Bruno Hildenbrand Fallrekonstruktive Familienforschung Qualitative Sozialforschung Herausgegeben von Ralf Bohnsack Christian Luders J 0 Reichertz Band 6 Bruno Hildenbrand Fa llrekonstrukti ve Familienforschung Anleitungen fUr die Praxis Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Gedruckt auf saurefreiem und altersbestandigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hildenbrand, Bruno: Fallrekonstruktive Farnilienforschung : Anleitungen fur die Praxis / Bruno Hildenbrand. - Opladen : Leske und Budrich, 1999 (Qualitative Sozialforschung ; Bd. 6) ISBN 978-3-322-97439-6 ISBN 978-3-322-97438-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97438-9 © 1999 Springer Fachmedien Wiesbaden Urspriinglich erschienen bei Leske + Budrich 1999 Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschUtzt. Jede VelWertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des VerJages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur VervielfaItigungen, Obersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis Einleitung ....................................................................................................... 9 Kapitel I Fallrekonstruktive Familienforschung: Begriffliche KHirungen .................... 11 1. Vorbemerkung ........................................................................................ 11 2. Zum Begriff "Familie": Familie als Ort sozialisatorischer Interaktion; Familie als Milieu .......... 11 3. Methodologische Grundbegriffe ............................................................. 12 Kapitel II Die Praxis der fallrekonstruktiven Familienforschung: Ablauf einer Fallrekonstruktion .................................................................. 15 1. Ubersicht tiber den Ablauf einer Fallstudie .......................................... 15 2. Vorbereitungen einer Fallstudie ........................................................... 18 a) Festlegung der Fragestellung ............................................................ 18 b) Auswahl des Falles...... .................... ...................... ........ ................... 19 c) Erste Kontakte mit der Familie, die untersucht werden solI ............. 21 d) Erste Interaktionen im Feld: Voruberlegungen ................................ 22 3. Beobachtungen, Beobachtungsprotokolle und deren Analyse .............. 24 a) Beobachtungen und deren Protokollierung ...................................... 24 b) Analyse von Beobachungsprotokollen ............................................. 24 4. Das familiengeschichtliche Gespdich 1................................................. 28 a) Zum Stellenwert des familiengeschichtlichen Erzahlens in der fallrekonstruktiven Familienforschung................................... 28 b) Erheben und Verschriften.................... ...................................... ....... 29 c) Analyse der "objektiven Daten" (Genogrammanalyse) .................... 32 5 5. Analytische Zwischenbilanz: Memos schreiben ................................... 40 a) Zum Stellenwert von Memos in einer Fallstudie .............................. 40 b) Erste Memos in der Familienstudie Dittrich. ............. .................. ..... 41 6. Das familiengeschichtliche Gesprlich II . ............. ........................... ...... 46 a) Analyse der Eingangssequenz ......................................................... 46 b) Thematische Analysen ..................................................................... 53 7. Dokumentenanalyse....... .................... ............... ......... ............... ............ 56 8. AbschlieBende Integration einer Fallstrukturhypothese und Schreiben einer Fallmonographie ........ ......... ........... ................ ...... 60 Kapitel III Die Stellung einer Familienstudie im ForschungsprozeB: Fallrekonstruktion und Fallkontrastierung .. ........... ..... ............... ........ ......... 65 1. Von der Fallrekonstruktion zur Fallkontrastierung: Theoretical Sampling von Fall zu Fall.................................................. 65 2. Die Leistungsflihigkeit des fallrekonstruktiven Ansatzes fUr die soziologische Theoriebildung ... ........... .......................... ........... 71 Kapitel IV Ethik in der fallrekonstruktiven Familienforschung .................................... 75 Kapitel V Schliisseltexte zur fallrekonstruktiven Familienforschung: eine kommentierte Liste ... ......... ............. .................. ........... .................. ...... 81 Abbildungen und Tabellen........................................................................... 85 Literatur.... .................................. .............. ........... .................... .......... .......... 87 Namenregister .. ........ .... .... .................... ....... ........................ ........................ 92 Sachregister................................................................................................. 94 6 1m allgemeinen kann man sagen, daB die Aufweichung bei der Unterweisung in jeglicher Kunst folgendermaBen vor sich geht: 1. Ein Meister erfindet eine Vorrichtung oder ein Verfahren, das einen be sonderen Zweck oder eine begrenzte Reihe von Zwecken erfiillt. SchUler eignen sich das Verfahren an. Die meisten gehen nicht so ge wandt damit urn wie der Meister. Das nachste Genie mag es verbessern oder verwirft es, urn etwas anderes, das fUr seine Zwecke geeigneter ist, an dessen Stelle zu setzen. 2. Dann kommt ein Flachkopf von Padagoge oder Theoretiker und erkliirt das Verfahren zum Gesetz oder zur Regel. 3. Dann wird eine Btirokratie gegrtindet, und das spatzenhirnige Sekretariat fallt tiber jedes neue Genie und jede Form der Findigkeit her, weil sie dem Gesetz nicht Folge leisten, und weil sie etwas wahrnehmen, was dem Sekretariat entgeht. Ezra Pound 7 Einleitung Marcel Mauss hat zustimmend einen bosen Satz uberliefert: "Die, die eine Wissenschaft nicht betreiben konnen, schreiben ihre Geschichte, diskutieren ihre Methode oder kritisieren ihre Geltungsansprtiche" (Mauss 1978, S. 147). Ich hatte das Gluck, daB meine wichtigsten Lehrer in qualitativer Sozial forschung erst dann begannen, eine Methodologie zu entwickeln, nachdem sie sich in empirischen Untersuchungen die erforderliche Forschungserfah rung angeeignet und damit ihre Forschungskompetenz erwiesen hatten. Ais ein weiterer glticklicher Umstand kam hinzu, daB jeder dieser Lehrer flir eine eigene Tradition qualitativer Sozialforschung steht bzw. eine solche begrtin det hat. Zunachst ist Aaron V. Cicourel zu nennen, der an der phanomenologi schen Tradition der qualitativen Sozialforschung orientiert ist. Dann Anselm Strauss. Sein Paradigma ist das des Symbolischen Interaktionismus; zusam men mit Barney Glaser hat er die Grounded Theory begrundet und kontinu ierlich weiterentwickelt. Es war Richard Grathoff, der Mitte der 70er Jahre Cicourel und Strauss an das Sozialwissenschaftliche Archiv der Universitat Konstanz geholt hat, wo sie uns die notige Starthilfe bei unseren Untersu chungen uber "Soziale Relevanz und biographische Struktur" (initiiert von Thomas Luckmann und Richard Grathoff) gaben. Grathoff selbst steht fur die sozialphanomenologische Tradition der Milieuforschung in der Nachfolge von Aron Gurwitsch und Maurice Merleau-Ponty. SchlieBlich ist Ulrich Oevermann zu erwahnen, des sen Objektive Her meneutik im wesentlichen dem genetischen Strukturalismus verpflichtet ist und der mitunter die Phanomenologie scharf kritisiert - ein Umstand, an dem sich ablesen laBt, daB es sich dabei flir Oevermann urn eine Richtung handelt, die es zumindest wert ist, daB man sich mit ihr auseinandersetzt. Von Lehrern aus einerseits unterschiedlichen, andererseits aber auch ver wandten methodologischen Orientierungen angeregt, mehr noch, gleicher maBen gepragt zu werden bedeutet zum einen (negativ gewendet), den Vor wurf des Eklektizismus auf sich zu ziehen, zum anderen (positiv gewendet), ein distanziertes Verhaltnis zur Verpflichtung auf eine Schule zu gewinnen. Gerade in letzterem liegen unabweisbare Vorteile. Sie bestehen darin, sich weniger mit fruchtlosen Schulenstreitigkeiten auseinandersetzen zu mussen 9 und dadurch Zeit zu gewinnen fUr das, worum es in der Soziologie im Kern geht: urn ein wissenschaftliches VersHindnis von sozialem Handeln und so zialen Strukturen. Die Kehrseite soll jedoch nicht verschwiegen werden. Aus vielen Quel len zu schOpfen kann dazu verftihren, die methodologischen Differenzen zwischen diesen drei Traditionen der qualitativen Sozialforschung urn der Pragmatik des Forschungsprozesses willen einzuebnen. Offen gestanden: Wenn es an einem in der Diskussion urn die qualitative Sozialforschung (vor allem im deutschsprachigen Raum) nicht mangelt, dann sind es die zahlreichen theoretischen Begriindungsversuche, oft unternom men von Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht in gleichem MaBe, wie sie sich urn Methodologie bemtihten, in der empirischen Forschung engagiert haben (womit wir wieder bei Mauss waren). In der GewiBheit, daB es an Begrtindungen auch in Zukunft nicht fehlen wird, werde ich mich in diesem Buch so weit wie moglich auf die Praxis der qualitativen Sozialforschung, insbesondere nattirlich auf die fallrekonstrukti ve Familienforschung, konzentrieren. AbschlieBend einige Wo rte des Dankes. Zu Dank bin ich nicht nur den genannten Lehrern verpflichtet, sondern auch Jorg R. Bergmann, dem Be gleiter und heftigen Diskutant meiner ersten Forschungserfahrungen, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Forschungsprojekten, die die sen folgten. Allen voran ist Karl Friedrich Bohler zu erwrumen. Des weiteren danke ich den kritischen Leserinnen und Lesern des Manu skripts: Michael B. Buchholz, Gudrun DreBel, Hans-Joachim Giegel, Doris Kaupa und Hannes Ummel. Und schlieBlich danke ich den Nutzerinnen und Nutzern sozialwissenschaft lichen Wissens, die mich kollegial und freundschaftlich, aber dezidiert dazu gebracht haben, meine Texte so zu formulieren, daB sie tiber einen engen So ziologenkreis hinaus zu benutzen sind. Von ihrem praktischen, aber theorie gesattigten Blick habe ich viel profitiert - hier denke ich in erster Linie an Rosmarie Welter-Enderlin. 10 I. Fallrekonstruktive Familienforschung: Begriffliche KHirungen 1. Vorbernerkung Dieses Buch will Anleitungen fUr die Praxis fallrekonstruktiver Farnilienfor schung geben. Fiir grundlagentheoretische und methodologische Erorterun gen ist hier nicht der Ort. Jedoch miissen Begriffe eingefiihrt und definiert werden. Dies solI in diesem Kapitel erfolgen. Urn Ihnen zu erleichtern, sich mit den Grundlagen fallrekonstruktiver Fa milienforschung vertraut zu machen (wozu ich dringend rate), habe ich die sem Buch eine kommentierte Liste von Schliisseltexten der fallrekonstrukti yen Familienforschung beigegeben (vgl. Kap. V). 2. Zurn Begriff "Farnilie": Familie als Ort sozialisatorischer Interaktion; Farnilie als Milieu Auf einer Tagung wird die Farnilie eines Drogenabhiingigen vorgestellt. Die ser Drogenabhiingige ist das mittlere Kind in einer Reihe von drei Geschwi stern, vor ihm kommt eine Schwester, nach ihm ein Bruder. Die Eltern sind Schweizer, der GroBvater viiterlicherseits ist vor dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz eingewandert, die Mutter ist die Tochter einer unehelich gebore nen und korperbehinderten Frau, die als Pflegekind in einer Farnilie aufge wachsen ist und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz karn. In der Diskussion dieser Familie lenkt ein Teilnehmer die Aufmerksarnkeit auf die Position des Drogenabhiingigen im Geschwistersystem und stellt die Hypo these auf, daB dieser von den Eltern als Altester nicht anerkannt worden sei. Ein anderer Teilnehmer stellt die Uberlegung an, daB beide Eltern in ihren Herkunftsfamilien mit dem Farnilienthema sozialer Desintegration konfron tiert gewesen seien und daB dieses Thema eine bedeutsarne Rolle in der Kindheit des Sohnes gespielt habe. Hier treffen zwei Perspektiven der soziologischen Betrachtung von Fa milie aufeinander. In der einen Perspektivel wird die Farnilie als ein Zusarn menhang interagierender Personen betrachtet, der durch zwei widerspriichli- Dies ist die strukturale Perspektive. 1m folgenden Text taucht sie unter dem Stichwort der Objektiven Hermeneutik auf. 11