Michael Urban Form, System und Psyche Michael Urban Form, System und Psyche Zur Funktion von psychischem System und struktureller Kopplung in der Systemtheorie Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. 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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16713-8 Inhalt Danksagung..........................................................................................................9 1 Einleitung................................................................................................11 2 Formtheoretische Begründungen der Systemtheorie Niklas Luhmanns....................................................................................23 2.1 Entwicklung der Relevanz des Formkonzeptes für die Systemtheorie Luhmanns..................................................................24 2.1.1 Zur Unterscheidung von drei theoretischen Dimensionen der Laws of Form..................................................................24 2.1.2 Zum Stellenwert der Rezeption der Laws of Form bei Luhmann................................................................32 2.2 Die Rezeption der Laws of Form bei Luhmann.................................36 2.2.1 Paradoxien der Form.............................................................49 2.2.2 Kontingenz der Theorie.........................................................54 2.3 Form-basierte Systemtheorie.............................................................60 2.3.1 Paradoxale Verschränkung von Operation und Beobachtung: Autopoiesis als Differenzierung zwischen System und Umwelt...............................................62 2.3.2 Autopoiesis und strukturelle Kopplung.................................67 2.3.3 Motive einer formtheoretischen Integration des Konzeptes der Supplementarität..............................................................71 2.3.4 Das Konzept der strukturellen Kopplung als Supplement in der Systemtheorie..............................................................76 2.3.5 Der Dekonstruktionsvorbehalt in der luhmannschen Systemtheorie................................................85 3 Ansätze einer systemtheoretischen Konzeptionalisierung der Psyche als System....................................................................................95 3.1 Konzeptualisierungen des Psychischen bei Luhmann.......................98 6 Inhalt 3.1.1 Sprache................................................................................104 3.2 Konzeptualisierungen des Psychischen im engeren Kontext der luhmannschen Systemtheorie..........................................................108 3.2.1 Die Beschreibung psychischer Systeme bei Fuchs..............................................................................108 3.2.1.1 Zur Konstellierung der Begriffe Wahrnehmung und Bewusstsein.........................................................................108 3.2.1.2 Wahrnehmungen..................................................................111 3.2.1.3 Systeme des Anfangs – Systeme der Betreuung..................116 3.2.1.4 Bewusstsein und Unbewusstes im theoretischen Modell von Fuchs.............................................................................120 3.2.2 Psychoanalytisch orientierte systemtheoretische Beschreibungen der Psyche.................................................127 4 Konstruktionserfordernisse für eine systemtheoretische Beschreibung der Psyche.....................................................................133 5 Das Beobachtungssetting der Psychoanalyse.....................................143 5.1 Psychoanalytische Selbstbeschreibungen der Übertragung/ Gegenübertragung im psychoanalytischen Prozess...145 5.1.1 Klassische Konzeptionalisierungen.....................................145 5.1.2 Neuere Objektbeziehungstheorie.........................................151 5.1.3 Relationale Psychoanalyse...................................................154 5.1.4 Boston Change Process Study Group und neuere systemtheoretische Psychoanalyse......................................157 5.2 Systemtheoretische Rekonstruktion des psychoanalytischen Settings............................................................................................168 5.2.1 Das soziale System im psychoanalytischen Setting.............169 5.2.2 Das psychische System des Analytikers im psychoanalytischen Setting..................................................174 5.2.3 Das psychische System des Analysanden im psychoanalytischen Setting..................................................176 5.2.4 Das Matrixsystem im psychoanalytischen Setting..............178 6 Psyche als Erfahrungssystem...............................................................185 6.1 Formtheoretische Konzeption psychischer Erfahrung.....................185 6.2 Provisorische Überlegungen zum medialen Substrat psychischer Formbildungen................................................................................191 Inhalt 7 6.3 Psychogenese als operative Produktion von Strukturen im psychischen System.........................................................................193 6.3.1 Primäre vorsprachliche Strukturbildungen im psychischen System.............................................................193 6.3.2 Die Relevanz sprachlicher Prozesse im psychischen System.................................................................................203 6.3.2.1 Psychogenetische Bedeutung des Modells des Spracherwerbs nach Lorenzer..............................................203 6.3.2.2 Zur Bedeutung der Semiosis in Kristevas Modell des Prozesses der Sinngebung....................................................208 6.3.2.3 Systemtheoretische Rekonstruktion der Positionen Lorenzers und Kristevas zur Bedeutung sprachlicher Prozesse in der Psyche.........................................................215 6.3.3 Die vier Dimensionen der Strukturbildung in der Ausdifferenzierung des psychischen Systems.....................220 7 Zur Relevanz der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen für das Verständnis des Erziehungssystems.......231 7.1 Ansätze der Beschreibung des Erziehungssystems bei Luhmann...234 7.2 Theoretische Komplikationen in der Beschreibung der Relation des Erziehungssystems zu psychischen Systemen...........................241 7.2.1 Reentry: Der Mensch...........................................................242 7.2.2 Codierung von Erziehung?..................................................243 7.2.3 Die Unterscheidung Vermitteln/Aneignen als Form der Konzeption der Relation von sozialen und psychischen Operationen.........................................................................250 7.3 Das Erziehungssystem unter der Perspektive der strukturellen Kopplung.........................................................................................256 7.3.1 Strukturelle Kopplung und Interpenetration........................259 7.3.2 Supplementäre Perspektiven in der systemtheoretischen Konzeption didaktischer Prozesse.......................................260 7.3.3 Beratungs- und Unterstützungssysteme der schulischen Erziehungshilfe als supplementäre Strukturbildungen im Erziehungssystem...........................................................265 8 Literaturverzeichnis.............................................................................271 Danksagung Eine Studie wie die vorliegende wird immer durch die Einbindung in soziale Systeme getragen, die eine solche Arbeit erst ermöglichen. Danken möchte ich vor allem einer Reihe von Personen. Helmut Reiser und Rolf Werning haben die Arbeit über Jahre begleitet. Ihnen danke ich insbesondere für die Bereitschaft, die Arbeit an diesem theoretischen Thema mitzutragen und mir dadurch die Möglichkeit zu geben, meinen wissenschaftlichen Fragen zu folgen. Detlef Horster danke ich dafür, dass er sich an der Begleitung dieser Arbeit beteiligt und seine sozialphilosophische und systemtheoretische Expertise zur Verfügung gestellt hat. Peter Fuchs sei für die Möglichkeit gedankt, einige Aspekte dieser Studie in seiner „Mittwochsgesellschaft“ zur Diskussion zu stellen. Ein Dank geht weiter zurück in die Vergangenheit: Alfred Krovoza hat mich mit den Konzeptionen einer „Kritischen Theorie des Subjektes“ und ihrer Lesart der Psychoanalyse vertraut gemacht. Friederike Fabers, Cora Kettemann, Thorben Lahtz, Anna-Lina Lübke und Marcel Ulmer danke ich für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Druckmanuskripts. Mein größter Dank geht an meine Fami- lie. Meiner Frau Carola Bauschke-Urban danke ich für ihre Liebe und den inspi- rierenden intellektuellen Austausch und ganz alltagspraktisch für die Zeiten, in denen sie mir das Schreiben ermöglichte. Unsere Töchter Jara Antonia und Matilda haben in den letzten Jahren mit zwei Eltern gelebt, die zur gleichen Zeit ihre Dissertationen geschrieben haben. Ich danke ihnen, dass auch sie mir die Zeit ließen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren – wenn auch die Zeiten, in denen sie das nicht taten, mindestens ebenso wichtig und schön waren. 1 Einleitung Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Einzelnen und dem Sozialen ist spätestens seit der Erfindung der Soziologie im 19. Jahrhundert Thema einer Vielzahl theoretischer Klärungs- und Beschreibungsansätze. In immer wieder neuen Varianten wurde versucht, dieses Verhältnis zu begreifen als die Relation von Teil und Ganzem, von Individuum und Gesellschaft, von psychischen und sozialen oder von subjektiven und objektiven Strukturen – um nur die wichtigs- ten der zumeist binär strukturierten Begrifflichkeiten anzusprechen, die zur Theoretisierung dieses Zusammenhangs genutzt wurden. Der Diskurszusam- menhang der soziologischen Systemtheorie in der von Luhmann (insbesondere 1987, 1997) begründeten und von einer Reihe anderer Autoren1 weiterentwi- ckelten Form hat zur Bestimmung dieses Verhältnisses einen spezifischen und von den bisherigen Konzepten stark abweichenden Vorschlag hervorgebracht: In Anschluss an die Arbeiten Luhmanns (vgl. etwa 1987: 32, 192) wird das Feld des Sozialen über den Ausschluss des Psychischen konstituiert. Soziale Systeme bilden sich nach dieser theoretischen Konstruktion nicht über das gemeinsame Handeln oder Interagieren von Menschen, Individuen oder Subjekten, sondern werden als operativ geschlossene, ihrer eigenen Autopoiesis folgende Systeme konzipiert, die sich über die Selbstkontinuierung der Vernetzung eines spezifi- schen Typus von Operationen bilden. Dieser systemkonstituierende Operations- typus wird für soziale Systeme in der Kommunikation gefunden (Luhmann 1987: 193, 1997: 81). Dabei handelt es sich um eine theoretische Konstruktion, die in diesem systemtheoretischen Diskurszusammenhang Kommunikation explizit als etwas Nicht-Psychisches bestimmt: „Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann (...) nur Kommunikation sein. Wir schließen hiermit also (...) eine psychologi- sche Bestimmung der Einheit der Elemente sozialer Systeme aus.“ (Luhmann 1987: 192) Damit transformiert sich in diesem Verständnis die Relation von Sozialem und Psychischem in die Theoriefigur der strukturellen Kopplung von sozialen und psychischen Systemen, i.e. von Kommunikation und Bewusstsein 1 Vgl. u.a. Baecker (1993, 2005), Esposito (2002, 2004), Fuchs (1992, 1993, 1999), Göbel (2000), Kieserling (1999), Kneer (1996), Nassehi (1993, 2003), Stichweh (2000), Weinbach (2004), Willke (1999, 2005). 12 Einleitung (vgl. Luhmann 1997: 103ff) – ein sehr spezifisches Verhältnis, das Luhmann (1987: 286ff) auch mit dem Begriff der Interpenetration bestimmt hat. Dieses axiomatische Konstruktionsmoment dient bislang primär dazu, den Bereich der Beschreibung des Sozialen mittels der Theoreme der Autopoiesis und der struk- turellen Kopplung von einer Reflexion auf die Relevanz des Psychischen zu lösen2: es wird dadurch ein theoretischer Raum eröffnet, in dem das Soziale als das Soziale für das Soziale beschrieben werden kann. Eine solche Form der theoretischen Konstruktion erzeugt ganz neuartige Potenziale zur Beschreibung der Eigendynamiken und spezifischen Rationa- litäten sozialer Prozesse in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Die luhmannsche Systemtheorie stellt mit ihrer enormen strukturellen Komplexität ein métarécit dar, das nicht nur als eines der avanciertesten theoretischen Para- digmen der Soziologie betrachtet werden kann, sondern das darin zugleich eine bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Reflexionsform für ein breites interdiszi- plinäres Feld bereitstellt, das neben den Sozialwissenschaften im engeren Sinne die Erziehungswissenschaften, die Psychologie und die Philosophie umfasst3. Die für diese Variante der Systemtheorie charakteristische Umstellung zentraler theoretischer Grundlagen auf die Differenz von Sozialem und Psychi- schem zeigt dabei je nach Theoriefeld und disziplinärem Kontext ein unter- schiedlich starkes Anregungs- und Irritationspotenzial. Perturbierende Effekte sind vor allem in solchen Theoriekontexten zu entdecken, in denen entweder mit einem empathischen Begriff von Subjektivität oder Intersubjektivität gearbeitet wird oder in denen die Dimension des Psychischen traditionell den zentralen Bezugspunkt der theoretischen Modellbildung darstellt. Beispiele für solche Bereiche sind sozialpsychologische Problematiken und die theoretische Reflexi- on von schulischen Lehr-/Lernprozessen und allgemein von Erziehungsprozes- sen sowie von psychotherapeutischen Prozessen. Folgt man der theoretischen Auffassung, nach der Liebe als ein Kommunikationssystem begriffen wird (Luhmann 1994), so ist für diesen Bereich, ähnlich wie für familiäre Beziehun- gen, die neuartige Frage aufgeworfen, ob und wie emotionale Prozesse auf die differente Konstitution sozialer Systeme bezogen werden können. Und ähnlich steht auch die systemtheoretische Beschreibung eines Funktionssystems der Kunst (Luhmann 1997a) vor dem Problem, ästhetische Erfahrung zur Hetero- nomie der kommunikativen Prozesse sozialer Systeme relationieren zu müssen. Für all diese Bereiche sind systemtheoretische Lösungen erarbeitet worden, die die entsprechenden Felder über die Fokussierung sozialer Systeme beschrei- ben und sich auf die spezifischen Eigendynamiken der jeweiligen kommunikati- 2 Es gibt Ausnahmen – vergleiche etwa die Arbeiten von Fuchs (1998, 1999, 2001, 2003, 2004 und insbesondere 2005). 3 Zur Rezeptionsgeschichte in den verschiedenen Disziplinen vergleiche Berg und Schmidt (2000). Einleitung 13 ven Prozesse konzentrieren. Eine solche Form der Differenzierung von sozialen und psychischen Systemen eröffnet auch in diesen Bereichen, die normalerwei- se unter Rückgriff auf das Psychische konzeptionalisiert wurden, durch oftmals kontraintuitive, überraschende Beschreibungen besondere Reflexionschancen4. Ungeachtet der Vorteile einer solchen Konzentration auf das Soziale, zeigt sich in diesen Feldern allerdings auch, dass die der luhmannschen Systemtheorie spezifische Form der Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen ein labiles, hochsensibles Moment der theoretischen Konstruktion darstellt. Betrachtet man beispielsweise den Bereich der Schule und Erziehung, so blei- ben Zweifel, ob eine Fokussierung des Erziehungssystems als ein soziales Sys- tem bedeuten muss, dass in der systemtheoretischen Beobachtung nur noch peripher auf die Relation der kommunikativen Prozesse zu psychischen Lern- und Entwicklungsprozessen reflektiert wird. Ähnliches gilt für den Bereich psychotherapeutischer Prozesse – wie sinnvoll ist es, in der theoretischen Refle- xion ein therapeutisches Kommunikationssystem ganz ohne Rekurs auf psychi- sche Prozesse zu beschreiben? Gerade mit Blick auf diese Problematiken kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Weiterentwicklung des systemtheoretischen Paradigmas in die- sen Theoriefeldern nicht am ehesten durch die Dekonstruktion einer zu starren Konzentration auf das dem Psychischen entgegengesetzte Soziale gelingen kann. Chancen für eine weitere Entfaltung der Theorie sind hier vor allem in zwei Dimensionen zu sehen: Erstens kann sich die theoretische Reflexion darauf beziehen, wie im sozialen System selbst die Differenz zum Psychischen be- obachtet und zur Grundlage der Ausdifferenzierung interner Strukturen genutzt wird. Und zweitens kann aus einer externen, etwa wissenschaftlichen Beobach- tungsposition eine doppelte Perspektivierung gewählt werden, die die wechsel- seitige Bezogenheit psychischer und sozialer Systeme, insbesondere deren In- terpenetrationsverhältnisse zum Zentrum der theoretischen Analyse und der Beschreibung der darauf bezogenen jeweiligen systemeigenen Strukturbil- dungsprozesse nimmt. Nun bedeutet allerdings die zentrale theoriekonstitutive Differenzierung zwischen sozialen und psychischen Systemen und die damit ermöglichte Margi- nalisierung des Psychischen in einer Theorie sozialer Systeme nicht, dass im Kontext der luhmannschen Systemtheorie keine Arbeiten zum psychischen System und dessen Relation zum Sozialen vorliegen würden. Die spezifischen Einschnitte und Ausschlüsse, über die eine Theorie konstruiert wird, evozieren immer auch ergänzende Arbeiten, die solchen Fragen nachgehen und die ur- 4 Für den Bereich des Erziehungssystems stellt dazu die spezifische Entfaltung des Theorems des Technologiedefizites (Luhmann & Schorr 1979: 118ff) ein gutes Beispiel dar.