Rg Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de 7 http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg7 Rg 2005 161–169 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 7 (2005) http://dx.doi.org/10.12946/rg07/161-169 Domenico Siciliano Folter: Rituale der Macht? Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0 e t t a b e D MarieTheresFögen 12 Einleitung ManfredAschke 13 Einheit TheoretischeAspektedesGroßtransfersvonRechtund juristischemPersonal MahidéAslan 33 Rückfahrkarte DasschweizerischeZivilgesetzbuchinderTürkei MarieTheresFögen,GuntherTeubner 38 Rechtstransfer FedericoGonzalezdelCampo 46 NeueVertragsformenalsRechtstransfer? ZumToposderangloamerikanischenProvenienzdes Leasing-Rechts JanaLachmund 58 AusderSchweizerWerkstatt DasForumJungerRechtshistorikerwidmetsichdem europäischenRechtstransfer ClaudiusMessner 62 Übertragungen ZumStaats-undFamilienromanderModernen KenichiMoriya 74 Wissenschaftsfreiheit Beobachtungenzumdeutschenundjapanischen »juristischen«Diskurs RogerMüller 87 DerWissenschaftstransferdesdeutschen VerwaltungsrechtsindieSchweiz SemantikundSozialstruktureiner»Gelehrtenrezeption« e h c r e h c e R ThomasSimon 100 Geltung DerWegvonderGewohnheitzurPositivitätdesRechts GiselaDiewald(cid:1)Kerkmann 138 »ImVordergrundstehtimmerdieTat…« GerichtsverfahrengegenMitgliederderRAF k i t i r K LoretanadeLibero 154 ImGutenwenigundimSchlimmenviel GuidoO.Kirner,StrafgewaltundProvinzialherrschaft. EineUntersuchungzurStrafgewaltspraxisderrömischen StatthalterinJudäa(6–66n.Chr.) PiaLetto(cid:1)Vanamo 158 Spiegelkunde JørnØyrehagenSunde,Speculumlegale–rettsspegelen. Einintroduksjontildennorskerettskulturensihistoriei eiteuropeiskperspektiv DomenicoSiciliano 161 Folter:RitualederMacht? DieterBaldauf,DieFolter.Einedeutsche Rechtsgeschichte JörgZirfas,RitualederGrausamkeit.Performative PraktikenderFolter,in:ChristophWulfundders.(Hg.), KulturdesRituals HorstHerrmann,DieFolter.EineEnzyklopädiedes Grauens SvenKramer,DieFolterinderLiteratur.IhreDarstellung inderdeutschsprachigenErzählprosavon1740bis »nachAuschwitz« GerritWalther 169 AngryOldMan HaroldJ.Berman,LawandRevolution,II.TheImpact oftheProtestantReformationsontheWesternLegal Tradition MichaelStolleis 172 Bürgersouveränität PietroCosta,Cittadinanza DiegoQuaglioni,LaSovranità FrankL.Schäfer 173 EinSchwabeimDornröschenschlaf ChristophMauntel,CarlGeorgvonWächter(1797– 1880).RechtswissenschaftimFrühkonstitutionalismus MarkusNussbaumer 175 Gesetzeskunst BerndMertens,GesetzgebungskunstimZeitalterder Kodifikationen.TheorieundPraxisderGesetzgebungs- technikaushistorisch-vergleichenderSicht FedericoFernández(cid:1)CrehuetLópez 179 UnsichtbareHände AntónioManuelHespanha,Guiandoamãoinvisível. Direitos,EstadoeLeinoLiberalismoMonárquico Português OliverM.Brupbacher 182 ThisisnotaBiography NeilDuxbury,FrederickPollockandtheEnglishJuristic Tradition k i t i r K AlexanderSomek 184 DasGanzedesRechts AndreasFunke,AllgemeineRechtslehrealsjuristische Strukturtheorie.EntwicklungundgegenwärtigeBedeu- tungderRechtstheorieum1900 MartinSchulte 186 Heut’gehnwirins…Labor! WalterPauly,GrundrechtslaboratoriumWeimar. ZurEntstehungdeszweitenHauptteilsderReichs- verfassungvom14.August1919 ThorstenKeiser 189 LawafterAuschwitz–LawinAuschwitz? DavidFraser,LawafterAuschwitz. TowardsaJurisprudenceoftheHolocaust Stefan(cid:1)LudwigHoffmann 191 OpferdesFaschismusunddesAntifaschismus SusannezurNieden,UnwürdigeOpfer.DieAberken- nungvonNS-VerfolgteninBerlin1945bis1949 MatthiasSchwaibold 193 EineEntscheidung,dievomHimmelfiel KatrinKastl,DasallgemeinePersönlichkeitsrecht. DerProzessseinerAnerkennungals»sonstigesRecht« imSinnevon§823Abs.1BGB MargritSeckelmann 195 Begriffeaufräumen AndreasAnter,DieMachtderOrdnung.Aspekteeiner GrundkategoriedesPolitischen ThomasDuve 198 Erbvergleich JensBeckert,UnverdientesVermögen.Soziologiedes Erbrechts HansPeterWalter 200 DieRededesGerichts–DieRedevorGericht Thomas-MichaelSeibert,Gerichtsrede.Wirklichkeit undMöglichkeitimforensischenDiskurs DieterSimon 203 TraurigeWirklichkeit Thomas-MichaelSeibert,Gerichtsrede.Wirklichkeit undMöglichkeitimforensischenDiskurs MarieTheresFögen 209 »MitdenVokabelnderSystemtheorie« FrankBecker(Hg.),GeschichteundSystemtheorie. ExemplarischeFallstudien RainerMariaKiesow 212 DasdritteRecht AlainSupiot,HomoJuridicus.Essaisurlafonction anthropologiqueduDroit n e i l a n i g r a M MarieTheresFögen 216 SavignysSchüler,BettinasHirtenknabe. PhilippHössli BettinavonArnim,»IstDirbangevormeinerLiebe?« BriefeanPhilippHössli,nebstdessenGegenbriefenund Tagebuchnotizen,hg.vonKurtWanner KurtWanner,PhilippHösslioderdieSehnsuchtnachder AussichtaufdemGipfeldesBerges Karl(cid:1)HeinzLingens 218 Bomben-Werbung RomanSchmidt-Radefeldt,ParlamentarischeKontrolle derinternationalenStreitkräfteintegration BenjaminLahusen 219 WeltundNachwelt ZurRezeptionzweierWerke NicholasH.D.Foster 230 TheJournalofComparativeLaw 232 Corrigendum Abstracts 234 Autoren 237 Abbildungsverzeichnis 238 161 Folter: Rituale der Macht? »Folter«isteinhöchstaktuellesThema.Die Pinochets und in den Haftanstalten der türki- Vernehmungspraxis vieler sowohl demokrati- schenPolizei.…AberdieseFolterungengescha- scher als nicht demokratischer Staatsapparate henundgeschehenheimlich,jenseitsderGesetze in der Welt ist in jüngerer Zeit zunehmend oder gar im Widerspruch zu den Gesetzen…« zum Thema in Medien und Gegenstand ent- (14). DamitstelltBaldaufaufeinen bestimmten sprechender Kritik geworden. Dies hat auch rechtspositivistischenbzw.»demokratietheoreti- Wirkung im wissenschaftlichen Feld gezeigt. schen« Begriff des Rechts ab: »Die Folter im Mehrere Neuerscheinungen auf dem deutschen SinneunsererBetrachtungenwaralso–unddas Büchermarkt sind ein Indikator dafür. Sie ma- unterscheidet sie von den Folterpraktiken un- chen darüber hinaus deutlich, dass Folter auf serer Epoche – jedenfalls dem Grundsatz nach ganzunterschiedlicheArtundWeisethematisiert geltendes Recht. Geltung konnte dieses Recht werdenkann. freilichnuralspositives(nichtnotwendigimmer geschriebenes) Recht haben, also im Sinne der 1. In seinem Buch »Die Folter. Eine deutsche Überzeugung zumindest einer großen Mehrheit Rechtsgeschichte«*rekonstruiertDieterBaldauf der Zeitgenossen von der Rechtmäßigkeit ihres 500 Jahre Folter in Deutschland – vom ersten Handelns«(14).BaldauffragtexplizitnachEnt- belegten Fall im Jahr 1321 in Augsburg bis zur stehung und Bedingungen der Möglichkeit des AbschaffungderFolterinBaden1831–alseine Rechtsinstitutes der Folter und deren Beibehal- »Unrechtsgeschichte«. Der Titel des Buches ist tung (14). Empirischer Ausgangspunkt der Ar- mehrdeutig.Weisterauf»einedeutscheRechts- beitistdieStadtRegensburg,woDieterBaldauf geschichte«, auf»eine deutsche Rechtsgeschich- als Rechtsdezernentgearbeitethat. Eine Mikro- te« oder auf »eine deutsche Rechtsgeschichte« geschichte der Folter bzw. des Einsatzes der hin? Folter in Regensburg zu verfassen, unternimmt Anders formuliert: Weist er aufdie Kontin- Baldauf im zweiten Teil seiner Arbeit (17–41): genz der Rekonstruktion, auf den nationalen Anhandeinerzwischen1800und1824inmeh- Charakterbzw.aufdiedeutsche»Besonderheit« reren Bänden erschienenen Regensburgischen derGeschichtederFolteroderaufdenUmstand Chronik des Archivars Carl Theodor Gemeiner hin, dass es sich um eine (Rechts-)Geschichte thematisiert er die Anwendung der Folter im handeltundzwarumVergangenheit,diekeinen mittelalterlichen Regensburg. Der erste Fall Bezug zur Gegenwart mehr hat? Baldauf be- stammtaus demJahr 1338. Es handelt sich um gründetseinePeriodisierungmitdemArgument, einenklassischenFallvon»Hochverrat«:Infolge ihm gehe es um die Folter als »Rechtseinrich- einerAuseinandersetzungmitdemRatderStadt tung«, um »die peinliche Frage« (13ff.): »Ge- lässt der Kaiser Ludwig (der Bayer) seine Trup- foltert wurde in Deutschland ja auch noch von pen vor die Stadt anrücken. Die Anhänger des denSchergenderGestapo.Gefoltertwurdeund KaisersinderStadtversuchen,einenTunnelfür wirdauchinunsererZeitnochindenVerliesen die Angreifer zu bauen. Zwei werden entdeckt einesChomeini,indenPolizeigefängnisseneines undgefoltert,umdieExistenzweitererMittäter * DieterBaldauf,DieFolter.Eine deutscheRechtsgeschichte,Köln, Weimar,Wien:Böhlau2004, 235S.,ISBN3-412-14604-8 k ti ri K Siciliano,Folter:RitualederMacht? 162 festzustellen.WeiterhinschildertBaldaufandere selbst. Als historische Bedingungen der Entste- FolterfälleausdenJahren1387,1440und1441, hungderFolterinDeutschlandgeltennachBal- 1457 bis zum Jahre 1519. Insbesondere richtet dauf1. derKampfderKirchequakanonischem er seine Aufmerksamkeit auf die Folterung von Recht gegen die Ketzer; 2. der »Import des rö- Juden. Diese wird plausibel im allgemeinen ju- mischenRechtsausItalien«und3. »derKampf denfeindlichenKontextimeuropäischenMittel- gegendie›landschädlichenLeute‹«.DieInquisi- alter positioniert. Ein Ritualmordprozess gegen tion mit ihrem Bezug auf die »materielle Wahr- Juden von 1476 wird unter anderem eingehend heit«wirdalsFortschrittbezeichnet(65ff.).Die durchBaldaufrekonstruiert.AufdemRückweg Constitutio Criminalis Carolina wird als Reak- voneinerReisenachRomtrifftderBischofvon tiongegendie»WillkürjustizimSpätmittelalter« Regensburg seinen Kollegen in Trient. Von ihm aufgefasst (83ff.). Hier befremdet den Leser erfährt er von einem 1475 in Trient durchge- Baldaufs Beschäftigung mit dem Problem der führten Ritualmordverfahren gegen Juden. Ein Entstehung bzw. Ausbreitung der Folter gerade Angeklagter habe unter der Folter Aussagen in der Zeit, in der die Bamberger Halsgerichts- über den durch Juden verübten Mord an einem ordnung, die Carolina und insbesondere die »Christenkind« in Regensburg gemacht. Der deutsche Strafrechtswissenschaft entstanden. Regensburger Bischof lässt sich eine Abschrift Exemplarisch: Johann Freiherr von Schwarzen- desVerhörprotokollsanfertigen,kehrtnachRe- berg ist ein »in ritterlicher Tradition erzogener gensburgzurückundfordertdenRatinRegens- Mann, in seiner Jugend ein zech- und spielfreu- burg dazu auf, das Verfahren einzuleiten. Unter diger Haudegen«, der »dann durch väterliche derFolterbeschuldigensichdieJudengegenseitig Mahnung zu ernsthafter Lebensführung veran- undgestehennochweitereVerbrechen.Indiesem lasst«wurde(87).Schwarzenberghabesich»als wie in den anderen geschilderten Folterfällen Staats-undVerwaltungsmannmitsittlichemVer- hebt Baldauf plausibel hervor, dass die Folter antwortungsbewusstseinundinhumanistischem als Mittel zum Zweck der Aussageerzwingung Geist der Behebung der Mängel seiner Zeit« bzw. -produktion angewendet wird. Er benennt gewidmet(87).WiestehtesabermitderFolter? zu Recht auch die ökonomischen Folgen des »SchwarzenberghatdieFolternichtabgeschafft Geständnisses, d.h. die Beschlagnahme des oft (er hat sie ja auch nicht in Deutschland einge- erheblichenVermögensdesAngeklagten(31ff.). führt),dafürwardieZeitnochnicht–nochlange IndenweiterenTeilendesBuchesfindeteine nicht–reif«(88).Damitwirddeutlich,dassfür VerschiebungvonderMikrogeschichtederStadt die Erklärung der Foltererfindung und -beibe- Regensburg bzw. ihrer Folterstätte auf die Ma- haltung der Gründermythos, der mit der Figur krogeschichtederFolterstatt.Hierrekonstruiert Schwarzenbergs verbunden ist, nicht gehalten BaldaufdieGeschichtedes»Rechtsinstituts«der werden kann. Alle Qualitäten, die Schwarzen- Folter von der Bulle »Ad extirpanda« über die berg aufweist, erweisen sich als wirkungslos in BambergerHalsgerichtsordnung,dieConstitutio BezugaufdieFragederFolter.AndieStelletritt CriminalisCarolina,dieHexenprozesse,biszur die Geschichte mit ihren strukturellen Unmög- ForderungderAbschaffungund–übervonSpee, lichkeiten, die Folter abzuschaffen. Die Mög- Thomasius, Voltaire, Beccaria und allgemeiner lichkeiteinerpositivenWirkungdesjuristischen dieBewegungderAufklärung–zurAbschaffung Handelns wird sogar im Allgemeinen verneint: 5 0 0 2 / 7 g R Siciliano,Folter:RitualederMacht? 163 »Freilich hat das Wirken von Juristen letztlich nichtmehrderÜberzeugungeinergroßenMehr- nochnierechtlicheIrrwegepolitischeroderideo- heit der Zeitgenossen von der Rechtmäßigkeit logischer Art verhindern können. Dafür ließen desQuälensvonMenschen.DieRechtsgeschich- sich eindrucksvolle Beispiele aus jüngerer deut- te der Folter in Deutschland war damals längst scher Vergangenheit anführen, schließlich war beendet – es gab noch eine Unrechtsgeschichte auch – um ein Extrembeispiel zu nennen – Ro- der Folter« (215). Hier stellt sich aber nun die land Freisler Jurist« (101f.). Damit wird aber Frage, wie Baldauf davon ausgehen kann, dass implizitaufdieMöglichkeiteinernegativenWir- die»großeMehrheit«derRechtsgenosseninder kung der Juristen hingewiesen. Wie es möglich Zeit des Nationalsozialismus nicht davon über- ist,dassnur»irrige«und»ungerechte«politische zeugt war, dass es rechtmäßig sei, Staatsfeinde Handlungen der Juristen wirken können, bleibt (nicht Menschen! Die gab es und gibt es heute dabei unklar. Baldauf neigt gelegentlich dazu, für den Sicherheitsstaat auch nicht!)zu quälen? die Geschichte zu naturalisieren bzw. ihre prä- Insbesondere die Diskussion in der historischen zisen gesellschaftlichen Bedingungen zu über- LiteraturderletztenzwanzigJahrehättezumin- sehen: »Die Hexenprozesse der frühen Neuzeit, dest zur Differenzierung und Vorsicht veranlas- des 16. und 17. Jahrhunderts, stellen in der senkönnen! deutschen Rechtsgeschichte – dieser Begriff im- Problematisch ist auch der Ausblick. Es ist merverstandenalsdieJustizgeschichteimSinne unklar, weshalb Baldauf von einer deutschen derÜberzeugungdergroßenMehrheitderZeit- Rechtsgeschichte der Folter plötzlich auf das genossen von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns – Problem der Folter in der Türkei zu sprechen dieKatastropheschlechthindar«(135).Einaus kommt:»Esistunverständlich,dassdieEuropä- der Nahvergangenheit angestellter Vergleich ische Union, die ja ein Zusammenschluss von führt Baldauf zu weiteren Naturalisierungen Rechts- und Kulturstaaten ist, ein Land wie die von historischem, wohl zurechenbarem Han- Türkei, das die Folter zwar aufdemPapier ver- deln: »Die noch viel größere Mordkatastrophe botenhat,massenhafteFolterungenabersehen- der deutschen Geschichte, nämlich die des sog. den Auges weiterhin zulässt, als Beitrittskandi- Dritten Reiches, hatte mit ›Rechtsgeschichte‹ datenbehandelt«(220). auchindiesemeingeschränktenSinneüberhaupt Zum einen wäre es vielleicht angebrachter nichtsmehrzutun«(135). gewesen, den Blick konsequent nicht auf die Ähnliches in der eineinhalb Seiten langen Türkei, sondern reflexiv auf Deutschland zu Ausführung zur »seitherige(n) Entwicklung in richten.DerFallDaschner,aberauchderEinsatz Deutschland«. Nach der Bemerkung, dass in von Brechmittel durch die Polizei böten ausrei- der nachfolgenden deutschen Rechtsgeschichte chend Material dazu. Zum zweiten und m.E. nur im Nationalsozialismus und in der DDR noch wichtiger: Baldauf knüpft implizit an eine die Folter wieder angewendet worden sei, Tradition der deutschen Strafrechtsgeschichte schließt Baldauf die Notwendigkeit der Thema- an, die das Problem der ›deutschen Identität‹ tisierungsolcherFällemitdemHinweisaufden undderenBedrohungvonaußenindenVorder- schon erwähnten rechtspositivistischen bzw. grund stellt. So kam etwa Eberhard Schmidt »demokratietheoretischen« Begriff des Rechts noch 1965nach485 SeitenüberdieGeschichte aus: »Nun entsprach sie [die Folter] allerdings der deutschen Strafrechtspflege zu folgenden k ti ri K Siciliano,Folter:RitualederMacht? 164 Schlussworten: »Die über die Millionenzahl Beziehungen herausreißt, dann aber durch die hinausgegangene Masse fremdländischer ›Gast- InszenierungeinesabsolutenMachtzustandesin arbeiter‹wirdindemAugenblick,wodem›Ver- einerpermanentenLiminalitätfesthältundsomit teilerstaat‹ das Sinken des Sozialprodukts eine auf die Zerstörung der Möglichkeit einer Wie- Erfüllung der ihm gegenüber immer mehr ge- derangliederunginsozialeGemeinschaftenzielt? steigertenAnsprücheanArbeitsverkürzung und Folter ist in diesem Sinne der Versuch im Me- Lohnerhöhung nicht mehr möglich macht, zu dium absoluter Gewalt, Liminalität auf Dauer einemsozialenundpolitischenProblemwerden, zustellen,d.h.diepermanenteInszenierungdes dasalleErinnerungenandie›displacedpersons‹ Opfers um der Demonstration der absoluten derNachkriegszeitinerschreckendeErinnerung Machtwillen«(129). ruft.…NichtnurfürdasdeutscheVolk,sondern ZirfasbevorzugtdaszweiteErklärungsmus- für die Erhaltung der westeuropäisch-abend- ter.SeineTheselautet,dassdieFolter»einRitual ländischen Kultur zumindest in Europa über- der Grausamkeit (ist), weil es dem Opfer vor- haupt wird es von entscheidender Bedeutung führt, dass es dieses in einem unvollendet-voll- sein, ob die im Grundgesetz geschaffene Ent- endeten Übergang festhalten kann« (129, Her- scheidung für eine auf der Idee der Verantwor- vorhebung im Original). Die Folter sei »eine tung und des Rechts beruhende Ordnung des rituelle Metamorphose, die keinen Übergang, Gemeinschaftslebensausdenbeängstigendenin- sondern einen Status, den des Leidens und Ster- nerenundäußerenGefahrenderGegenwartbe- bens, arrangiert«. Damit werde die »Unsterb- freit werden und wiederum zu einer alle ver- lichkeit«der»Macht«inszeniertundsomitwie- pflichtendenBedeutunggelangenkann…«1 derum eine wichtige Differenz gegenüber den »klassischenRitualtheorien«markiert(129f.). 2. EinanderesLichtindieFolterkammerwirft Dies ist jedoch nicht die einzige Definition der Beitrag »Rituale der Grausamkeit. Perfor- der Folter, die von Zirfas vorgeschlagen wird. mativePraktikenderFolter«vonJörgZirfas.** Folterwirddurchihnauchals»Bestandteileiner Zirfas geht es weder um die Frage nach der Politik der Eliminierung des Andersartigen« de- Moralität der Folter, noch um die Psychologie, finiert (130). Unter Ritual versteht Zirfas »eine noch umdie Frage der Funktion der Folter und symbolische Inszenierung…, die einen räum- schließlich nicht um die Möglichkeit der Deu- lichen und zeitlichen Rahmen hat und deren tungderFolteralseine»UmkehrungderNorma- Praktiken mit der Differenzkonstituierung und lität«, die darin liegen würde, dass die Folter -bearbeitung des Sozialen zu tun haben« (130, »radikaldiesozialenBeziehungeninFragestellt« Hervorhebungen im Original). Das »Performa- (131).Ihmgehteslediglich umdie Betrachtung tive« liege darin, dass die Folter »als eine ›per- derFolteralsRitualbzw.Performance. formance‹, ein Handlungszusammenhang, eine Das theoretische Gerüst wird durch die Ri- Inszenierung und ein Arrangement der intentio- tualtheorie von Arnold van Gennep und Victor nalen und systematischen Schmerzzufügung zu Turner geliefert: »Folgt die Folter dem Schema verstehen«sei(131). von Ablösung, Umwandlung und Angliederung Die Analyse des »performativen Rituals« oder ist die Folter ein ›unvollständiges‹ Ritual, derFolterwirdsystematischanhandderVariab- das Menschen zwar zunächst aus allen sozialen len Raum, Zeit und Körper durchgeführt. Zum 1 EberhardSchmidt,Einführung ** JörgZirfas,RitualederGrau- indieGeschichtederdeutschen samkeit.PerformativePraktiken Strafrechtspflege,Göttingen1965, derFolter,in:DieKulturdes 458. Rituals.Inszenierungen.Prakti- ken.Symbole,hg.vondems.und ChristophWulf,München: WilhelmFink2004, ISBN3-7705-4017-4,hier: 129–146. 5 0 0 2 / 7 g R Siciliano,Folter:RitualederMacht?