ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT IN GEMEINSCHAFT MIT KARL BÜCHNER, HELLFRIED DAHLMANN, ALFRED HEUSS HERAUSGEGEBEN VON ERICH BURCK UND HANS DILLER HEFT 56 Formale Konventionen der homerischen Epik VON TILMAN KRISCHER C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG MÜNCHEN 1971 ISBN 3 406 03296 6 © C. H. Bedt'sdie Verlagsbudihandlung (Oscar Bedt) Mündien 1971 Als Habilitationssdirifl: auf Empfehlung des Fadibereidis ,Altertumswissensdiafl:en' der Freien Universität Berlin gedrudtt mit Unterstützung der Deutsdien Forsdiungsgemeinsdiafl: Drudt: MZ-Verlagsdrudterei GmbH, Memmingen Printed in Germany HANS SCHW AB L IN DANKBARKEIT GEWIDMET VORWORT Anläßlich des Erscheinens dieser Studie habe ich für mancherlei Hilfe zu danken. Das Wichtigste soll die Widmung ausdrücken: Hans Sehwahl, dessen Assistent ich war, hat die Anregung gegeben und den Fortgang unter seine Obhut gestellt. Adolf Köhnken hat als guter Freund den Skizzen und Entwürfen seine besonnene Kritik angedeihen lassen. In einem fortgeschritteneren Stadium haben sich Paul Moraux, Hans Diller und Erich Burck der Mühe der Kritik unterzogen und mir wertvolle Ratschläge erteilt. Den beiden letzteren Herren gilt mein Dank darüber hinaus für die Aufnahme der Arbeit in die Zetemata. Karin Alt und Ulrich Stache danke ich für das Mitlesen der Korrekturen, der Deutschen Forschungs gemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses und dem Verlag Beck für die rasche Drucklegung. Berlin-Wannsee, im August 1971 Tilman K rischer I NHALTSVERZE ICH NI S Einleitung 1. Zur Methode II. Milman Parry und seine Schule 4 1. Parrys Programm 4 .2. Die Resultate und ihre Aporie s III. Der Formalismus mündlicher Großepik 9 Gleichnistypik und Aristie 1. Einleitung 13 1. Problem und Methode 13 .2.B eispiel eines Gleichnis-Typus 19 II. Die größeren Aristien der Ilias .23 III. Die Gleichnistypen der Aristie 36 1. Glanz der Waffen 36 .2.A uszug zum Kampf . 39 3. Ansturm des Aristeuon 49 4. Flucht und Verfolgung 5.2 5. Der Sieger und sein Opfer 59 6. Unentschiedener Kampf 61 7. Standhalten 67 8. Zurückweichen 69 9. Der Krieger fällt 7.2 IV. Die kleineren Aristien als komplementärer Typus 75 µux.'11 V. Die x6Äo~ im Plan der Aristien 85 Zielinskis Gesetz I. Das Problem 91 II. Zielinskis Beobachtungen 93 1. Die indirekte Darstellung 9 3 .2.V erzögerung eines Handlungsstranges und falscher Synchronismus 94 3. Szenenwechsel und gleichmäßiger Vorgang 96 III. Zwei Erklärungsversuche 97 1. Zielinskis Theorie vom schauenden Dichter 97 .2.D ie geistesgeschichtliche Deutung . 100 Vill l n!Jaltsverzeichnis IV. Die Verzweigung der Handlung 103 Angekündigte Verzweigungen 1. 103 2. Nicht angekündigte Verzweigungen 109 V. Einfügung eines neuen Stranges 113 VI. Die Verknüpfung der Verzweigungen 117 VII. Die Teilung der Telemachie 122 VIII. Die Verschiebung des zweiten Stranges der Verzweigung 124 IX. Die Genese des Systems 128 Der Katalogische Stil I. Das Prinzip der Klassifikation 131 II. Epische Regression 136 III. Katalog und Typisierung 141 IV. KataÄ.eyELV 146 1. Problem und Methode 146 2. Der Gebrauch des Wortes 148 3. Die Bestandteile des Wortes IP 4. Die beiden Verbalaspekte 155 Literaturhinweise 159 Register EINLEITUNG 1. Zur Methode Die Homerphilologie ist durch den nun schon mehr als hundert Jahre andauern den Streit der ,Analytiker' und ,Unitarier' in eine sehr problematische Lage geraten. Der Forscher sieht sich einer unerhörten Fülle von Einzelerkenntnissen konfrontiert, aber diese lassen sich nicht mehr zu einem überzeugenden Gesamt bild organisieren. Was die Organisation des Materials anlangt, hat die Homer philologie nur ein Chaos von Hypothesen anzubieten. An dieser Situation haben auch Milman Parry und seine Schule nichts zu ändern vermocht, die in dem Phänomen der ,oral poetry' den Schlüssel zum Homerverständnis zu finden glaubten. Was Parry beigesteuert hat, ist eine überaus wichtige Einzelerkenntnis, an der niemand vorübergehen darf, der sich wissenschaftlich mit Homer beschäf tigt. Aber diese Parrysche Entdeckung hat die Homerphilologie nur wieder vor neue, heikle Probleme gestellt, ohne die großen Fragen der älteren Homer forschung zu lösen oder zu eliminieren. Das Problem, um das man so lange vergebens gerungen hat, ist die Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen, anders ausgedrückt: die Frage nach dem Ver hältnis der Teile zueinander. Daß sie zentral ist, wird niemand bestreiten; sie ist in jeder Interpretation eines literarischen Kunstwerks die zentrale Frage. Drüd{t sich doch in dem Verhältnis der Teile zueinander die Absicht des Schrift stellers aus, und ein Interpret, der dieses Verhältnis vollständig und genau erfaßt hat, der hat eben den ,Sinn' des Werkes erfaßt, die literarische Aussage und ihre Komplexität (bzw. die Sinnlosigkeit, wenn eine rein mechanische Verbindung unvereinbarer Teile vorliegt). Selbstverständlich ist das genannte Ziel auch anderwärts schwer (und nie endgültig) zu erreichen, aber die Lage ist wohl kaum irgendwo so ungünstig wie eben beim Homer. Der Interpret kann immer nur (ein Stück weit) präzi sieren; um den Sinn genauer zu erfassen, muß er den möglichen Sinn bereits kennen. Will er einen Teil erklären, so müssen ihm die Eigenarten, Tendenzen und Probleme des Dichters und seines Zeitalters vertraut sein. Das ist der be- . rüchtigte ,hermeneutische Zirkel'. Im Falle Homers aber ist das Wissen, das der Interpret mitbringt, denkbar gering und die Zahl der Teile, deren Verhältnis es Einleitung 2 zu bestimmen gilt, sehr groß. Daraus folgt, daß das Urteil des Interpreten weitgehend subjektiv ist, die Absicht des Dichters nicht greifbar wird und der Text uns, je länger die Forschung dauert, immer fremder wird. Die nachfolgenden Studien sollen dieser Situation Rechnung tragen, indem sie die Frage nach den Intentionen des Dichters so weit als möglich ausklammern und statt dessen ihr Augenmerk auf die (objektiv feststellbaren) Eigenschaften des Textes richten. Dieses Programm bedarf nun freilich in doppelter Hinsicht einer Erläuterung: um was für Eigen6chaften handelt es sich? Was hat dieses 1. 2. neue Programm mit dem oben skizzierten Zentralproblem der Homerinterpre tation zu tun? Soll es dieses womöglich ersetzen? Zu dem ersten Punkt wäre zu sagen, daß wir alle jene Eigenschaften meinen, die der homerischen Erzählung Regularität verleihen. So hat z. B. W. Arend in seiner Arbeit über die typischen Szenen bei Homer gezeigt, daß gewisse The men wie ,Wappnung', ,Wagenfahrt', ,Ankunft', ,Bad' stets nach gleichbleibenden Schemata dargestellt werden, die nur in relativ engen Grenzen Variationen zulassen. Diese Schemata aber verleihen der homerischen Erzählung insofern Regularität, als sie Induktionsschlüsse möglid1 machen. Wer etwa das Thema ,Ankunft' an einem Dutzend von Beispielen studiert hat, der kann, wenn er dann im Epos weiterliest, sozusagen voraussagen, wie die nächste Ankunftsszene ungefähr aussehen wird, d. h. welche Hauptpunkte in welcher Folge durchlaufen werden; und wer die Typik eines Themas sehr gründlich studiert hat, der kann eine entsprechende Szene im homerischen Stil gestalten. Die Basis einer solchen Kenntnis ist natürlich statistischer Art: wir beobachten, daß ein bestimmtes Thema sehr häufig auf eine bestimmte \Veise gestaltet wird, und finden kein Gegenbeispiel; also schließen wir, daß das ,bei Homer' bzw. ,im homerischen Stil' immer so gemacht wird, gleichgültig, wie der größere Zusammenhang aus sieht, in welchem das Thema verwendet wird. Ein in gewisser Hinsicht noch eindrucksvollerer Fall von Regularität ist die von Milman Parry entdeckte Formelökonomie, die besagt, daß der Dichter mit dem gleichen Namen in gleicher metrischer Position immer das gleiche Epitheton verbindet. 1 Diese Regularität ist insofern erheblich strenger als die zuvor ge nannte, als sie nicht den Duktus einer Szene im großen und ganzen festlegt, sondern das einzelne Wort. Dafür fördert sie auf der anderen Seite - wenn man 1 Unsere Formulierung vereinfacht stark; maßgeblid1 ist Parrys Studie L'cpithete traditionnelle dans Homere. Daß formclhafl:e Epitheta, die nicht zu einem Eigennamen gehören, weniger streng an die Position gebunden sind, zeigt neuerdings J. B. Hains worth (The Flexibility of the Homeric Formula; vgl. hierzu E. Heitsch, Gnomon 42, 1970, 433 ff.).