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Flugschriften 1848 in Berlin: Versuch zu einer politischen Literaturgeschichte deutscher Flugschriften in der Dialektik von bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Öffentlichkeit PDF

261 Pages·1977·28.737 MB·German
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Flugschriften 1848 in Berlin Versuch zu einer politischen Literaturgeschichte deutscher Flugschriften in der Dialektik von bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Öffentlichkeit Dissertation zur Erlangung der Würde des Doktors der Philosophie der Universität Harnburg vorgelegt von Sigrid Weigel aus Harnburg Harn burg 1977 ISBN 978-3-476-99840-8 ISBN 978-3-476-99839-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-99839-2 Referent: Prof. Dr. Klaus Briegleb Korreferent: Prof. Dr. Manfred Brauneck Tag der mündlichen Prüfung: 21. 12. 1977 »die zukunft des autors ist die zukunft eines standes der die aufgabe hat: sich aufzulösen, weil dann alle singen werden« (aus P. P. Zahl, Anmerkungen in der Berufsberatung Abteilung .Holzverarbeitende Industrie<, in: Die Barbaren kommen, Hamburg 1976) Diese Veröffentlichung ist die gekürzte Fassung der Dissertation Flugschriften 1848 in Berlin. Versuch zu einer politischen Literaturgeschichte deutscher Flugschriften in der Dialektik von bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Öffentlichkeit, die im Juni 1977 vom Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg angenommen wurde. Ge kürzt wurde der erste Teil, eine kritische Aufarbeitung der Forschungsliteratur zur Gat tung, deren Ergebnisse hier in einer neu formulierten Einleitung thesenartig als histori sche Entwicklung der Flugschriftenliteratur bis hin zur Revolution von 1848 dargestellt werden. Referenten der Dissertation waren die Professoren Klaus Briegleb und Manfred Brau neck vom Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg, denen mein Dank für ihr inhaltliches Interesse am Zustandekommen der Arbeit gilt. Meine Untersuchung entstand in Zusammenarbeit mit Ruth Geiger und parallel zu ihrer Arbeit über die Berliner Zeitschriftenliteratur der Revolution 1848. Durch unsere inhaltlichen, politischen und persönlichen Diskussionen und gemeinsame Praxis konnte ich meine Vorstellung verwirklichen, daß anachronistische und heutiger Realität inad äquate Arbeitsformen wie die einer Doktorarbeit durch Kollektivität und den Zusam menhang mit anderen Lebensbereichen verändert werden können. Allein hätte ich auch die trotz des Bemühens um veränderte Arbeitsformen nötigen Arbeitsschritte im Staub der Archive nicht ohne Einbußen durchgestanden. Die Arbeit in den Seminaren von Klaus Briegleb war wichtig für die thematische Motivation, die Diskussionen mit ihm stärkten mein Selbstvertrauen für die Durchführung eines solchen Vorhabens. Die ge meinsame solidarische Praxis mit den Freunden am Germanistikbereich der Universität Hamburg frischte mein Interesse an dieser Arbeit und das Bewußtsein von ihrer Nütz lichkeit immer wieder auf. Die Erfahrungen mit ihnen zusammen waren ein wichtiger Ausgleich zur Angst vor der Isolation am Schreibtisch mit dem Verlust sozialer und poli tischer Beziehungen. Tilman Kressel unterstützte mich im Durchhalten, indem er mich in Streßzeiten von allen leidigen Reproduktionsarbeiten befreite im Bewußtsein, daß zwar eine Umkehrung der Rollenaufteilung keine gesellschaftliche Perspektive zu ihrer Überwindung darstellt, wohl aber individuell und kurzfristig notwendig sein kann. Die Hilfe durch Bibliothekare und Archivare, insbesondere das erfreulich unbürokratische Verfahren im Institut für Zeitungsforschung in Dortmund, war mir eine wichtige Unter stützung bei den Quellenarbeiten zu meiner Untersuchung. Frau Fais ermöglichte mir, dadurch, daß sie die Abschrift übernahm, die termingerechte Abgabe der Arbeit. Ihr Engagement dabei mußte sie mit Alpträumen bezahlen, in denen ihr die Zensur leibhaftig erschien. Hamburg, April 1978 Sigrid Weigel INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Zum Verfahren. . . . . . . 2 1.2. Zum Begriff der Flugschrift . 4 1.3. Flugschriften sind nicht Vorläufer der Zeitung 5 1.4. Entwicklung der Flugschrift von den Bauernkriegen bis 1848 10 2. Vom Umgang mit überlieferten Flugschriften ................ 18 2.1. Zur Überlieferung der Flugschriften durch die Sekundärliteratur über die Berliner Revolutionsjahre 1848/49 . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2. Die bibliothekarischen Maschen im Netz der Textarchäologie 20 2.3. Zur Methode der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Die Veränderung der Öffentlichkeit durch die Märzrevolution . . . . . . .. 26 3.1. Vor dem März - Bedingungen der Märzereignisse . . . . . . . . . .. 26 3.2. Der März - eine neue Öffentlichkeit entsteht: Versammlungen und Petitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32 3.3. Die Revolutionsöffentlichkeit - Entfesselung literarischer Produktion 37 4. Die Flugschriften in der neuen Öffentlichkeit ............... 42 4.1. Straßenöffentlichkeit und Flugschriften - organisierendes Moment der Basisöffentlichkeit ...................... 43 4.1.1. Kundgebungen, Demonstrationen und Straßenkämpfe 43 4.1.2. Volksversammlungen . . . . . . . 51 4.2. Der Begriff vom Volk in den Flugschriften . . . 65 4.2.1. Das Volk als Untertan. . . . . . . . . . 67 4.2.2. Das Volk gegen Adel, Pfaffen und Bürger 71 4.3. Frauen und Flugschriften . . . . . . . . . . . . 76 4.3.1. Philistergrammatik - maskulines Geschlecht von Volk und Frei- heit ............................... 80 4.3.2. Die politische Frau als Megäre - das Ballettfräulein als Monar- chistin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83 4.4. Flugschriften im Zusammenhang mit Klub-, Vereins-und Organisations öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91 4.4.1. Propagandistische und programmatische Funktion der Flugschrif- ten von Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 94 VIII Inhaltsverzeichnis 4.4.2. Flugschriften in der Auseinandersetzung zwischen Staat und Ver einen/Klubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 4.4.3. Mit Flugschriften gegen den Preußenverein ........... 105 4.5. Die Begriffe von Konstitution, Demokratie, Republik und Kommunismus in den Flugschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109 4.5.1. Konstitution als Tagesforderung der Revolution ......... 110 4.5.2. Lagerbewußtsein in der Verwendung des Demokratiebegriffes . 117 4.5.3. Historische Widersprüche und deren Nivellierung in der Ge- schichtsschreibung ........................ 127 4.6. Die Öffentlichkeit der Nationalversammlung und Flugschriften - Ver- treter und Vertretene .......................... 130 4.6.1. Der Kampf um eine aus direkten Wahlen hervorgegangene Ver sammlung als Errungenschaft der Märzkämpfe . . . . . . . . . 131 4.6.2. Flugschriften in der Auseinandersetzung um einzelne Beschlüsse der Versammlung ........................ 134 4.6.3. Kritik an den Vertretern und an der Institution der Nationalver- sammlung ............................ 137 4.7. Bürgerliche Kulturöffentlichkeit und Flugschriften - am Beispiel des Theaters ................................ 148 4.7.1. Die Veränderung des Theaters in der Revolutionsöffentlichkeit 149 4.7.2. Theater in der Flugschrift - szenische Formen. . . . . 151 4.7.3. Flugschriften und Straßenöffentlichkeit auf der Bühne ...... 155 5. Zensur, literarischer Markt und Schreibstrategien - politische, ökonomische und literarische Verhältnisse der Flugschriftenliteratur . . . . . . 159 5.1. Flugschriften im Kampf zwischen Pressefreiheit und Zensur ...... 159 5.1.1. Errungenschaft Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.1.2. Proteste gegen Beschlagnahmungen, Denunzianten und Verhaf- tungen .............................. 164 5.1.3. Flugschriften im Zusammenhang politischer Justiz - Anlaß und Widerstandsform ........................ 170 5.1.4. Im November beginnt der Nachmärz . . . . . . . . . . . . . . 174 5.2. Der Warencharakterder Flugschriften, deren Produktions-, Distributions- und Rezeptionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.2.1. Das Geschäft der Verlage mit Flugschriften . . . . 178 5.2.2. Selbstverlag und kostenlose Flugschriftenverteilung 182 5.2.3. Die Parteilichkeit der Druckereien. . . . . . . . . 185 5.2.4. Distribution und Rezeption - Fliegende Buchhändler und Straßen- lektüre .............................. 186 5.3. Literarische und sprachliche Mittel in den Flugschriften - literarische Formen, Topoi und Metaphern ..................... 190 5.3.1. Dramatische Momente - Charakterisierung von Verhaltensfor- men und diskutierende Erörterung ................ 193 5.3.2. Verschiedene Formen polemischer und agitatorischer Schreibart als literarischer Widerstand ................... 196 Inhaltsverzeichnis IX 5.3.3. Volkstümliche Ironie und engagiertes Pathos 199 5.3.4. Lyrik - Appelle, Schlagworte und lehrhafte Formen. 202 5.3.5. Religiöse und didaktische Formen ..... 208 5.3.6. Dokumentation und politische Propaganda 210 5.3.7. Metaphern, Topoi und Bildvergleiche ... 212 6. Nachbemerkung - Veränderungen der Flugschrift nach 1848 219 7. Anmerkungen . . 222 8. Archivverzeichnis 242 9. Literaturverzeichnis 243 10. Bildquellenverzeichnis 250 1 t. Personenregister . . . 251 1. EINLEITUNG Die vorliegende Untersuchung der Berliner Flugschriftenliteratur aus der Revolution von 1848 versteht sich als Analyse der Gattung Flugschrift und ihrer spezifischen Funktionen und Möglichkeiten in einer revolutionären Situation. Damit soll ein Beitrag zur politi schen Literaturgeschichtsschreibung einer Textart erbracht werden, die bisher von lite raturwissenschaftlicher sowie nicht-wissenschaftlicher Rezeption weitgehend ignoriert wurde. Die Ursachen für die der gesellschaftlichen Bedeutung und dem tatsächlichen An teil der Flugschriften an der historischen Literatur unangemessen geringe Beachtung lie gen in den Auswahlkriterien konventioneller Literaturgeschichtsschreibung und herr schender Neuveröffentlichungspraxis, die einem bürgerlicher Tradition verhafteten, normativen Literaturverständnis verpflichtet sind. Dadurch wird in der Aneignung lite rarischer Überlieferung der reale historische Prozeß der Unterdrückung volkstümlicher und oppositioneller Kultur reproduziert. So sind auch heutige Flugschriftenproduzenten weitgehend von der Tradition ihres Mediums abgeschnitten. Mein Interesse, mit dieser Untersuchung einen Teil dieser Tradition für heutige Praxis verfügbar zu machen, geht von der Annahme aus, daß die zu beobachtende Verknöche rung im Gebrauch und den literarischen Mitteln der Gattung heute zum Teil mitbegrün det ist durch mangelhaftes historisches Bewußtsein über die Funktionsweisen politischer Literatur und ihre in der Geschichte bereits entfalteten Möglichkeiten. Meine Darstellung der Berliner Flugschriften von 1848 soll ermöglichen, durch Kon zentration der Quellenanalyse auf einen relativ begrenzten Ort [1] und Zeitraum [2] möglichst differenzierte Aussagen über den Charakter, die Funktionen und Öffentlich keitsbezüge dieser literarischen Form machen zu können. Aufgrund der ungewöhnlich großen Menge der überlieferten Drucke von 1848 kann man vermuten, daß die Flug schriften innerhalb der Revolutionsöffentlichkeit eine wichtige Rolle spielten und die Möglichkeiten dieser Literaturgattung relativ entfaltet genutzt wurden. Mit einer Untersuchung der Flugschriftenliteratur wird die Öffentlichkeit dieser Re volution - einer Revolution, die als bürgerliche zu bezeichnen sich eingebürgert hat - anhand eines ihrer relevantesten Medien auf ihren Klassencharakter hin zu überprüfen sein. Zu dem Zweck ist diese Literatur auf dem Hintergrund der Dialektik von bürgerli cher und nicht-bürgerlicher Öffentlichkeit zu betrachten. Insofern werde ich die Flug schriften in ihrem Verhältnis zu den von der bürgerlichen Gesellschaft bis dahin hervor gebrachten Formen der Öffentlichkeit (wie etwa Zeitschriften und Theater) wie zu den neu entstehenden (wie etwa Parlament und Parteien) beschreiben. Dabei bestimmt sich der nicht-bürgerliche Charakter einer Öffentlichkeit nicht allein durch die Klassenlage ihrer Träger, sondern auch durch ihre Form, ihren Gesellschafts bezug und die damit verbundenen Inhalte und Wirkungsmöglichkeiten und dadurch, in- 2 Einleitung wieweit es gelingt, praktisch die Ausgrenzungsmechanismen bürgerlicher Öffentlichkeit zu durchbrechen. Das Studium der Massenliteratur einer Revolution stellt u. a. eine notwendige Ergän zung zu einer materialistischen Geschichtsschreibung dar, welche historische Fakten mit den ihnen zugrundeliegenden Klassenantagonismen und objektiven Klasseninteressen fundiert. Wenn man Revolution als Praxis agierender und kommunizierender Subjekte versteht, werden mit dem in den Flugschriften öffentlich und literarisch zum Ausdruck gebrachten Bewußtsein von Teilen der in der Situation Handelnden auch die Widersprü che und Schwierigkeiten der Revolution in ihrer konkreten Gestalt analysierbar. 1.1. Zum Verfahren Wenn ich hier dem spezifischen Charakter der Flugschriften nachgehe, betrachte ich sie als eine literarische Form, in der Erfahrung organisiert ist [3], als Medium öffentlicher Kommunikation im Zusammenhang anderer Erfahrungsorganisation, die nicht Text form angenommen hat, als literarisch gestaltete Erfahrung in ihrem operativen Bezug auf soziale und politische Realität. Mit der Verwendung des Begriffs des Operativen folge ieh dessen programmatischer Bestimmung und Verwendung durch Tretjakov, welche in der Intention Entprofessiona lisierung der Literatur sowie die Aufhebung der Trennung zwischen Produktion und Re zeption einschließt. »Operative Beziehungen nenne ich die Teilnahme am Leben des Stoffes selbst.« [4] Damit ist ein Verhältnis von Text und Realität beschrieben, das sich sowohl gegen eine reine Abbildfunktion der Literatur als auch gegen eine Reduktion auf Agitation und Propaganda sträubt. In die Begriffe der Agitation und Propaganda geht die Trennung von Autor und Rezipient als Voraussetzung literarischer Produktion kon stitutiv ein, während sie im Begriff des Operativen als Problem erkannt ist mit der Ab sieht, sie zu durchbrechen. Flugschriften schließen als Gattung Möglichkeiten operativer Literaturproduktion ein. Dies aufgrund ihrer spezifischen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsfor men, mit denen sie nieht vollständig den Gesetzen der Kulturwarenproduktion unter worfen sind und die in den Kontext anderer Lebenszusammenhänge gestellt sind. So sind Flugschriften z. T. keine Schreibtischproduktionen und werden auch von Nicht-Litera ten mit dem Primat des Gebrauchswertes, manchmal auch kollektiv geschrieben. Meist wird ein direkterer Weg zwischen Autor und Adressat hergestellt als im arbeitsteiligen und langwierigen Herstellungsprozeß des Verlags-und Buchhandelswesens. Oft werden sie von Kolporteuren oder Verteilern direkt an die Adressaten herangetragen, dies manchmal in Kommunikations-und Erfahrungssituationen, auf die im Inhalt Bezug ge nommen wird. Meine Annahme, daß sich in den Flugschriften Formen volkstümlicher Öffentlichkeit manifestieren, muß auf die historische Genese verschiedener Öffentlichkeitsformen be zogen werden, innerhalb derer sich in einem widerspruchsvollen Konstiutierungsprozeß die bürgerliche als herrschende erst durchgesetzt hat. Wenn Habermas [5] zu der These gelangt, daß Öffentlichkeit in ihrer klassischen Form eine sei, dann liegt das daran, daß er sie von vornherein als eine »Kategorie Zum Verfahren 3 der bürgerlichen Gesellschaft« [6] untersucht. Vor- bzw. nicht-bürgerliche Öffentlich keitsformen werden von ihm als »illiterat« oder aber als »plebejische Variante« [7] be griffen und aus der Darstellung ausgegrenzt. Die literarische Öffentlichkeit ist für Ha bermas Vorstufe der politischen, wobei deren Unterscheidung bei ihm der Form und nicht der Funktion nach getroffen wird und sein Begriff des Literarischen stark von der bürgerlich-klassischen Kulturtradition geprägt ist. Tatsächlich tritt nicht erst in der Französischen Revolution - wie Habermas meint [8] - eine Öffentlichkeit in Funktion, deren Subjekt nicht die »gebildeten Stände« sind, sondern das »ungebildete Volk« ist. Die Konstituierung bürgerlicher Öffentlichkeit nimmt historisch ihren Anfang in einer Situation, in welcher sich das nicht-öffentliche Kommunikationssystem der im Feudalis mus Herrschenden und eine Öffentlichkeit der unterdrückten Klassen - größtenteils Ple bejer und Bauern - gegenüberstehen. Mit einer exemplarischen Untersuchung der Flug schriftenliteratur kann durch die Einbeziehung der von Habermas als illiterat definierten Öffentlichkeit eine Revision seiner Darstellung geleistet werden. Negt/Kluge [9] begreifen Öffentlichkeit als Organisationsform von Erfahrung, wobei das Interesse ihrer Analyse sich auf Möglichkeiten wirksamer Formen von Gegenöffent lichkeit und Ansätze proletarischer Öffentlichkeit und deren Entwicklung aus den Wi derspruchstendenzen in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft richtet. Der Begriff der proletarischen Öffentlichkeit hat dabei perspektivischen Charakter und deckt sich antizipierend mit dem der Gegenöffentlichkeit. Meine Unter.suchung folgt ihren Überlegungen zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Erfahrung, ohne jedoch vollstän dig ihre Begrifflichkeit übernehmen zu können. Der Begriff des Proletarischen, verstan den als Negation der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft [10], ist historisch erst im entfalteten Kapitalismus verwendbar und an die Entstehung des Proletariats als Klasse gebunden, auch wenn der Begriff'nicht in der soziologischen und polit-ökonomi sehen Bestimmung der Arbeiterklasse aufgeht. Ebensowenig läßt sich für meine Arbeit der Begriff der plebejischen Öffentlichkeit verwenden, weil damit die Organisationsformen für die Erfahrungen der Bauernklasse ausgeschlossen wären. Ich greife somit auf den Begriff der volkstümlichen Öffentlichkeit zurück, auch wenn er in seiner soziologischen Substanz unscharf ist. Er erlaubt aber für politische Literatur geschichtsschreibung die Einbeziehung der Traditionen solcher Klassen, die zwar einen Wandlungsprozeß durchmachten, aber durchweg von politischer und ökonomischer Macht ebenso ausgeschlossen blieben wie vom bürgerlichen Bildungsprivileg. Deren Kommunikations-, Verkehrsformen und Erfahrungen bilden die Strukturen und Inhalte volkstümlicher Öffentlichkeit, die im Medium der Flugschriften eine Form gefunden hat. Volkstümliche Öffentlichkeit ist nicht immer Gegenöffentlichkeit, weil in ihr auch das teilweise deformierte und entfremdete Bewußtsein der von Herrschaft und Selbstbestim mung ausgeschlossene Teile der Bevölkerung zum Ausdruck kommt, auch wenn sie sich objektiv in einem antagonistischen Verhältnis zur jeweils herrschenden befindet. Erst wenn die Inhalte der vom Volk rezipierten Kultur politisiert sind, wenn darin die Interes sen der Unterdrückten als praktische Kritik am Bestehenden organisiert sind, nimmt sie die Funktion von Gegenöffentlichkeit ein, welche allerdings nur in der Form der Gegen produktion historischen Bestand erhalten kann.

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