HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER BAND 107 DIRK VON PETERSDORFF Fliehkräfte der Moderne Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2005 Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Union-Stiftung und der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes. Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15107-2 ISSN 0440-7164 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro- nischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch Inhaltsverzeichnis Einleitung ι 1. Das Ich in der Moderne ι 2. Warum Lyrik? 13 3. Zur Methode 17 4. Zum Aufbau 20 I. Vorläufer und Anreger - Die Subjekt-Debatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 25 1. Nietzsches Experimente 25 1.1 Das unruhige Ich 25 1.2 Modernisierung 26 1.3 Erkenntniskritik 31 1.4 Apologie des Individuellen 32 1.5 Gegen Subjekte und Genies 35 1.6 Der Ironiker 37 1.7 Formen der Ironie 42 1.8 Ironie und Levitation 46 1.9 Freiheitsangst — Kritik der Ironie 48 1.10 Die Negation des Einzelnen 53 2. Zweifel am Ich 58 2.1 Dichter, die verschwinden wollen: Paul Bourget 59 2.2 Der Sommertag der Subjektnegation: Ernst Mach 65 2.3 Die vielen Krawatten des Ich: Hermann Bahr 69 II. Stefan George 75 1. Die Dichtung als Gegenreich mit verschärften Eintrittsbedingungen 75 2. Der einsame Kaiser — Das Frühwerk 82 3. Nur schöne Reste — >Das Jahr der Seele< 91 4. Die Suche nach Mustern im >Teppich des Lebens< 100 5. Das Subjekt gründet einen Staat — >Der Siebente Ring< und >Der Stern des Bundes< 108 5.1 Gegen die negative Freiheit der Moderne 114 5.2 Maximin 115 V 5·3 Der Kreis 121 5.4 Die neue Sprache — Harte Fügung 127 6. Zweifel und Lieder am Ende — >Das Neue Reich< 129 III. Bertolt Brecht 141 1. Das feste Herz — Die religiöse Prägung 141 2. >Bertolt Brechts Hauspostille< — Einheit mit der Natur und Angst in der Natur 151 3. Sozialdarwinismus — >Aus dem Lesebuch für Städtebewohner< . . . 161 4. Ein Mann ist wie der andere - Die Verneinung des Individuellen 172 5. Lob der Partei - Das Ich als Teil des Wir 178 6. >Kleine Rose< — Epilog 191 IV. Gottfried Benn 193 1. >Das moderne Ich< — Zwischen Reflexivität und Mythenwunsch . . 193 2. Die Herkunft und die frühen Prägungen 198 3. Der Mediziner — Das Sezieren der alten Welt 202 4. »Etwas ganz Allgemeines hinter einem schemenhaften Ich« — Subjektkritik in den Essays der zwanziger Jahre 212 5. Zwischen Immanenz und Allgemeintendenz - Die Gedichte der zwanziger Jahre 218 6. Verlust des Ich an das Totale — Texte um 1930 und das Bekenntnis zum Nationalsozialismus 227 7. >Leid der Götter< - Die Gedichte der Jahre 1930—33 236 8. >Das sind doch Menschen< - Epilog 241 V. Johannes R. Becher 245 1. Das leere Herz — Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Freiheitsbegriff 245 2. Der Dandy mit dem Browning - Die Anfänge 247 3. Das Gedicht >Eingang< (1916) als Beispiel für das expressionistische Wahrheitsgemisch 254 4. Differenz-Erfahrung und Harmonie-Forderung 257 5. Das bedrohte Leben 262 6. Zwischen Gott und der Politik — Die Ubergangsjahre 1919—1923 . . 264 7. »Ich legte ab meinen Namen« — Becher als Kommunist 271 8. Der Kampf gegen die Weimarer Republik - Plessner als Gegenfigur 275 9. Der Verlust der ästhetischen Autonomie 283 VI Schluss 291 ι. Gemeinsamkeiten in den untersuchten Lebensläufen und Denkbewegungen — Möglichkeiten der Ausweitung auf die ästhetische Moderne . 291 2. Neuorientierungen im Kanon 297 3. Schwierigkeiten der ästhetischen Theorie mit dem freien Ich .... 301 Literaturverzeichnis 307 Werke 307 Forschungsliteratur 308 VII Einleitung ι. Das Ich in der Moderne Ein kurzes Wochenende mit einigen Besuchen und Gesprächen genügt, um zu sehen, dass es so etwas wie Identität gibt und dass um sie gerungen wird. In den Wohnküchen, auf den Sitzlandschaften und zwischen Antik-Möbeln wird deutlich, dass verschiedene Formen von Selbstbildern nebeneinander bestehen. So stehen dem Einzelnen viele Möglichkeiten offen, sich zu definie- ren: über seine Seele und seine Erfolge, über Gespräche und Kleidung, Tiefe oder Geld. Man muss nicht so tun, als handele es sich bei all dem um eine Erfindung der Moderne. Denn dass der Mensch Selbstreferenz besitzt, über sich nachdenkt und dabei als von den anderen verschieden erfährt, dürfte eine anthropologische Konstante darstellen. Die Literatur verschiedenster Kulturen und Zeiten jedenfalls kennt das Ich und spricht von Selbstfindung und Selbst- verlust. Gleichzeitig unterliegt dieses Ich-Gefuhl aber erheblichen historischen Veränderungen. Größen, über die man sich definiert hat, gehen verloren, und neue Räume, in denen man leben kann, öffnen sich. Um solche historischen Veränderungen wird es in dieser Arbeit gehen. Dabei lässt sich grundsätzlich sagen: Je mehr eine Gesellschaft auf starke Wahrheiten und Vorgaben verzichtet, desto größer werden die Spielräume des Einzelnen, oder, negativ formuliert, seine Schwierigkeiten. Er wird, wie es im Prozess der Modernisierung geschieht, aus einer inhaltlich und struktu- rell relativ festgefugten Ordnung entlassen. Er kann sich nun kaum noch als Sonderfall einer Substanz ansehen, und wenn doch, dann weiß er, dass andere an andere Substanzen glauben. Er befindet sich nicht mehr unter einem alles überwölbenden Dach, sondern hat sein eigenes Dach, das er wahrscheinlich mit anderen teilt, aber womöglich im Laufe des Lebens wechselt. Oder er eilt überhaupt zwischen verschiedenen Dächern hin und her. Gleichzeitig muss das Ich seinem Leben unter diesen Bedingungen ein Selbstverständnis abringen. Denn die Heterogenität der Umwelt und das Lebensgefuhl einer Mischexistenz entlasten ja nicht, wie es in forcierten Theorien erscheinen konnte, von notwendiger Einheit. Auch das ortlos gewordene Individuum benötigt, um lebensfähig zu bleiben, das Gefühl sich wiederzuerkennen. Deshalb wird ja gerungen, finden am Wochenende die Gespräche statt, wo die eine vom heiligen Berg erzählt, die andere aber das Material Girl geblie- ben ist, während Großmutter kaum versteht, wovon eigentlich die Rede ist. ι Wenn die Entstehung und Veränderung von Selbstbildern am Beispiel meh- rerer moderner Lyriker betrachtet werden soll, mag das innerhalb der Litera- turwissenschaft zunächst seltsam erscheinen. Denn als gesichertes Wissen gilt, dass die moderne Lyrik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ich negiert hat, dass Subjektivität in ihr allenfalls deformiert erscheint: Das lyri- sche Ich ist anachronistisch geworden. Durchgesetzt hat sich diese Sichtweise mit Hugo Friedrichs Werk zur modernen Lyrik, wo von einem Prozess der »Enthumanisierung« die Rede ist, dem ein geschichtlicher Zwang zugespro- chen wird, und wo es heißt: »Zu niemandem redend, monologisch also, mit keinem Wort um den Hörer werbend, scheint sie [die moderne Lyrik] mit einer Stimme zu sprechen, fur die es keinen faßbaren Träger gibt, vor allem dort, wo selbst das imaginierte Ich einer ichlosen Aussage gewichen ist.«' Wenn man allerdings, wie es hier geschehen soll, davon ausgeht, dass auch unter den Bedingungen der Moderne Subjekt-Identität erhalten bleibt, dann ergibt sich eine neue Sichtweise auf die moderne Lyrik. Ihre Behauptung vom Verschwin- den des Ich wird man nicht mehr als unumstößliche Aussage ansehen, sondern als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen von Subjektivität. In der Welt der Vielheit, in der man auf seine Fragen die Ant- wort erhält: >Das musst Du selber wissen<, scheint es kein Fundament mehr zu geben, auf dem das Ich bauen könnte. Davon spricht die Literatur. Aber sie formuliert eben nicht nur ihre Zweifel an moderner Identität, und sie kämpft auch nur selten um den Bestand des Einzelnen. Vielmehr beschreibt sie mit der Durchstreichung des Ich Lebensformen, in denen man der Notwendigkeit, singular zu existieren, enthoben ist. Brecht zum Beispiel spricht in dieser Weise zunächst von der Natur und dann von der Partei. Das Ich möchte sich wieder als ein Teil erfahren, seiner Begrenztheit und Vorläufigkeit entkommen. Statt die Behauptung vom Obsoletwerden des Ich zu verdoppeln, wird der nachge- borene Interpret also fragen: Wohin ist das Ich verschwunden? In einer solchen Betrachtung rückt die Literatur in größere historische Zusammenhänge. Denn auch in anderen kulturellen Bereichen wie der Phi- losophie und Pädagogik, vor allem aber in der Politik, äußerte sich seit dem späten 19. Jahrhundert ein starker Zweifel an den Möglichkeiten eines selbst zu gestaltenden Lebens. An verschiedenen Stellen wird »die Einbindung des subjektiven Lebens in vorsubjektive und anonyme Wirklichkeiten« postu- liert.2 In die Position des Allgemeinen werden die Geschichte, die Natur, eine bestimmte Gesellschaftsordnung, der Kulturkreis oder die Sprache gebracht. Solche Behauptungen von Abhängigkeit sind nicht einfach von der Hand zu weisen, denn natürlich existiert der Einzelne in derartigen Zusammenhängen. 1 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. 10. Auflage. Hamburg 1981, S. 37; 70. 2 Dieter Henrich: Inflation in Subjektivität? Merkur 52 (1998), S. 46-J4, hier S. 52. 2