Gabriele Cappai (Hrsg.) Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit Gabriele Cappai (Hrsg.) Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . 1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Katrin Emmerich / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15633-0 Inhalt Vorwort. Gabriele Cappai Einleitung. Die empirische Erforschung des Fremden. Ein interdisziplinarer Ansatz 9 Strategien im Forschungsfeld Gerd Spittler Wissenschaft auf Reisen. Dichte Teilnahme und wissenschaftlicher Habitus bei Heinrich Earths Feldforschung in Afrika 41 Dida Badi Distanziemng und ethnische Vereinnahmung - Die Erforschung oraler Traditionen in der eigenen Gesellschaft 69 Dieter Neubert, Andreas Neef und Rupert Friederichsen Interaktive Methoden: Erfahrungen mit der Verwendung von „Participatory Rural Appraisal" (PRA) in der Forschung 95 II. Rekonstruktion und Verallgemeinerung Bruno Hildenbrand Fallrekonstruktive Forschung in Bauemfamilien und Familien psychisch Kranker: Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewaltigung 129 Ulrich Oevermann Zur Differenz von praktischem und methodischem Verstehen in der ethnologischen Feldforschung - Eine rein textimmanente objektiv hermeneutische Sequenzanalyse von iibersetzten Verbatim-Transkripten von Gruppendiskussionen in einer afrikanischen lokalen Kultur 145 Inhalt Elisio Macamo Wenn nichts verborgen bleibt - Ein Kommentar zur objektiv- hermeneutischen Auslegung meiner Gruppendiskussionen. Eine Stellungnahme zum Beitrag von Ulrich Oevermann 235 Gabriele Cappai Der empirische Zugang zum kulturell Fremden am Beispiel Zeit. Ein rekonstruktiver Ansatz 241 III. Deutungsmuster und kulturelle Vorgabe Shingo Shimada Die „dichte" Lebensgeschichte - Uberlegungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung im interkulturellen Kontext 265 Arnd-Michael Nohl Interkulturelle Kommunikation. Verstandigung zwischen Milieus in dokumentarischer Interpretation 281 Rainer Kokemohr Kulturelle Prafigurationen sozialer Interaktion. Methodologische Fragen interkultureller Kooperation, diskutiert an einem Beispiel aus Kamerun 307 Till Forster Mediale Fremde. Afrikanisch sehen - europdisch erkennen? 329 Zu den Autoren 349 Vorwort Forschung in firemdkulturellen Kontexten stellt fur den Sozialwissenschaftler eine Herausforderung besonderer Art dar. Dieser muss zwei gefahrliche Klippen vermeiden: die des Festhaltens an einen traditionellen und rigiden Methodenka- non und die der Neigung zur Methodenimprovisation oder gar zur Methodenbe- liebigkeit. Das Hauptproblem ist dabei, um bei der Seefahrermetapher zu blei- ben und sie gleich ins Paradoxe zu wenden, dass man oft Schiffbruch erleidet, ohne es zu merken. Am Ende der Fahrt ins Fremde liegt das Produkt vieler An- strengungen auf dem Tisch und, bis vielleicht auf wenige Kritiker, fragt man nicht mehr danach, ob das Forschungsobjekt und die Instrumente der Daten- sammlung und Dateninterpretation in einem Verhaltnis der Angemessenheit zueinander standen. Der Ethnologe wird zum Gesagten wahrscheinlich anmerken, dass er auf eine verdienstvolle Tradition der Feldforschung zuruckblicken kann, der sozio- logisch geschulte Forscher andererseits, dass eine ebenso glorreiche Geschichte empirischer Forschung seinen Riicken starkt. Zweifelsohne sind beide im Recht. Wie ware es aber mit der Behauptung, dass vor die Aufgabe von Forschung in fremdkulturellen Kontexten gestellt, beide voneinander lemen konnten, dass also die Sensibilitat fur das „Fremde", als Vorzug des Ethnologen, mit der The- orie- und Methodenkompetenz, als Auszeichnung des Soziologen, eine frucht- bare Synthese eingehen konnen. Eine Kompetenz, die sich, es ist gut daran zu erinnern, der qualitativ verfahrende Soziologe, derjenige also, der dem Ethnolo gen am nachsten steht, in barter Auseinandersetzung mit Kollegen innerhalb des Faches angeeignet hat. Angesicht der Komplexitat der angesprochenen Probleme, kann sich das vorliegende Buch dem Leser nicht anders als im Gestus der Bescheidenheit prasentieren: Es beabsichtigt anhand von Beispielen sowohl aus der eigenen als auch fremden Forschungspraxis die Wichtigkeit und auch die Unerlasslichkeit interdisziplinarer Zusammenarbeit unter Sozialwissenschaftlem zu veranschau- lichen. Diese ist freilich eine Einsicht, von der die Beteiligten an einem SFB, in dessen Rahmen das Buch entstanden ist, nicht erst uberzeugt werden miissen. Wie andere, hat sich auch der Bayreuther SFB-560, „Lokales Handeln in Afrika im Kontext Globaler EinflUsse", als eine einmalige Chance erwiesen, Forscher zusammenzufuhren, die die Organisation des Lehr- und Forschungsbetriebes an Universitaten normalerweise trennt. Vorwort In diesem Zusammenhang sei dem friiheren Sprecher des Bayreuthers SFB-560, Prof. Gert Spittler und seinem Nachfolger Prof. Dieter Neubert flir die Unterstlitzung des Buchprojektes gedankt. Prof Neubert und Dr. Christine Scherer sei auch deswegen ein Dank ausgesprochen, weil sie entscheidende Schritte zur Veroffentlichung begleitet haben. Ein besonderer Dank gilt dann Jens Roschlein, der von Anfang an mit Fachkompetenz und bestandigem Einsatz sowohl die Gestaltung der Tagung als auch die daraus hervorgegangene Publikation begleitet hat und auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Realisierung des ganzen Projektes geleistet hat. Gedankt sei schlieBlich Niels Schaefer, der bei der Textgestaltung immer wieder auftretende Probleme meisterhaft zu losen wusste. Bayreuth, im Januar 2008 Gabriele Cappai Einleitung. Die empirische Erforschung des Fremden. Ein interdisziplinarer Ansatz Gabriele Cappai Das Vorhaben, den Zusammenhang von empirischer Forschung und kultureller Fremdheit zum Objekt einer wissenschaftlichen Reflexion zu machen, bedarf heute eigentlich keiner Rechtfertigung. In einer Zeit, in der das Bewusstsein der gesellschaftlichen Koprasenz und gegenseitigen Bedingtheit von Eigenem und Fremden wachst und mit ihm das Bedlirfnis, diese Gleichzeitigkeit und Relation in seinen vielfaltigen Facetten und Artikulationen methodisch zu beleuchten, muss das Nachdenken liber Methode und Kultur geradezu als eine Selbstver- standlichkeit erscheinen. Man konnte nun anmerken, dass der Zusammenhang von Methode und Kultur, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen und Akzentsetzungen, schon immer im Zentrum der Aufmerksamkeit von Ethnologie und Soziologie stand, so dass unser Vorhaben den Charakter einer Nacherzahlung dessen hatte, was in disziplininternen Diskursen bis heute mit relativer Kontinuitat stattge- funden hat. Geht nicht etwa die Geschichte der Ethnologie von den Griindungs- vatem wie Boas und Malinowski bis zu zeitgenossischen Vertretem wie Geertz und seinen Kritikern Hand in Hand mit einem wachsenden Bewusstsein liber Moglichkeiten und Schranken empirischer Verfahren? Und ist nicht andererseits die Entwicklung der Soziologie von der „Chicago School" bis zu den heutigen phanomenologisch und wissenssoziologisch inspirierten empirischen 'Ansatzen von einer zunehmenden Sensibilitat fiir Differenz und kulturelle Fremdheit gekennzeichnet? Sind schlieBlich diese zwei Disziplinen nicht auch dadurch theoretisch, methodologisch und methodisch gewachsen, dass sie voneinander gelemt haben; dass sie in ihrer Vorgehensweise eine Sicht eingebaut haben, die typisch flir die jeweils andere war? Diese Fragen konnen nicht eindeutig mit „Ja" beantwortet werden. Auch deswegen nicht, weil von einem symmetrischen Lernprozess beider Disziplinen keine Rede sein kann. Konnte noch vor ungefahr 20 Jahren Rene Konig (1984) eine Vorbildfunktion der Ethnologie flir die Soziologie feststellen, so gibt es heute gute Griinde flir die Annahme, die Ethnologie konnte von einer dezidierte- ren Offnung gegenliber der Soziologie viel profitieren. Damit ist nicht gemeint. IQ Gabriele Cappai dass sich die Ethnologie, wie manche Soziologen heute fordem, nach einem Paradigma ausrichten sollte, das den Akzent auf Verfahrenstandardisierung, Validitat, Zuverlassigkeit und Reprasentativitat als conditio sine qua non fur Wissenschaftlichkeit setzt (Goldthorpe 2000: Kap. IV). Damit ist vielmehr die Tatsache gemeint, dass sich der Ethnologe nicht gegenuber jenen phanomenolo- gisch und wissenssoziologisch begriindeten Ansatzen in der Soziologie versper- ren kann, die dem empirisch verfahrenden Forscher - zu Hause sowie in der Fremde - sowohl eine grundlagentheoretische Untermauerung als auch ein kon- zeptionell abgesichertes Forschungsinstrumentarium liefern, die komplementar zu den klassischen Methoden ethnologischer Forschiung stehen. Andererseits sollte der Soziologe von der Vorstellung Abschied nehmen, die metatheoreti- sche Absicherung des eigenen Tuns sei per se Garantie fur gute Forschung. Auch sollte er sich von der verbreiteten aber falschen Meinung distanzieren, schon das Abschiitteln klassischer Gutekriterien und das Bekenntnis zur Flexibi- litat und Offenheit gegenuber dem Forschungsgegenstand reiche aus, seinem Vorgehen das Siegel der Transkulturalitat zu verleihen. Dazu spater mehr. Die gegenseitige Befruchtung von Soziologie und Ethnologie ist unleug- bar, sie muss aber eher als Resultat zufalliger, denn geplanter Begegnungen angesehen werden. In einer systematischen Zusammenarbeit beider Disziplinen bestehen aber die besten Chancen fur einen fruchtbaren Umgang mit dem Prob lem der empirischen Forschung unter den Bedingungen kultureller Fremdheit. Vor allem sollte sich diese systematische Zusammenarbeit nicht in programma- tischen Erklarungen erschopfen, die an eine halbherzig gedachte und noch halb- herziger praktizierte Interdisziplinaritat appellieren. Eine solche Zusammenar beit konnte, weniger deklamatorisch aber daftir effektiver, an der Losung kon- kreter Probleme ansetzen, die dem Forscher im Feld, oder spatestens dann, wenn es um die Auswertung und Niederschrifl der Resultate geht, begegnen. Genau diese Einsicht lag unserer Konzeption zugrunde, als die Entscheidung fiel, Sozialwissenschaftler unterschiedlicher fachlicher Affiliation an einen „Tisch" einzuladen, um den Zusammenhang von empirischer Forschung und Kultur zu diskutieren. Es ist an dieser Stelle unmoglich, alle Themen zu benennen, die im vorlie- genden Band Ausdruck gefunden haben. Versucht man dennoch diese jedoch nach wenigen Problematiken zu gruppieren, so ergibt sich folgende Themen- konstellation: Strategien im Forschungsfeld, Rekonstruktion und Verallgemeine- rung, Deutungsmuster und kulturelle Vorgabe. Es ist dariiber hinaus moglich, einen weiteren Fragenkomplex zu identifizieren, der sich, oft offenkundig, gele- gentlich aber verdeckt, wie ein roter Faden durch die Beitrage des Bandes hin- durchzieht: gemeint sind hier die Phanomene von Nahe, Distanz und Verein- Einleitung 11 nahmung sowie die vom Forscher eingesetzten Strategien, um damit zurechtzu- kommen. Von unmittelbarer Bedeutung fiir unser Thema ist auch die Tatsache, dass viele der in diesem Band enthaltenen Beitrage das jeweils zur Diskussion ge- stellte Problem im Kontext einer bestimmten Methode der Datengenerierung bzw. Dateninterpretation behandeln. Diese Tatsache gibt wiederum manchen Autoren Anlass zu einer grundsatzlichen Reflexion liber die Angemessenheit von Verfahren wie dem biographischen Interview, dem Gruppendiskussionsver- fahren, der teilnehmenden Beobachtung oder dem partizipativen Forschungsan- satz als Instrumente der Erforschung fremdkultureller Phanomene und Lagen. Mit den genannten Themen und Problemen sind wir freilich weit davon entfemt, dem Leser ein voUstandiges Bild der Anforderungen zu vermitteln, denen Forschung in fremdkulturellen Kontexten zu geniigen hat. Dies ist aber auch nicht die Intention der vorliegenden Aufsatzsammlung gewesen, denn diese stand von vornherein im Zeichen einer Beschrankung auf eine kritische Reflexion liber die eigenen Erfahrungen im Feld bzw. liber die MogHchkeiten der wissenschaftlichen Verarbeitung dieser Erfahrungen. Bevor ich zu einer genaueren Charakterisierung der im Sammelband ent haltenen Aufsatze libergehe, erscheint es angebracht, an die eingangs unterstri- chene AktuaHtat des Zusammenhangs von Methode und Kultur wieder anzu- knlipfen. Es soil im Folgenden nicht allein darum gehen, kurz einige wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Bedingungen zu umreiBen, die diese Aktualitat begrunden, sondem auch darum, klarzumachen, worin das Potenzial einer ethnologisch sensibilisierten Soziologie und einer soziologisch informier- ten Ethnologic besteht. Disziplinen Wissenschaftliche Disziplinen legitimieren sich bekanntlich durch Arbeitstei- lung. So will eine alte Tradition, dass sich die Soziologie mit eigenkulturellen, die Ethnologic hingegen mit fremdkulturellen Phanomenen beschaftigt. Diese Trennung ist heute mehr und mehr fragwlirdig geworden. Typische Orte der klassischen ethnologischen Feldforschung unterliegen heute einem Prozess zunehmender Ausdifferenzierung und Autonomisierung unterschiedlicher Handlungsspharen und erreichen dadurch im Bereich von Recht, Wirtschaft, Politik, Religion und Erziehung eine gesellschaftliche Kom- plexitat, die der klassisch geschulte Ethnologe allein kaum bewaltigen kann. Es handeh sich allerdings dabei um eine Komplexitat, die auch nicht mit soziologi- schen Theorien klassischen Zuschnitts erfasst werden kann.