Feindbild und Vorbild Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge) beiheft 74 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin Ivan Jordović, Uwe Walter (Hrsg.) Feindbild und Vorbild Die athenische Demokratie und ihre intellektuellen Gegner Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Library of Congress Control Number: 2018951308 © 2018 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston www.degruyter.com Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen diesen Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din/iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-060507-5 e-isbn (pdf) 978-3-11-060838-0 e-isbn (epub) 978-3-11-060561-7 Inhalt Vorwort // Ivan Jordović und Uwe Walter _____ 7 Vom Feind lernen. Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4. Jahrhundert // Ivan Jordović und Uwe Walter _____ 9 Selbstbeschreibungen der Demokratie bei attischen Rednern // Claudia Tiersch _____ 45 Innere Kritiker und welche Umwelt? Intellektuelle zwischen Dissi- denz und Systemstabilisierung im Athen des 4. Jahrhunderts // Thomas Blank _____ 73 Demokratisches Entscheiden und antidemokratische Ideologie im klassischen Athen // Marian Nebelin _____ 109 Die Erklärung eines Paradoxes. Pseudo-Xenophons Auseinanderset- zung mit demokratischer Praxis und Ideologie // Kurt A. Raaflaub _____ 153 Platons Kritik des demokratischen Konzepts der Freiheit zu tun, was man will // Ivan Jordović _____ 183 Götterkult und Göttervorstellung in Platons „Nomoi“ // Kai Trampedach _____ 209 (K)ein lupenreiner Demokrat? Überlegungen zur Erziehung des „guten Bürgers“ in Xenophons Kyrupädie // Sven Günther _____ 229 Demokratische Implikationen in der „Politik“ des Aristoteles // Karen Piepenbrink _____ 249 Totalitäre Demokratie. Eine Spurenlese zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz // Egon Flaig _____ 269 Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg // Hans-Christof Kraus _____ 311 Die Autorinnen und Autoren _____ 329 Abkürzungen und Siglen _____ 333 Register _____ 335 1. Antike Personen und anonyme Texte _____ 335 2. Moderne Personen _____ 336 3. Begriffe und Sachen _____ 337 4. Stellen _____ 340 Vorwort Der hier vorgelegte Band geht auf ein Kolloquium zurück, das Ende August 2016 an der Universität Bielefeld stattfand. Die inhaltliche Kohärenz der Vorträge und die lebhaften Diskussionen haben uns ermutigt, die erweiterten und mit Dokumenta- tionen versehenen Beiträge in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Debatte zu stellen. Da die zeitgenössische Demokratie zuletzt wieder stärker unter Druck ge- kommen ist, wobei der sogenannte Populismus nicht einfach als Angriff von außen abgetan werden kann, erscheint es uns plausibel, den Zusammenhang von demokra- tischer Praxis und Ideologie mit den intellektuellen Angriffen auf beide am Beispiel der griechischen Antike zu untersuchen, dabei aber auch einen Brückenschlag in die Neuzeit und das 20. Jahrhundert zu versuchen. Claudia Tiersch und Egon Flaig sind bereitwillig unserer Bitte nachgekommen, den Strauß der aus den Vorträgen erwachsenen Aufsätze nachträglich zu berei- chern; für die Bereitschaft, sich auf unseren Denkanstoß produktiv einzulassen, sind wir ihnen und den am Kolloquium beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr ver- bunden. Andreas Fahrmeir und Hartmut Leppin haben als Herausgeber der HZ den Band in die Beihefte aufgenommen; Jürgen Müller und Eckhardt Treichel haben das Manuskript mit gewohnter Sorgfalt und zugleich zügig redaktionell bearbeitet, da- bei viele Mängel ausgebügelt. Ihnen allen danken wir sehr herzlich. Ivan Jordović / Uwe Walter https://doi.org/10.1515/9783110608380-001 7 Vom Feind lernen Der Einfluss der demokratischen Ideologie auf das antidemokratische Denken im 5. und 4.Jahrhundert von Ivan Jordović und Uwe Walter I. Nur wer sich ändert, kann sich gleichbleiben – die athe- nische Demokratie nach dem Peloponnesischen Krieg In der Geschichte gibt es immer wieder einmal Wunder, die kaum jemand be- merkt. Zu ihnen gehört das Überleben der athenischen Demokratie nach der Dop- pelkatastrophe der totalen militärischen Niederlage gegen Sparta im April 4041 und der Spaltung der Polis, wie sie sich in der achtmonatigen, blutigen Herrschaft der Dreißig, sodann dem anschließenden kurzen Bürgerkrieg sowie der folgenden for- malen Teilung der Bürgerschaft in zwei Gemeinden manifestierte. Der Sonderstaat der Oligarchen in Eleusis bestand immerhin von 403 bis 401. Wie tief die in dieser Zeit geschlagenen Wunden waren, zeigt paradoxerweise gerade die unter spartani- schem Druck im Spätsommer 403 beschlossene und 401 erneuerte, bis dahin in einer solchen Stasiskonstellation einzigartige Amnestie.2 Sie wirkte formal zweifel- los befriedend, doch die aus dem Terror der Dreißig erwachsenen „Haßgefühle gegen Gegner oder vermeintliche Feinde der Demokratie ließen sich […] nicht problemlos 1 Als Teil des Wunders hat angesichts der gemeinsamen Grenze mit Boiotien auch die territoriale Inte- grität Attikas zu gelten. – Alle Jahres- und Jahrhundertzahlen in diesem Band verstehen sich „v.Chr.“; selbstverständlich sind mit „19.Jahrhundert“ usw. aber neuzeitliche Epochen gemeint. Die Abkürzungen der antiken Autoren folgen den Vorgaben in „Der Neue Pauly“, daher firmiert etwa die pseudo-xenophon- tische „Athenaion Politeia“ unter Xen., das in der Autorschaft strittige Gegenstück aus dem Peripatos unter Aristoteles. 2 Dazu etwWa ilfried Nippel , Bürgerkrieg und Amnestie 411–403, in: Gary Smith/Avishai Margalit (Hrsg.), Amnestie oder: Die Politik der Erinnerung in der Demokratie. Frankfurt am Main 1997, 103–119; ferner Egon Flaig, Amnestie und Amnesie in der griechischen Kultur. Das vergessene Selbstopfer für den Sieg im athenischen Bürgerkrieg 403, in: Saeculum 42, 129–149, und Antonio Natalicchio, „Μὴ μνησικα- κεῖν“: l’amnistia, in: Salvatore Settis (Ed.), I Greci. Storia, cultura, arte, società. Vol.2: Una storia greca: II De- finizione (VI–IV secolo a.C.). Turin 1997, 1305–1322. – Weiter gespannt ist die Studie zu den Reaktionen der Athener auf 411 und 404/03 von Julia L. Shear, Polis and Revolution. Responding to Oligarchy in Clas- sical Athens. Cambridge 2011. https://doi.org/10.1515/9783110608380-002 9 überdecken“.3 Wie schwer es war, im Alltag der wiederhergestellten Demokratie die Vergangenheit ruhen zu lassen, spiegelt sich in den zahlreichen Prozessen, in denen immer wieder das Verhalten bestimmter Bürger während der Schreckenszeit eine Rolle spielte, sowie in der Handhabung der Dokimasie der Magistrate. Wie die Forschung längst herausgearbeitet hat, kann die Geschichte Athens und der athenischen Demokratie im 4.Jahrhundert4 keineswegs als Prozess der Erstar- rung, des Verfalls und der nachlassenden Dynamik gelesen werden5; dagegen spre- chen schon der weiterhin – mindestens bis zum Bundesgenossenkrieg in den 350er- Jahren – wirksame „ghost of empire“ (Ernst Badian) sowie die erhebliche institutio- nelle Phantasie, welche die Athener in den Bereichen politische Willensbildung, ‚Verfassungsschutz‘ und Finanzverwaltung an den Tag legten. Die demokratische Ordnung Athens erwies sich in der Folgezeit als so tief eingewurzelt, dass sie auch ohne die Geldzuflüsse aus dem hegemonialen Seebund und selbst nach erneuten einschneidenden militärisch-außenpolitischen Niederlagen (355, 338 und 322) von innen nicht mehr herausgefordert wurde. Ob angesichts der bekannten institutio- nellen Veränderungen6 die demokratische Ordnung des 4.Jahrhunderts eine „neue“, eine qualitativ andere war als die des 5.Jahrhunderts, wie nicht zuletzt Mogens H. Hansen meinte, oder ob man mit Jochen Bleicken von einer „Einheit der atheni- 3 Karl-Wilhelm Welwei, Das Klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4.Jahrhundert. Darmstadt 1999, 256. Vgl. auch den Beitrag von Claudia Tiersch in diesem Band. 4 Eine eingehende Darstellung der Jahre 415 bis 395 bietet Mark Munn, The School of History. Athens in the Age of Socrates. Berkeley u.a. 2000. 5 Epochemachend wirkte der Tagungsband von Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Stuttgart 1995; vgl. ferner den Überblick von Gustav-Adolf Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen. (Nordrhein-Westfälische Aka- demie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften. Vorträge, G 346.) Opladen 1997, 86–121 („Die attische Demokratie des 4.Jahrhunderts – Krisen, Dekadenz oder Vollendung des politischen Systems?“), sowie jetzt den Band von Claudia Tiersch (Hrsg.), Die Athenische Demokratie im 4.Jahrhundert. Zwischen Moder- nisierung und Tradition. Stuttgart 2016, in dem mit Konzepten wie Modernisierung und Ausdifferenzie- rung operiert wird. 6 Gemeint sind damit in erster Linie die Revision des Gesetzesbestandes (bereits 410 in Angriff genom- men), die Trennung zwischen höherrangigen nomoi und situativ geltenden psephismata sowie das darauf aufbauende Gesetzgebungsverfahren und der Mechanismus zur Anfechtung und Aufhebung von Volks- beschlüssen durch die graphê paranomôn. Einen guten Überblick geben Dorothea Haßkamp, Oligarchische Willkür – demokratische Ordnung. Zur athenischen Verfassung im 4.Jh. v.Chr. Darmstadt 2005, sowie jetzt Peter Rhodes, Forth-Century Appointments in Athens, in: Tiersch (Hrsg.), Athenische Demokratie (wie Anm.5); vgl. Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie. 4. überarb.Aufl. Paderborn u.a. 1995 (utb-Ausga- be), 65, 403f. u. passim, sowie anschaulich Munn, School (wie Anm.4), 247–272. 10 Historische Zeitschrift // BEIHEFT 74 / 2018