Martin Muller· Fraktionswcchsel im Parteicnstaat Studien zur Sozialwissenschaft Band 21 Westdeutscher Verlag Martin M tiller Fr aktionswechsel im Parteienstaat PariaflletltsrejortJl lllld politische K"ltttr in der Blllldesrepttbilk Deutschland Westdeutscher Verlag © 1974 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladcn Umschlaggestaltung: studio flir visuelle kommunikation, Dusseldorf Satz: wico-grafik, St. Augustin Aile Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfiiltigung des Wcrkcs (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. ISBN-13: 978-3-531-11261-9 e-ISBN-13: 978-3-322-88218-9 DOl: 10.1007/978-3-322-88218-9 Inhalt Vorwort 7 I. Einleitung 9 1. Erkenntnisinteresse. . 9 2. Abgrenzung und BegriffserkIarung 12 3. Durchfilhrung der Untersuchung . 14 II. Die Fraktionswechsel des 6. Deutschen Bundestages 16 III. Der Fraktionswechsel im Streit juristischer Interpretationen 23 1. Diskussion und Entscheidung zum Abgeordnetenmandat im Parlamentari- schen Rat . 23 2. Interpretation der einschlagigen Bestimmungen des Grundgesetzes 25 a) Die These von der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 38 Abs. 1 Satz 2 GG . ........ 26 b) Die These vom systematischen Gesamtzusammenhang 28 c) Die These vom uneingeschrankt freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . 31 3. Kritik der Verfassungsinterpretationen . . . . 31 a) Kritik der These von der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 38 Abs. 1 Satz 2 GG. . . . . . . 31 b) Kritik der These vom systematischen Gesamtzusammenhang 35 c) Kritik der These vom uneingeschrankt freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . 38 4. Der Pragmatismus der Verfassungsinterpretation 39 IV. Das Meinungsbild tiber den Fraktionswechsel 40 1. Das Mandat des Abgeordneten 40 a) Die Auffassungen der Parteien 40 (1) CDU/CSU . 40 (2) FDP . 43 rn~· % b) Die Kommentare der Presse 52 c) Stellungnahmen in Leserbriefen 56 5 2. Wiihlerauftrag und Fraktionswechsel 57 a) Die Auffassungen der Parteien 57 ( 1) SPD und FDP 57 (2) CDU/CSU . 58 b) Die Kommentare der Presse 59 c) Stellungnahmen in Leserbriefen 62 3. Zwischen Gewissensentscheidung und Korruption - Zur Motivation der Fraktionswechsler . 64 a) Die Auffassungen der Parteien 64 (l) CDU/CSU. . 64 (2) SPD und FDP 64 b) Die Kommentare der Presse 66 c) Stellungnahmen in Leserbriefen 68 v. Analyse und Kritik des Meinungsbildes 70 i. Der Erfolg der Argumentation der Regierungsparteien 70 2. Der Vorwurf der Korruption als polemisches Argument 73 3. Der Vorwurf der Verfiilschung des Wiihlerauftrages als polemisches Argument 74 4. Die Forderung nach verstiirkter Parteibindung des Abgeordneten 77 a) Das imperative Mandat. . . . . . . . . . . . . . 77 b) Mandatsverlust bei Austritt und AusschluB . . . . . . . 77 c) Die iibrigen Vorschliige zur verstiirkten Parteibindung des Abgeordneten. 81 (l) Verhinderung des Obertritts. . 81 (2) Ausgleichsmandate. . . 82 (3) Mandatsverlust ohne Nachriicker 82 (4) Nachwahl bei Franktionswechsel 83 5. Die Ursachen des Erfolges der Argumentation der Regierungsparteien 83 6. Die Forderung nach verstiirkter Legitimation des freien Mandats .. 86 7. Mandatsverlust bei Austritt - Ein Pliidoyer flir die Ausweitung innerpartei- licher Demokratie . . . . . . . . . . . . . 87 VI. Neuinterpretation des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG 91 VII. Realisierungschancen einer Ein[iihrung des Mandatsverlustes . 95 Dokumentation 96 Anmerkungen . 105 Abkiirzungsverzeichnis 132 Literaturverzeichnis . 134 Register. 141 6 Vorwort Zu den Institutionen der Bundesrepublik, die in den letzten Jahren in den Streit der Meinungen geraten sind, gehbrt nicht zuletzt das Parlament. 1m Zentrum der Kritik steht dabei - unter dem Stichwort von der "Entmachtung des Parlaments" - seine angeblich mangelhafte Fahigkeit, demokratisch legitimierte Entscheidungen hervor zubringen. In diesem Zusammenhang wird nach dem jeweiligen politischen Standort des Kritikers entweder mehr die unzureichende Entscheidungsfahigkeit oder die man gelhafte demokratische Legitimation dieser Entscheidungen hervorgehoben. Be schrankte sich diese Diskussion zunachst noch Uberwiegend auf die Wissenschaft und die anspruchsvollere Publizistik, so haben die Fraktionswechsel im 6. Deutschen Bun destag und insbesondere der in diesem Zusammenhang erhobene, durch die Aussagen des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Julius Steiner bekraftigte Verdacht, Kor ruption habe dabei eine Rolle gespielt, den Parlamentarismus und die Parteien in den Augen weiter Bevblkerungskreise in MiBkredit gebracht. Angesichts der schwachen demokratischen Tradition und des zumindest unterschwellig fortwirkenden Anti Parteien-Affekts in Deutschland verdienen es solche Entwicklungen, mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet zu werden. Ihnen nachzuspUren und rechtzeitig Reform vorschlage zu entwickeln, erscheint daher als eine wichtige Aufgabe einer Politikwis senschaft, die sich dem parlamentarischen Regierungssystem verpflichtet weif~. Die nachfolgende Untersuchung zum rechtswissenschaftlichen, parteipolitischen, publizistischen und politikwissenschaftlichen Verstandnis des Abgeordnetenstatus am Beispiel der Fraktionswechsler des 6. Deutschen Bundestages war auf die Unter stUtzung von vielen Seiten angewiesen. Von denjenigen, denen der Verfasser zu be sonderem Dank verpflichtet bleibt, ist vorab Prof. Dr. Winfried Steffani zu nennen. Ihm verdanke ich viele Anregungen und nUtzliche Kritik nicht nur bei der wissen schaftlichen Arbeit, sondern auch bei der gemeinsamen Lbsung praktischer Probleme im Hamburger Landesverband der CDU. Dr. Uwe Thaysen, Wissenschaftlicher Ober rat am Seminar fUr Sozialwissenschaften, gab mir die erste Anregung fur das Thema. Ihm habe ich fLiT zahlreiche Hinweise und kritische Einwande zu danken, mit denen er die endgilltige Fassung des Buches begleitete. Gedankt sei nicht zuletzt auch den Abgeordneten des 6. Deutschen Bundestages, von denen dieses Buch im besonderen MaBe handelt, den sogenannten Fraktionswechslern, den Geschaftsflihrern der Frak tionen im 6. Deutschen Bundestag und den Mitarbeitern der Geschaftsstellen der im Bundestag vertretenen Parteien, die mir wichtige Unterlagen zur VerfUgung stellten. DaB ich fur die SchluBfolgerungen allein verantwortlich bleibe, sei abschlieBend be tonto Hamburg, im Januar 1974 Martin Muller 7 Ernst Paulsen gewidmet I. Einleitung 1. Erkenntnisinteresse Fraktionswechsel im Deutschen Bundestag war in der 6. Wahlperiode ein Thema, das herausragende Aufmerksamkeit erringen konnte. Seine politische Bedeutung riihrte nicht aus der blo~en Tatsache, daB acht Abgeordnete wie schon 120 andere in friihe ren Wahlperioden 1 ihre Fraktion verlie~en. Sie erkHirt sich auch nicht daraus, da~ in allen Fallen ein Dbertritt zum politischen Gegner erfolgte. Vielmehr tiberschattete die mit jedem Wechsel erneut aufgeworfene Frage, ob die erste von einem Sozial demokraten gefiihrte Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland ihre pari a mentarische Mehrheit verlieren2 und sttirzen wtirde, die Ereignisse. Wie schon 1969/ 70 in Niedersachsen schienen auch ein vorzeitiges Ende der Wahlperiode und Neu wahlen im Bereich des Moglichen zu liegen. Nur die enge Verflechtung von Fraktions wechsel und Bestand der Regierung verlieh den Fraktionswechslern im 6. Deutschen Bundestagjene tiberraschende Publizitat, die ihre Vorganger nicht erreichen konnten. Sieht man einmal von dem aktuellen Zusammenhang ab, kommt der verfassungs politische Stellenwert der Frage, ob das freie Mandat des Abgeordneten modifiziert werden sollte, ohne prinzipiell abgeschafft zu werden, in den Blick. Dies allerdings nur dann, wenn man mit Ernst Fraenkel davon ausgeht, daB es kein "Gemeinwohl a priori" gibt, sondern vielmehr einen Pluralismus der Interessen und Meinungen, zu deren Integration in einem "Gemeinwohl a posteriori,,3 es eines speziellen Instru men tes bedarf. Hierzu erscheint vor allem ein Parlamen t geeignet4, dessen Mitglieder die Aufgabe der Integration nur zu erftillen vermogen, wenn sie tiber einen, wenn auch nicht unbegrenzten Entscheidungsspielraum, das hei~t tiber ein prinzipiell freies Mandat, verftigen. Dieser Annahme steht die Forderung nach einer "imperativen Vertretung von Re form- und Umwalzungsansprtichen abhangiger Massen ... , (urn) den Basis-Konflikt auf die staatliche Ebene zu tibertragen und den Klassenkampf mit den Mitteln des politischen Staates auszufechten"S, entgegen. Das auf den Antagonismus der Klassen fixierte marxistische Parlamentsverstandnis6 mu~ das Parlament als "ein(en) Trans missionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien,,7 qualifizieren, als eine Institution, die "zwar nicht die Entscheidungsinstanz, aber doch die staatliche Durch gangsstelle des sozialen (und politischen) Friedens bildet und insofern zu den wich tigsten Instrumenten der freiheitlich-manipulativen Integration gehort ... ,,8. Soleh undifferenzierte, empirisch unzureichend abgesicherte9 Kritik endet konsequent in revolutionarer "Fundamentalopposition" oder Resignation 10 . Die Moglichkeit schritt- 9 weiser Reform, hier insbesondere des Parlaments, wird von vornherein verneint oder als Mbglichkeit interpretiert, die "Beteiligung der Massen an der Herrschaft ... leich ter einzudammen"ll. Dieser Arbeit liegt ein anderes Vorverstandnis zugrunde. Unser "Politikverstandnis geht davon aus, da£ trotz unterschiedlicher Interessen und Meinungen sozialer Kom promiB mbglich ist, der zu zeitlich begrenzt giiltigen Entscheidungen fiihrt" 12 . "Kri tisch-rationale Politik lehnt Revolution als Methode des soziaien fortschritts abo Sie streitet wider die Behauptung aller Doktrinare von rechts und links, die bestehende Ordnung mtisse zerstbrt und durch eine neue, gedanklich bereits weitgehend fertige ersetzt werden. Sie pladiert dagegen ftir schrittweise Veranderungen; sie berucksich tigt dabei die Fehlerhaftigkeit ihrer eigenen Losungen wie die begrenzte Lernfahig keit der von den Veranderungen betroffenen Menschen,,13. Schrittweise Veranderungen, ja, aber worauf sollen sie zielen? Die gegenwartig so gangige Formel von Reformen hat eine Herrschaft verschleiernde Funktion, wenn nicht die konkrete Utopie skizziert wird, auf die sie bezogen werden. 1st jedoch eine solche Utopie tiberhaupt nicht vorhanden, dann steht die Wendung von "reforma torischen Veranderungen" nur fUr einen richtungslosen Pragmatismus in der Politik, der zwar den kurzfristig artikulierten Bedtirfnissen einfluBreicher Gruppen zu ent sprechen vermag, jedoch kaum dem Freiheits- und Gleichheitsanspruch der Verfas sung dieser Republik gerecht wird. An letzterem orientiert sich der Verfasser; flir ihn bezeichnet daher "Partizipation" eine entscheidende normative Pramisse, die hier zunachst nur zur Offenlegung des Erkenntnisinteresses am reformatorischen Aspekt der Diskussion urn den Status des Abgeordneten eingeflihrt und weiter unten 14 naher erlautert wird. Aus einem solchen Vorverstandnis heraus stellt sich die Frage, we1chen Beitrag zur Reform des pariamentarischen Regierungssystems die in die Diskussion urn die Fraktionswechsler des 6. Deutschen Bundestages eingeftihrten Vorschliige zur Modi fizierung des Abgeordnetenmandats leisten konnen. Mit Uwe Thaysen sind wir dabei der Auffassung, daf~ die entscheidenden Ansatze zur Parlamentsreform "in der Ver anderung des Verhaltnisses der Reprasentierenden zu den Reprasentierten, also in der Legitimation konkreter Herrschaft, sowie der Reprasentierenden (einschlieBlich Regierenden) untereinander (innerpariamen tarische bzw. innerfraktionelle Demo kratie)" liegen IS. Dies ist der eine Bezugspunkt der nachfolgenden Untersuchung. Sie bleibt dabei insofern auf die Vorgange in der 6. Wahlperiode bezogen, als sie nicht die grundsatzliche F ragestellung des uneingeschrankt freien oder des imperativen Mandats des Abgeordneten in den Vordergrund stellt. In dieser Radikalitat haben sich die im Zusammenhang mit den Fraktionswechseln vorgelegten Reformvorschlage nicht prasentiert. Wir fassen daher das freie und das imperative Mandat ais auBerste Punkte einer breiten Skala auf, die viele Lbsungsmoglichkeiten von Freiheit und Bin dung des Abgeordneten kennt. Von diesen standen in der 6. Wahlperiode die Frage des Mandatsverlustes bei Austritt und AusschluB im Vordergrund der Auseinander setzungen. Diesem Komplex gilt auch die besondere Aufmerksamkeit der nachfol genden Untersuchung, wei! einmal die Frage umstritten ist, ob die Einftihrung des Mandatsverlustes bei Austritt und/oder AusschluB funktional aquivaient zu dem ver fassungsrechtlichen Verbot ist, rechtlich verbindliche "Auftrage und Weisungen" an 10