Bildung und Arbeit Herausgegeben im Institut für Berufs- und Weiterbildung der Universität Duisburg-Essen von U. Bauer A. Bolder H. Bremer R. Dobischat G. Kutscha Herausgegeben von Prof. Dr. Ullrich Bauer, Dr. Axel Bolder, Prof. Dr. Helmut Bremer, Prof. Dr. Rolf Dobischat, Prof. em. Dr. Günter Kutscha, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Ullrich Bauer • Axel Bolder Helmut Bremer • Rolf Dobischat Günter Kutscha (Hrsg.) Expansive Bildungs- politik – Expansive Bildung? Herausgeber Ullrich Bauer Axel Bolder Helmut Bremer Rolf Dobischat Günter Kutscha Duisburg-Essen, Deutschland ISBN 978-3-658-06668-0 ISBN 978-3-658-06669-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-06669-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt Einleitung Ullrich Bauer, Axel Bolder, Helmut Bremer, Rolf Dobischat, Günter Kutscha Bildungsexpansion zwischen Emanzipationsanspruch, staatlicher Reformpolitik und Hegemonie des Marktes: Widersprüche im Prozess der Re-Strukturierung der Klassengesellschaft ......... 9 Bildungsexpansion und Chancengleichheit in einem neuen Sozialstaatsregime Ingrid Lisop Bildungspolitische Reformkonzepte im Paradoxien-Netz ................................ 37 Jürgen Gerdes Von sozialer Gerechtigkeit zu Teilhabe- und Chancengerechtigkeit. Neoliberale Diskursstrategien und deren postdemokratische Konsequenzen ... 61 Bettina Kohlrausch Das Verhältnis von Bildungs- und Sozialpolitik im investiven Sozialstaat ...... 89 Expansion und Selektion: Kontinuität im Wandel Wolfgang Böttcher, Nina Hogrebe, Rolf Strietholt Frühe Hilfen und Frühe Bildung: Chancen zur Reduktion von Chancenungleichheit? ....................................... 107 Klaus Klemm Neuere Schulentwicklung und soziale Ungleichheit – Versuch einer Zwischenbilanz ........................................................................ 127 Andrä Wolter Studiennachfrage, Absolventenverbleib und Fachkräftediskurs – Wohin steuert die Hochschulentwicklung in Deutschland? ............................ 145 Olaf Groh-Samberg, Henning Lohmann Soziale Ausgrenzung von Geringqualifizierten: Entwicklungen der materiellen, kulturellen und politischen Teilhabe ............ 173 6 Inhalt Robert Helmrich, Gerd Zika „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“. Langfristige Auswirkungen veränderten Bildungs- und Beschäftigungsverhaltens auf dem Arbeitsmarkt ..................................................................................... 195 Wulf Hopf Bildungsexpansion und der Wandel des Regimes sozialer Selektion ............. 217 Michael Vester Bildungsprivilegien unter Druck. Die ständische Bildungsordnung und ihre Herausforderung durch aktivere Bildungsstrategien der Milieus ..... 243 Klassiktexte Theodor W. Adorno Theorie der Halbbildung ................................................................................. 269 Ludwig v. Friedeburg Bildungsreform in Deutschland ...................................................................... 281 Chance und Widerstand: Der subjektive Faktor Albert Scherr Unwahrscheinliche Bildungsprozesse. Über die Grenzen reproduktionstheoretischer Erklärungsansätze und den Erkenntnisgewinn soziologischer Subjekttheorien in der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung ......................................... 291 Werner Helsper, Merle Hummrich, Rolf Kramer Schülerhabitus und Schulkultur – Inklusion, inkludierte Fremdheit und Exklusion am Beispiel exklusiver Schulen .......... 311 Ulrike Rosa Bracker, Peter Faulstich Weiterbildungsbeteiligung – Bedingungen und Begründungen doppelter Selektivität ................................. 335 Daniela Holzer Widerstand gegen (Weiter-)Bildung als solidarische Praxis? Zwischen Heroisierungen, begrifflichen Missverständnissen und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten ................................................... 357 Inhalt 7 Klaus Dörre Fragmentiertes Klassenbewusstsein? Zur subjektiven Dimension kapitalistischer Landnahmen .............................. 377 Perspektiven Oskar Negt Arbeit, Bildung und menschliche Würde ........................................................ 401 Wolfgang Lempert Verantwortliches Wirtschaften contra Homo oeconomicus – Ein Traktat aus politisch-moralischer und wissenschaftspolitischer Sicht ..... 413 Uwe H. Bittlingmayer Wissensökonomie und der Wert der Bildung ................................................. 435 Rück- und Vorschau ..................................................................................... 455 Bildungsexpansion zwischen Emanzipationsanspruch, staatlicher Reformpolitik und Hegemonie des Marktes: Widersprüche im Prozess der Re-Strukturierung der Klassengesellschaft Die Zeiten ändern sich – und mit ihnen auch das Denken über Sinn, Zweck, Inhalt und Form von Bildungsprozessen und darüber, wem welche Bildung zu- teilwerden soll. In diesen trüben Herbsttagen des Jahres 2013 scheint der Schock der Finanzkrise, nachdem noch nicht einmal ein halbes Jahrzehnt vergangen ist, an den Predigern der Restrukturierung eines durch „Sozialromantik“ nicht länger domestizierten Kapitalismus längst vorbeigezogen zu sein. „Das Erschrecken vor der Zerstörungskraft unkontrollierter Märkte war gestern“, schließt der Redak- teur eines unverdächtigen westdeutschen Blattes seinen Kommentar zum Herbst- gutachten der „so genannten Wirtschaftsweisen“, die „Gegen eine rückwärtsge- wandte Wirtschaftspolitik“ polemisiert hatten. Deren grundsätzlich neoliberale Ausrichtung sei zwar nichts Neues, wohl aber die Radikalisierung ihrer Argu- mentation. Darauf hoffen zu können, dass solcherart radikalisiertes Argumentie- ren auf „fruchtbaren“ Boden fällt, belegt es: Das Denken ändert sich. Wenn die bestellten Gutachter von „Rückwärtsgewandtheit“ reden, dann meinen sie die Erinnerung an die Versuche im „sozialdemokratischen“ 20. Jahr- hundert, die Märkte durch sozialverpflichtete Politik zu bändigen; in Deutsch- land war das Sozialstaatsgebot 1948/49 ins Grundgesetz geschrieben worden. Sie meinen die Erinnerung an, den Rückwärts-Blick auf ein Postulat, das dem Den- ken seit der Aufklärung als progressiv galt, als vorwärtsgewandt eben, ihm „sei- ne Richtung“ gab. Offensichtlich leben wir nun, nach der Okkupation der Le- benswelten, in einer Phase der Okkupation der Begriffe. Zwangsläufig und selbstverständlich bleibt ein solche Radikalisierung des ökonomischen Regimes nicht ohne Auswirkungen auf Strukturen und Inhalte jenes gesellschaftlichen Produktionsbereiches, der den Protagonisten – und längst nicht mehr nur ihnen – lediglich als Zulieferbranche gilt: des Bildungssys- tems als input-Fabrik der für die Profitproduktion für nötig erachteten Qualifika- tionen und Kompetenzen und auf die in ihm Tätigen und Lernenden. Strukturen, Ziele und Akteurskonstellationen unterliegen einem epochalen Wandel, sie ero- dieren und restrukturieren sich ebenso wie der im zweiten Band unserer Reihe diskutierte Normallebenslauf – und werden wie er auf die neuen „Erfordernisse“, besser wohl: privaten Gewinnrealisierungsphantasien ihrer (Ver-)Nutzer, zuge- schnitten. U. Bauer et al. (Hrsg.), Expansive Bildungspolitik – Expansive Bildung?, Bildung und Arbeit, DOI 10.1007/978-3-658-06669-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 10 Herausgeber Von diesen Strategien und den noch disparaten Prozessen der Re-Strukturierung der Klassengesellschaft handelt dieser vierte Band der Reihe „Bildung und Ar- beit“. Das Besondere, Neue an ihnen zu erkennen, erscheint es uns sinnvoll, den Blick zunächst einmal tatsächlich nach rückwärts zu wenden, uns in Erinnerung zu rufen, was „vorher“ anders war. Bildungssystem und Bildungspolitik in Deutschland - Rückblick Die Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland ist eng verbunden mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Als prototypisches Beispiel kann die Bildungsreform in Preußen angeführt werden. Zentrale Kategorien, mit denen das neu-humanistische Bildungskonzept zu An- fang des 19. Jahrhunderts begründet wurde, waren der mündige Staatsbürger, Nation und Öffentlichkeit – also Gegenkonzepte zu der damals in Deutschland noch vorherrschenden ständischen Ordnung, der Vielstaaterei und der Beschrän- kung des Zugangs zu sozialer und politischer Teilhabe. Strebten die neu-humanistischen Bildungsreformer programmatisch allge- meine Bildung der „ganzen Nation“, unabhängig von der sozialen Herkunft der Heranwachsenden, an, so wurden bei der Umsetzung dieses Programms und sei- ner Engführung auf die funktionale Verkopplung der „allgemeinen“ Bildung mit dem staatlichen Berechtigungswesen Leistungen der Lernenden auf einheitliche Anforderungen hin konditioniert. Die sozial enorm unterschiedlichen Vorausset- zungen der Schüler nicht in die Konzeption einzubeziehen, musste aber, wohl eher gegen die Intentionen der Reformer, bei formal gleichen Bedingungen zwangsläufig soziale Benachteiligung zur Folge haben. Die materiale Normie- rung der Lehrpläne nach den Prinzipien neu-humanistischer Bildungstheorie und die später folgende restriktive Verbindung von allgemeinem Bildungskanon, allgemeiner Hochschulreife und Studienberechtigung haben den Differenzie- rungsprozess des allgemeinen, dreigliedrig versäulten Schulwesens und die Tren- nung von allgemeiner und beruflicher Bildung in Deutschland nachhaltig for- ciert. Nutznießer war das so genannte Bildungsbürgertum, waren insbesondere also die Milieus der akademischen Berufe. Verlor die Ständegesellschaft während des 19. Jahrhunderts auch durch die Bildungsreformen zunehmend an Bedeutung, so nicht das Prinzip der sozial dif- ferentiellen Allokation. Diese Grundstruktur des gegliederten Bildungssystems blieb über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und das Kriegs- ende 1945 hinaus erhalten und hatte nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin Bestand. Mit der Restauration seiner traditionellen Struk-