Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies Herausgegeben von Dr. Oliver Dimbath, Universität Augsburg Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, PH Ludwigsburg Dr. Nina Leonhard, Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg Dr. Marco Schmitt, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Gerd Sebald, Universität Erlangen-Nürnberg PD Dr. Peter Wehling, Universität Augsburg Dr. Michael Heinlein, Ludwig-Maximilians-Universität München René Lehmann • Florian Öchsner Gerd Sebald (Hrsg.) Formen und Funktionen sozialen Erinnerns Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen Herausgeber René Lehmann Florian Öchsner Dr. Gerd Sebald Universität Erlangen-Nürnberg Deutschland ISBN 978-3-658-00600-6 ISBN 978-3-658-00601-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-00601-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- n a lbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die- sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be- trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Satz: Susanne Ettlinger Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt ZurGedächtnisvergessenheitderSoziologie.EineEinleitung............. 7 GerdSebald,RenéLehmannundFlorianÖchsner I TheoretischeZugänge SoziologischeRahmenkonzeptionen.EineUntersuchungder RahmenmetapherimKontextvonErinnernundVergessen .............. 25 OliverDimbath KollektivesGedächtnisundhistorischesBewusstsein................... 49 JirˇíŠubrtundŠteˇpánkaPfeiferová »InihrerkulturellenÜberlieferungwirdeineGesellschaftsichtbar«? –EinekritischeAuseinandersetzungmitdemAssmannschen Gedächtnisparadigma ............................................ 65 CorneliaSiebeck DieFormendesWeb-Gedächtnisses.MedienundsozialesGedächtnis ..... 91 ElenaEsposito II MedialitätundMaterialität MedialisierteErinnerung:DerAutorundFilmemacherThomasHarlanim biographischenDokumentarfilmWandersplitter ...................... 105 CarstenHeinze BilderderErinnerung.VomGedächtniswissenzurFestschreibungdurch Fotografie ...................................................... 131 ThorstenBenkel Zukunftserinnerungen.PlastinationalsInszenierungvonErinnerung..... 153 StefanNicolae III GedächtnispolitikundIdentität ErinnernalseuropäischerStandard?DeutschePerspektivenaufden GenozidanArmeniern............................................ 169 YvonneRobel DieWiderstandsfähigkeitdesNationalstaates:Kosmopolitismus, HolocaustgedächtnisunddeutscheIdentität .......................... 187 StephenWelchundRuthWittlinger KanonisierungundGedächtnis:DerSchriftstellerMoriÔgaiim kulturellenGedächtnisdesmodernenJapan .......................... 203 TakemitsuMorikawa IV GedächtnisundsozialerWandel DasKonzeptderGenerationendifferenzausAkteursperspektiveundseine FunktionenfürdasfamilialeErinnern ............................... 219 RenéLehmann WeiblichesErinnern?ÜberdasVerhältnisvonGesellschaftstransformation undsozialerErinnerungamBeispielerwerbsloserFrauenaus Ostdeutschland.................................................. 243 HannaHaag GeschichtealsGemeinbesitz.VomUmgangmitderHistoriein korporativenMilieus ............................................. 259 DanielSchläppi Autorinnen-undAutorenverzeichnis................................ 277 ZurGedächtnisvergessenheitderSoziologie.Eine Einleitung GerdSebald,RenéLehmannundFlorianÖchsner InseinemNachwortzuElenaEspositosSozialesVergessen.FormenundMediendes GedächtnissesderGesellschaftkonstatiertJanAssmanneinneues»Paradigmakultur- wissenschaftlicherForschung«um»dieBegriffeGedächtnis,VergessenundErinnern« undstelltfest: »DieSozialwissenschaftendagegenhabensichdiesemTrendbislangweitgehendverweigert. DerPräsentismussoziologischerForschungschienmitderVergangenheitnichtsanfangenzu können.[...]DiebisherigeZurückhaltungderSoziologiegegenüberdemGedächtnisthema istumsoparadoxer,alsderursprünglicheAnstoßvoneinemSoziologenausging.«(Assmann 2002:400) NachdemerEspositosArgumentationskizziertundinFormvonZustimmungund EinspruchimEinzelnennormativgeordnetundmitdeneigenenKonzeptenvergli- chenhat1,greifterdiesenVorwurfnocheinmalauf: »EbensodeutlichwirdaberauchderUnterschiedzwischendemsoziologischenunddemkul- turwissenschaftlichenGedächtnisbegriff.IndenKulturwissenschaftenstehtdieVerbindung vonVergangenheitundIdentitätimMittelpunktderGedächtnisforschung.Dievielfältigen FormenderKonstruktionvonVergangenheitunddesBezugsaufdiesezumZweckeder StabilisierungoderDestabilisierungkollektiverIdentität2sindnachwievorkeinThema derSozialwissenschaften.DerkulturwissenschaftlicheGedächtnisbegriffversperrtsichder EinlinigkeitevolutionistischerLogik,weilergeradedieAnachronismenbetont,dieUngleich- zeitigkeitdesGleichzeitigen,dasGesternimHeute,dievielschichtigeKomplexitätkultureller Zeit.InsofernistdiePrivilegierungdesVergessensinEspositosGedächtnistheoriesympto- matischfürdeneingangserwähnten›Präsentismus‹dessoziologischenZugangs.«(Assmann 2002:414) 1DabeiwirdderSemantikbegriffdemFunktionsgedächtnisgleichgesetzt(413),wasangesichtsder begriffsgeschichtlichen(Koselleck1972a;1989a)undwissenssoziologischenArbeiten(vgl.etwa Luhmann1980oderzumAntisemitismusHolz1999),insofernerstaunt,alsgepflegteSemantiken medialdurchauslängerfristigvorgehaltenwerden. 2Vgl.zuspezifischenIdentitätsfixierungenimAssmannschenŒuvreauchdenBeitragvonSiebeck indiesemBandS.65–90.DiedortaufgezeigtennormativenTendenzensagenjedochnichtsüberdie BrauchbarkeitdertheoretischenKonzepteaus. R. Lehmann et al. (Hrsg.), Formen und Funktionen sozialen Erinnerns, Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies, DOI 10.1007/978-3-658-00601-3_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 8 GerdSebald,RenéLehmannundFlorianÖchsner AufeineroberflächlichenEbeneließesichdagegen1)eineReihevonsoziologischen StudienzukollektivenIdentitäten(etwaGiesen1991;Bauman1992;Holz1999),2) diekomplexenRekonstruktionenderhistorischorientiertenSoziologie,vonWebers Religionssoziologieangefangen,überDux’historisch-genetischeTheoriederKultur, Michael Manns Geschichte der Macht, ebenso anführen, wie 3) Elena Espositos eigenerexpliziterHinweis: »UnserenunfolgendeAufzählungderverschiedenenGedächtnisformendarfnichtimSinne einergeschichtlichenRekonstruktioneinesevolutionärenProzessesverstandenwerden,in dessenVerlaufeszuimmerkomplexerenFormenvonGedächtnisgekommenist.Eshandelt sichvielmehrumeinenBestandanFormen,dieauchgleichzeitigexistierenkönnen;diehisto- rischenAnspielungen[...]dienendeshalblediglichderUnterscheidungvonMöglichkeiten [...]AuchistdieReihenfolgederFormen[...]eherdadurchbedingt,dassesverschiedene, gesellschaftsstrukturellvorgegebeneGradevonKomplexitätgibt,alsdurcheineautonome DynamikvonGedächtnis.«(Esposito2002:41) AssmannsBehauptungisteinVorwurfandieSoziologieinsgesamt.ImSinneeiner weitergehendenWiderlegungmöchtenwirdieGedächtnishorizontederGedächtnis- forschungselbstetwaserweiternundineinemerstenSchrittargumentieren,dass sowohlKultur-wieauchSozialwissenschaftenihreEntstehungderGedächtniskrise im19.Jahrhundertverdanken,beidealsoinihrenWurzelndenBezugaufVergange- nesmitsichtragen(I.).IneinemzweitenSchrittwerdenwirdemGedächtnisthema indreiklassischensoziologischenTheoriebildungennachspüren(II.):derDurkheim- Schule,Parsons’StrukturfunktionalismusundderWissenssoziologieinderTradition vonAlfredSchütz.AusdiesenkurzenSkizzenwerdeneinigeLeitlinienfürdiesozial- wie kulturwissenschaftliche Analyse sozialer Gedächtnisse entwickelt (III.). Den Schluss dieser Einleitung bildet dann eine Übersicht (IV.) über die mehrheitlich soziologischenAufsätzediesesBandes,dienichtzuletztzeigen,dassinderSoziologie inzwischenauchderGedächtnisbegriff angekommenist.UnsereEinwürfesindnicht imSinneeinerKonkurrenzzukulturwissenschaftlichenKonzeptualisierungenzu sehen,sondernalsErgänzung.DennderKomplexitätundderBedeutungdesGe- genstandsGedächtnisistnurineinergemeinsameninter-undtransdisziplinären Anstrengungbeizukommen,wiesieaktuelldiememorystudiesversuchenundwie siekeinesfallsdurchÜberlegenheitsbehauptungenundAbqualifizierungenerreicht werdenkann.IndiesemSinnesollendieimFolgendenpräsentiertenÜberlegungen ebensowiedieAufsätzediesesBandesauchAnstoßzuweiterenForschungengeben. I. IneinemerstenSchrittmöchtenwirdiegleichursprünglichegrundsätzlicheVergan- genheitsbezogenheitvonSozial-undKulturwissenschaftenherausarbeiten.Helfen kanndabeidieFragenachdemBeginnderintensivenwissenschaftlichenBeschäfti- gungmitdemThemaGedächtnis.DieFeststellungdes»neuenParadigmas«,eines »memorybooms«indenletztenzweibisdreiJahrzehntenistdurchausverbreitet. JanAssmann(1999:11)selbstführtdreiGründefürdie»VirulenzdesThemasGe- ZurGedächtnisvergessenheitderSoziologie.EineEinleitung 9 dächtnisundErinnerung«seitden1980erJahrenan:denmedialenUmbruchzu dendigitalenMedienunddiedamitgegebenenneuenSpeichermöglichkeiten,das kulturelleBewusstsein,ineiner»Nachkultur«zulebenundschließlichden»existenti- ellenKerndesDiskurses«,die»EpochenschwelleinderkollektivenErinnerung«,das Verschwindender»ZeitzeugenderschwerstenVerbrechenundKatastropheninden AnnalenderMenschheitsgeschichte«unddiedamitaufgeworfeneFrage,wiediese größteKrisederModerneerinnertwerdensoll. EineandereundweiteraufgespannteErzählungderEntwicklungdermemory studiesentwickelnOlick,Vinitzky-SeroussiundLevy(2011:8ff.),indersieden »memoryboom«bestreiten,wieernichtnurvonJanAssmannangenommenwird. SiezeichneneinepermanenteBeschäftigungmitdemProblemdesGedächtnisses nach,angefangenvomErinnerungsgebotderhebräischenTradition,überdieanti- kePhilosophie(PlatonsWachstafelmetapher,Aristoteles,Augustinus)bishinzur Aufklärung,inderErinnerungzueinerQuelledesSelbstwurde(vgl.Taylor1996: 299ff.).EinederartweitgespanntePerspektiveverdecktjedochdenBlickaufden BeginnunddiespezifischenGründederneuzeitlich-wissenschaftlichenHerstellung vonVergangenheitsbezügen,nachderwirhierfragen. DieEntstehungderSozial-undKulturwissenschaftenselbst,sodieimweiteren vertreteneThese,verdanktsicheinerGedächtniskrise(vgl.Terdiman1993:3u.pas- sim),dieAusdruckvongesellschaftlichenVeränderungenaufmehrerenEbenenist, aufderEbenedergesellschaftlichenStrukturenundProzesseundaufderEbenedes sozialenundwissenschaftlichenWissens. MitdemÜbergangzurModerneverschwindetder»UnterschiedvonOberschicht undlokalenEinheiten«imSinneeiner»AufsprengungderlokalenEinheiten«und der»dazukehrseitige[n]VerflechtungderMenscheningrößereZusammenhänge« (Tenbruck1989:72f.).DieseProzesse,vonLuhmannalsÜbergangzurfunktionalen Differenzierungbeschrieben,verändertendiesozialeundvorallemdiepolitische Lebenssituation der Menschen radikal. Aus den Untertanen, geordnet in einem hierarchischenStändesystem,wurdengleicheundfreieStaatsbürger.Einepolitische Öffentlichkeit beginnt sich herauszubilden und sich auch in die unteren Stände auszudehnen.DasBürgertumstrebtnachBeteiligunganderHerrschaft.DieSphäre desPolitischenentferntsichimmerweitervonderReligion(Weyand2012:50ff.).Die FranzösischeRevolution,dieUmbrüchemitundnachdennapoleonischenKriegen, diebeginnendeIndustrialisierung,dieAusbreitungdesNationalismusveränderten innerhalbwenigerJahrzehnteEuropagrundlegend.DieHistoriekannnichtmehr LehrmeisterindesLebenssein,weildieZukunftoffenist:»IneinermitVehemenz sichänderndensozialenWeltverschiebensichdiezeitlichenDimensionen,indenen sichbisherErfahrungentfaltetundgesammelthat.«(Koselleck1989d:64)Geschichte alseinederLeitwissenschaftendes19.JahrhundertstrittandieStellederbelehrenden Historie,umzumindestdasGegenwärtigezuerklären.JakobBurckhardtbringtdiese ThemenstellungderGeschichteaufdenPunkt: »DadasGeistigewiedasMateriellewandelbaristundderWechselderZeitendieFormen, welchedasGewanddesäußerenwiedesgeistigenLebensbilden,unaufhörlichmitsichrafft, istdasThemaderGeschichteüberhaupt,daßsiediezweiinsichidentischenGrundrich- tungenzeigeunddavonausgehe,wieerstlichallesGeistige,aufwelchemGebietesauch
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