnisse der Wahlen zur Assemblee nationale vom Mai/Juni 1997 ...... 293 Die Zusammensetzung der Regierung Jospin ........................................... 294 Deutschsprachige Literatur zu Frankreich. Ausgewählte Neuerscheinungen 1996/97 ....................................................................... 295 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. 325 Personenregister ........................................................................................ 327 Zu den Autoren.......................................................................................... 331 Vorwort Der zehnte Band des Frankreich-Jahrbuches, den wir hier vorlegen, bildet die Fortsetzung einer Initiative des "Arbeitskreises sozial wissenschaftliche deut sche Frankreichforschung" beim Deutsch-Französischen Institut. Das Jahrbuch versteht sich als Beitrag der Wissenschaft zu besserer Frankreichkenntnis für eine größere Öffentlichkeit. Es ist also nicht als Sam melband für Spezialstudien angelegt. Diese sollen weiterhin dort erscheinen, wo sie hingehören: in den Zeitschriften der einzelnen Fachdisziplinen. Das Frankreich-Jahrbuch geht weiter. Es versucht, Zusammenhänge zu erschlie ßen und sie so darzustellen, daß sie für alle diejenigen aufschlußreich sind, die sich in Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung mit französischen Fragen befassen oder sich ganz allgemein für unseren wichtigsten Nachbarn interes sieren. Mit anderen Worten: Es will jenes Hintergrundwissen vermitteln, das zum Verständnis der Berichterstattung in den Medien, aber auch zur Erarbei tung eigener Stellungnahmen erforderlich ist. Daher wird das Jahrbuch kon troverse Meinungen, wie sie selbstverständlich auch unter Frankreich-For schern bestehen, dokumentieren. Die Erschließung von Zusammenhängen ist nur unter zwei Vorausset zungen möglich. Zum einen erfordert sie einen multidisziplinären Ansatz. Wir verstehen Frankreich-Forschung nicht sozial wissenschaftlich im engeren Sinn. Ohne Beiträge zur Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst und All tagskultur ist die Entwicklung der französischen Gesellschaft nicht zu verste hen. Zum anderen wird es darum gehen, Frankreich nicht als freischwebende Monade (etwa aus der Sicht der sogenannten "Landeskunde"), sondern als integralen Bestandteil Westeuropas zu begreifen. Das bedeutet, neben den Eigenarten der französischen Problematik auch die Tendenzen zu untersu chen, die allgemeinerer Natur sind: Dies wirft Licht auf Strukturen, die der Alte Kontinent als Grundlage einer gemeinsamen Zukunft herauszubilden beginnt. Die Herausgeber: Lothar Albertin Wolfgang Asholt Hans Manfred Bock Marieluise Christadler Adolf Kimmel Ingo Kolboom Robert Picht Henrik Uterwedde Lothar Albertin Herausforderungen: Steht Frankreich sich selbst im Wege? 1. Einleitung Frankreich hat gewählt. Die Probleme sind geblieben. Es hat im selben Jahr des vierzigjährigen Jubiläums der Römischen Verträge gedacht, aber es ist gespalten über die Perspektiven der Europäischen Union. "Die Franzosen wissen nicht mehr, ob Europa eine Chance oder ein Risiko ist", schrieb Ende 1996 Martine Aubry (Aubry 1997,241), nunmehr ranghöchstes Mitglied im Kabinett der Linken nach dem Premierminister. Während Fran~ois Mitter rand den Maastrichter Vertrag von 1992 noch den "bedeutendsten Akt seit dem Vertrag von Rom" genannt hatte (Duhamel 1997, 256), klagte der ehe malige Regierungschef Alain Juppe Anfang 1997, Europa bereite den Fran zosen Furcht (luppe 1997, 56f.). Die Nation bewegen Zukunftsängste. Die Symptome und Beweggründe haben sich zu einer gesellschaftlichen und politischen Krise ausgewachsen: die Arbeitslosigkeit, die Globalisierung der Wirtschaft, die Erschütterung na tionaler Identitätsmuster, der Aufstieg des Front National, der Macht- und Prestigeverlust in der Welt und die jüngst erfahrene Schwäche auf dem aus gebluteten afrikanischen Kontinent. Die Auflösung der Nationalversamm lung und der kurze Wahlkampf haben den politischen und mentalen Zustand Frankreichs offengelegt. Frankreich sieht sich noch immer vor einem Re formstau, und es scheint, daß es sich selbst zu sehr im Wege steht, um ihn aufzulösen. Zu welchen Perspektiven wird es sich durchringen: zu Zäsuren eines Aufbruchs oder zu Kontinuitäten beharrlicher Verweigerung? Noch findet jede Alternative ihre Bezüge in realen Fakten, in den Perzeptionen der Akteure und Betroffenen, ihren Entscheidungen, Absichten und Neigungen, Erwartungen und Bestrebungen. Die thematische Disposition dieses Beitrags ist damit angekündigt. Wer ihn liest, wird vielleicht schon - als Zeitzeugin oder Zeitzeuge - erste Antworten kennen. 10 Lothar Albertin 2. Arbeitslosigkeit - die "Priorität aller Prioritäten" Im Jahre 1996 erschien das kleine Taschenbuch eines jungen Universitätsdo zenten: "Une mort de printemps". Es erzählte von dem Freitod einer diplo mierten Jurastudentin vor zweieinhalb Jahren. Sie hatte in sechs Monaten 503 Bewerbungen geschrieben. Etwa hundert waren beantwortet worden, mehr oder weniger stereotyp gefaßt, mit dem Schlußsatz "bonne chance". Mit ihrer vergeblichen Stellensuche stand die junge Frau für die Jugend der neunziger Jahre: "une nouvelle generation perdue" (Livoir 1996). Der Anteil der Jahrgänge von 20 bis 24 Jahren an der Arbeitslosigkeit ist in Frankreich zwischen 1975 und 1996 von 6% auf 28% gestiegen (Le Figa ro, 10.2.1997, 13). Seine Jugendarbeitslosigkeit gehört inzwischen zu den höchsten in Europa.1 Seit vielen Jahren versuchen die verschiedenen Regie rungen, durch eine Reihe von Programmen die dramatischen Folgeprobleme in den sozial schwierigsten Vierteln der großen Städte aufzufangen.2 Nicht zuletzt ist die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen in jüngster Zeit gewach sen. Der Unternehmerverband hat für 1997/1998 eine Kampagne gestartet, die 400.000 Lehrstellen einbringen soll. Unter der Regierung Juppe sind die Regionen zu eigenen Maßnamen aufgerufen, die Kompetenzen der Präfekten erweitert worden. Der Übergang von der Ausbildung zur Beschäftigung sollte noch im Februar 1997 im allgemeinen beschleunigt werden (Le Figaro Economie, 11.2.1997, IV). Dramatisch ist auch seit längerem die Lage für die Absolventen der ver schiedenen Hochschulen geworden. Am geringsten sind die Aussichten für die immense Zahl der jungen Leute, die jährlich die Universitäten ohne Di plom verlassen. Inzwischen hat sich aber die Arbeitswelt so gewandelt, daß auch das Diplom oft nicht genügt, Arbeit zu finden. Verschiedene Initiativen zur "Professionalisierung des Studiums", Projekte einer "premiere experience professionnelle" in Zusammenarbeit mit Unternehmen, Erprobungen sonsti ger Stufen für Fortbildung und Umschulung in einigen Regionen, bis zur ge ringfügig vergüteten Erstbeschäftigung in Betrieben, haben bislang einen ef fektiven und generalisierungsfähigen Modellstatus nicht erreicht. Für Arbeitsuchende aller Altersstufen haben sich auch die Rekrutie rungsbedingungen wesentlich gewandelt. Auskunft darüber geben die Agenturen, die mit dem Stellenmarkt beschäftigt sind, Unternehmen beraten, zwischenzeitliehe Enqueten über das soziale Klima veröffentlichen und die Rolle sensibler Barometer für die Stimmung in der Wirtschaft gewonnen ha- Dazu gehören auch diejenigen, die noch am Schul- und Bildungswesen teilnehmen, nämlich 68% unter 25 Jahren im Jahre 1995; 20 Jahre zuvor waren es 43%. Die schwache Beteiligung dieser Altersstufe am Arbeitsmarkt ist ein französisches Spe zifikum: 52% gegen durchschnittlich 69% im OECD-Vergleich (Le Figaro, 20.2.1997, 13). 2 Vgl. den Themenschwerpunkt "Das Frankreich der Städte" im Frankreich-Jahrbuch 1993 und jüngst Wiebke Claussen (1997). Herausforderungen: Steht Frankreich sich selbst im Wege? 11 ben. Der optimistische Grundtenor lautete Mitte Januar 1997: "Das Jahr könnte gut werden, wenn das Vertrauen zurückkäme" (Le Figaro Economie, 13 .1.1997, 16f.). Alle hielten den psychologischen Aspekt für entscheidend. Man sei in einer Periode tiefer Mutationen. Die mittleren und großen Unter nehmen könnten nur für zwei bis drei Jahre voraussehen. Die Einschätzung der Märkte zwinge zur Vorsicht. Die Arbeit selbst habe sich gewandelt. Sie verlange Mobilität, eine multifunktionelle Qualifikation - man suche "le a mouton cinq pattes"; das entscheidende Element sei nicht so sehr die Ausbildung als vielmehr die Motivation. Welcher Mentalitätswandel vor allem den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten und Arbeitslosen abverlangt wird, zeigen schon diese wenigen Stichworte. Die jüngste Chronik der Streiks und sonstigen Proteste kündigte an, daß diese Umstellungen Jahre brauchen werden. Die Neigung unter den Arbeitnehmern ist groß, externe Akteure sowie makroökonomische und -po litische Entwicklungen für die Misere haftbar zu machen: die Regierung, die Arbeitgeber, die Brüsseler Kommission, die Fixierung auf die Währungsuni on und die Globalisierung. Hat die Regierung Juppe Alternativen verfehlt? Noch im Amt, stellte sich der Premierminister diese Frage selbst an der Jahreswende 1996/1997 in seinem Brevier "Entre nous". Hätte die "andere Politik" vom Frühjahr 1995, mit der auch einige Repräsentanten seiner Regierungskoalition sympathisier ten, eine Chance gehabt: das Verbot von Entlassungen, das Unternehmen ruiniert und andere abgeschreckt hätte, neue Arbeitsplätze zu schaffen; die dekretierte Einführung der 35-Stunden-Woche, ohne Effekte in den Auf tragsbüchern der Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen, die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben (Juppe 1996, 81)?3 Es waren Anfang 1997 hypothetische Fragen. Ihm blieb nur, seine Leser um Verständnis zu bitten; er warte mit Bangen auf die monatlichen Statisti ken: "J'en souffre chaque jour" (Juppe 1996, 79). Daß er inzwischen alle Re korde an Unpopularität übertroffen hatte, bezog er auf Entscheidungen, die er für notwendig hielt. So nahm er mit verbissenem Leidenston hin, als "Sündenbock" das Damoklesschwert über sich schweben zu sehen (Juppe 1996, 42), das ihn dann auch bereits zwischen den beiden Wahlgängen tref fen sollte. Offenbar als sein Nachfolger für den Fall des Wahlsieges auserse hen, griff zuletzt Philippe Seguin in die Debatte über Maastricht 11 mit dem Slogan ein: die Arbeitslosigkeit sei die "Priorität aller Prioritäten". Zur Auf lösung der Nationalversammlung hatte er geschwiegen; zum Wechsel in der Politik war es zu spät. 3 Daten zu Verlusten und geplanten Gewinnen von Arbeitsplätzen für 1996 und 1997 führte Juppe - zur Rechtfertigung seiner Politik - in dem Dossier zur ökonomischen und finanziellen Situation an, das sein Nachfolger Lionel Jospin am 2. Juni 1997 er hielt. Der Text findet sich in: Le Figaro, 11.7.1997, S.8. 12 Lothar Albertin 3. Globalisierung - einfurchterregender Prozeß Die "Mondialisation" ist inzwischen in der öffentlichen Diskussion zu einem negativ besetzten, furchterregenden Reizwort geworden. Es hat den Beige schmack eines rücksichtslosen Kapitalismus und steht für ein ökonomisches Phänomen, das in seinen Ausmaßen unfaßbar und seiner Wirkungsweise nicht nur dem Laien unverständlich erscheint. Seine Größenordnungen - zu dem in expansiver Dynamik dargestellt - suggerieren bereits als solche Ohnmacht. Individuen, Betriebe und ganze nationale Volkswirtschaften empfinden sich diesem weltweiten Prozeßgebilde geradezu ausgeliefert. Die Fachpresse tut ein übriges, mit Zahlen die Unentrinnbarkeit eines giganti schen Vorgangs zu demonstrieren. Die "zweihundert ersten" Gesellschaften, "die die Welt beherrschen", haben ihren Umsatz von 320 Milliarden Dollar überschritten, erfuhr der Le ser der Aprilausgabe 1997 von Le Monde diplomatique (Le Monde diploma tique, April 1977, 16-17).4 Der Autor kommentierte deren positionelle Ver flechtungen mit Politik und Militär durch eine Erinnerung an den "großen deutschen Industriellen Walther Rathenau", der 1909 gesagt habe: ,,300 Männer, die sich alle kennen, dirigieren die Geschichte Europas und kooptie ren untereinander ihre Nachfolger". Aktuell repräsentativ für einen Club eu ropäischer Industrieelite aus 47 der 200 Firmen sei der Generaldirektor von Nestle, ein "unerbittlicher Gegner der europäischen Sozialcharta, aktiver Ver fechter der Flexibilität der Arbeit". Die weitere Entwicklung durch Umgrup pierungen und Fusionen ermutigen demnach die eigenen Regierungen durch enorme Subventionen und fiskalische Privilegien, die Banken durch massive Investitionen. Noch fehle diesem erdrückenden Gewicht in der globalen Ökonomie das politische Pendant. Der Autor fragte besorgt, wie es im nächsten Jahrhundert sein werde: "Werden sie ihre totalitären Strukturen der Herrschaft und Aus beutung bewahren können?" Ob sie an Grenzen stoßen werden, wisse nie mand. Aber schon seien die sozialen und politischen Trümmer aus Fusionen und Rückkäufen dabei, das Gebäude rissig zu machen. Diese bedrohliche Macht beginne im eigenen Land. Frankreich sei an ihr mit 19 Gesellschaften beteiligt, nach Japan, USA und Deutschland. Kräfte oder Mechanismen zur Abwehr oder Kontrolle werden für dieses Szenario nicht genannt. Den direkt und indirekt Betroffenen bleibt nur, emotionell zu reagieren, mit einer Empörung, die fallweise ausbricht und sich moralisch artikuliert. 4 Eingeschlossen sind nicht die privaten Riesenunternehmen, die nicht an der Börse notiert sind.
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