Exilforschung Band 40 Exilforschung Ein internationales Jahrbuch Im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung/ Society for Exile Studies herausgegeben von Bettina Bannasch, Doerte Bischoff und Burcu Dogramaci Band 40/2022 Exil, Flucht, Migration Konfligierende Begriffe, vernetzte Diskurse? Herausgegeben von Bettina Bannasch, Doerte Bischoff und Burcu Dogramaci Redaktion der Beiträge/Volume Editors: Prof. Dr. Bettina Bannasch Universität Augsburg Institut für Germanistik Universitätsstr. 10 86159 Augsburg [email protected] Prof. Dr. Doerte Bischoff Universität Hamburg Institut für Germanistik Überseering 35 22297 Hamburg [email protected] Prof. Dr. Burcu Dogramaci Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Kunstgeschichte Zentnerstr. 31 80798 München [email protected] Rezensionen: Prof. Dr. Burcu Dogramaci Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Kunstgeschichte Zentnerstr. 31 80798 München [email protected] ISBN 978-3-11-077084-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077099-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077106-0 ISSN 0175-3347 Library of Congress Control Number: 20222941294 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Claas Möller. Zeichnung nach der Fotografie von Abraham Pisarek (1935), Wohin? (Igna Beth, Schauspielerin des Jüdischen Kulturbundes in Berlin, vor einem Globus). Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt Exil, Flucht, Migration: Konfligierende Begriffe – Vernetzte Diskurse? Einleitung (Bettina Bannasch, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci) 1 Asyl (Susanne Gödde) 15 Diaspora (Anja Bandau) 26 Displacement und Displaced Persons (Sebastian Huhn, Christoph Rass) 38 Elend (Steffan Davies) 50 Entwurzelung (Fabian Bauer) 62 Flucht und Flüchtlinge (Andreas Kossert) 72 Flucht und Vertreibung in Literatur und Literaturwissenschaft (Friederike Eigler) 83 Galut (Alfred Bodenheimer) 95 Grenzregime und Exil (Sabine Hess) 104 Kosmopolitismus und Exil (Sandra Narloch) 114 Marginal Man (Norbert Gestring) 124 Migration und Exil (Kristina Schulz) 133 Mobilität (Nils Grosch) 143 Place-making und Exil (Burcu Dogramaci) 151 Postmigration und Exil (Ömer Alkin) 162 Sans Papiers (Doerte Bischoff) 175 Time, Exile, and Post-Exile (Katja Sarkowsky) 186 Transmigration and Exile (Yaatsil Guevara González) 198 Transterrado/Trasterrado (Matei Chihaia) 208 Vertreibung als integrativer und konfrontativer Terminus im Kalten Krieg (Maren Röger) 217 Exil, Flucht, Migration: Begriffsverhandlungen im Kontext von Geschichtswissenschaft, Erinnerungskultur und Literarisierung. Podiumsdiskussion mit Gundula Bavendamm, Jochen Oltmer, Ilija Trojanow und Cornelia Vossen (Gesprächsleitung: Doerte Bischoff) 231 Rezensionen 251 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren 295 Exil, Flucht, Migration: Konfligierende Begriffe – Vernetzte Diskurse? Einleitung (Bettina Bannasch, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci) Das Jahrbuch Exilforschung, das seit 1983 im Auftrag der gleichnamigen Gesell- schaft erscheint, fokussiert im Titel einen Begriff, der im Laufe der Zeit unter- schiedliche Konnotationen erfahren hat und der zur Beschreibung der mit ihm analysierten Phänomene selten ausschließlich und konkurrenzlos benutzt wurde. Zugleich ist ‚Exil‘ zum Leitbegriff eines sich seit den 1940er Jahren allmählich, seit den 1970er Jahren dann sehr deutlich herausbildenden akademischen Feldes geworden, an dessen Institutionalisierungsprozess auch das Jahrbuch einen nicht unwesentlichen Anteil hat. Ist dieses Forschungsfeld von verschiedenen Kon- junkturen und Paradigmenwechseln geprägt gewesen, so verbindet sich aktuell der ehemals dominante (literar-)historische und erinnerungskulturelle Impuls, der seine Entstehung begleitet hat, mit der Herausforderung, gegenwärtige Phä- nomene zu beschreiben und zu kontextualisieren. Exil ist im deutschsprachigen Kontext nicht mehr allein eine Phase und Erfahrung der Vergangenheit, deren Rekonstruktion und Rekapitulation zu den zentralen Anliegen einer Erinnerungs- kultur gehört, die die gewaltvollen Zäsuren und die Nachwirkungen des National- sozialismus reflektiert. Exil ist eine neue Realität geworden in einer Zeit, in der zahlreiche Menschen in Europa Zuflucht suchen und es bereits eine neue Gruppe von Intellektuellen, Kunstschaffenden und Literat*innen gibt, die den Begriff für sich in Anspruch nehmen und mit ihm Akte politischer und künstlerischer Selbstbehauptung verbinden. Auch in aktuellen Theaterinszenierungen, Kunst- projekten und in der Gegenwartsliteratur wird der Begriff emphatisch aufgenom- men, wobei vielfach Bezüge zu seiner Begriffsgeschichte, nicht zuletzt im Kontext der deutschen Geschichte 1933–45 hergestellt werden.1 Neu gegründete Museen, 1 Vgl. etwa Can Dündar: Exile (Rede während der von der Körber-Stiftung organisierten Hambur- ger ‚Tage des Exils‘ 2018), https://www.koerber-stiftung.de/en/days-of-exile/2018 (Zugriff: 20.5. 2022) oder das seit 2016 am Berliner Maxim Gorki Theater existierende Ensemble Exil. Das vom Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek kuratierte online-Museum Künste im Exil versam- melt neben Dokumenten zum NS-Exil als ‚work in progress‘ zunehmend auch solche zu Autor*in- nen und Künstler*innen der Gegenwart („1990 bis heute“). Auch das von Bettina Bannasch und https://doi.org/10.1515/9783110770995-001 2 Bettina Bannasch, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci Archive, Ausstellungen und Veranstaltungsformate wie etwa die Hamburger ‚Tage des Exils‘, die aktuelle und historische Perspektiven miteinander verschränken, profilieren ebenfalls den Exilbegriff programmatisch. Dabei werden vor allem die mit ihm nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern bereits seit der Antike verknüpften Konnotationen von individueller Haltung und aktiver Handlungsfähigkeit gegen repressive Regime und Denkverbote betont, die in deutlichem Kontrast stehen zu einer öffentlichen Wahrnehmung von Flüchtlingen als passive, bedrohliche Masse. Vielfach ermöglicht es gerade der Begriff des Exils Ankommenden auch, in der Kultur des Aufnahmelandes Anknüpfungspunkte zu finden und in der Begeg- nung mit Zeugnissen von dessen Exilgeschichte Momente des Wiedererkennens zu erleben, aber auch Spuren historischer Vernetzungen zwischen den jeweiligen Herkunftsländern zu entdecken.2 Die prominente Bedeutung, die erzwungene Migration und Flucht in den ver- gangenen Jahren für öffentliche Debatten, aber auch wissenschaftliche Diskurse gewonnen haben, zeigt aber auch, dass zur Beschreibung dieser Phänomene unterschiedliche Begriffe verwendet werden, die jeweils andere diskursgeschicht- liche Konnotationen aufrufen. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob aktuelle Fluchtereignisse mit ‚Flucht und Vertreibung‘ der Deutschen nach 1945 in Beziehung gesetzt werden oder mit dem vom nationalsozialistischen Deutsch- land erzwungenen Exil. Dabei lässt sich jeweils beobachten, dass diese Verknüp- fungen nicht lediglich bestehende Identitäts- und Erinnerungsnarrative fort- schreiben, sondern diese in den vergleichenden Anschlüssen an die Gegenwart auch verändert und auf neue Weise kritisch befragt werden. Indem Begriffe, die bislang bestimmte Perspektiven und (politische) Positionen bezeichnet haben, neue Bedeutungen gewinnen, stellt sich auch die Frage, wie sie zueinander in Beziehung gesetzt werden können. So hat innerhalb der Exilforschung eine Begriffsreflexion eingesetzt, in der Exil mit anderen Begriffen wie Migration oder Flucht zusammengebracht und im Hinblick auf die Frage nach semantischen Gerhild Rochus herausgegebene Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur (Berlin 2013/2016) weitet den Zeitraum bereits programmatisch aus: „von Heinrich Heine bis Herta Müller“. 2 Teilweise laden Institutionen, die ausdrücklich den Begriff des Exils nutzen, zu einer solchen Begegnung und Auseinandersetzung ein, etwa durch die Verleihung von Literaturpreisen, die wie der Hilde-Domin-Preis an eine historische Exilantin erinnert, an Gegenwartsautoren wie Abbas Khider (2013), der in seinen Texten selbst immer wieder Bezüge zu Domin und anderen Autor*innen des NS-Exils herstellt. Zu nennen ist hier auch etwa die ‚Zitatkampagne Exil‘ der Körber-Stiftung, bei der Geflüchtete sich zu Zitaten historischer Exilierter in Bezug setzten. https://www.koerber-stiftung.de/tage-des-exils/zitatkampagne/presse-downloads-2020 (Zugriff: 25.5.2022) oder Aktionen des in Berlin entstehenden Exilmuseums mit Geflüchteten (vgl. dazu auch die Podiumsdiskussion am Ende dieses Bandes). Exil, Flucht, Migration: Konfligierende Begriffe – Vernetzte Diskurse? 3 Korrespondenzen und Differenzen untersucht wird.3 Gleichzeitig zeichnet sich im Bereich anderer Forschungsfelder wie dem der Migrationsstudien ein neues Interesse für die Kategorie Exil ab, gerade wo Gegenwartsphänomene behandelt und zu historischen Epochen in Beziehung gesetzt werden.4 Insgesamt wird Exil in den Geschichts- und Sozialwissenschaften bislang überwiegend als Sonder- fall von Migration behandelt, wofür sich die Begriffe der Gewalt- oder Zwangs- migration ausgeprägt haben. Die Vorstellung, dass die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit eine herausgehobene erinnerungskulturelle Bedeutung habe, die auch der Etablierung der deutschen Exilforschung als eigenständigem For- schungszweig mit zugrunde lag, tritt damit in den Hintergrund. In den Blick kommen so stärker typologische Fragen und Vergleichsperspektiven sowie his- torische Entwicklungen und Kontinuitäten über die Grenzmarken von 1933 und 1945 hinaus. Im englischsprachigen Raum hat sich ausgehend von dem Begriff der ‚refugees‘ in den vergangenen Jahren mit den Refugee oder Forced Migra- tion Studies ein Forschungsfeld herausgebildet, für das etwa an der Universität Oxford ein eigenes Forschungszentrum eingerichtet wurde. In Anlehnung daran und in Reaktion auf die wachsende Relevanz von Flucht und Migration für gegen- wärtige Gesellschaften entsteht seit einiger Zeit auch in Deutschland ein neues Forschungsfeld mit Bezug auf den Begriff Flucht (bzw. Flüchtlinge/Geflüchtete).5 Diese Fluchtforschung ist von historischen, soziologischen, geografischen und 3 Vgl. Doerte Bischoff: Flucht und Exil in der Gegenwartsliteratur: Begriffsverhandlungen, ver- netzte Geschichten, globale Perspektiven. In: Gegenwartsliteratur 20 (2021): Flucht – Exil – Migra- tion; Kristina Schulz: Exilforschung und Migrationsgeschichte. Berührungspunkte und Perspekti- ven. In: Itinera 42 (2017); Carola Dietze: Vom Nutzen und Nachteil der Exilforschung für das Leben (Blog des Verbands der Historikerinnen und Historiker, 6.7.2016), https://blog.historikerverband. de/2016/07/06/vom-nutzen-und-nachteil-der-exilforschung-fuer-das-leben/ (Zugriff: 25.5.2022). Hier wird angesichts eines Symposiums über „Wissen auf der Flucht“ die Frage behandelt, in- wiefern die historische Exilforschung „einen Beitrag zur gegenwärtigen ‚Flüchtlingskrise‘ leisten kann“. Vgl. auch den von Burcu Dogramaci am Institut für Kunstgeschichte der LMU München organisierten „Auftaktworkshop Exil, Diaspora, Flucht, Vertreibung, (Arbeits)migration. Kon- zepte und Begriffe im Kontext kunstwissenschaftlicher Methoden.“ im Rahmen des Netzwerks Entangled Histories of Art and Migration: Forms, Visibilities, Agents (18. –19.1.2019), siehe https:// www.asia-europe.uni-heidelberg.de/fileadmin/Pictures/Professorships/Visual_and_Media_ Anthropology/PDF/Erster_Workshop_Kurzbericht.pdf (Zugriff: 25 5.2022). 4 Vgl. etwa Laura Lotte Lemmer und Jochen Oltmer: Exil in der Bundesrepublik Deutschland: Be- dingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler. In: IMIS Beiträge 53 (2020), https://repositorium.ub.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-202001132518 (Zugriff: 25.5.2022). 5 Neben dem im Kontext des Osnabrücker IMIS etablierten Netzwerks Fluchtforschung (https:// fluchtforschung.net/) wurde auch eine eigene Zeitschrift Z’Flucht gegründet. 4 Bettina Bannasch, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci juristischen Perspektiven dominiert, tritt aber zugleich mit dem Anspruch auf, für ein breites interdisziplinäres Feld attraktiv zu sein. Damit stellt sich die Frage nach den Implikationen und der jeweiligen Reich- weite der aktuell im öffentlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs prominenten Begriffe zur Verhandlung von Formen erzwungener Migration. Welche politischen und kulturgeschichtlichen Resonanzräume eröffnet der Begriff des Exils, was wird mit Flucht assoziiert und was mit Vertreibung? Welche Bedeutung kommt diesen Begriffen in bestimmten diskursiven Kontexten zu, inwiefern haben sie normative und hierarchisierende Effekte? Wo lassen sich aktuell und im Laufe der Geschichte Bedeutungsverschiebungen und semanti- sche Transformationen beobachten? Insgesamt wird die verstärkte Dynamik, denen Begriffe ausgesetzt sind, die für das eigene Feld und Analysen des jeweiligen Gegenstandsbereichs zentral sind, in unterschiedlichen Kontexten registriert. Zeitgleich zu dem Vorhaben, das diesjährige Jahrbuch Exilforschung einer vergleichenden Begriffsreflexion zu widmen und dafür abweichend von der üblichen Struktur eine Art Lexikonformat zu wählen, hat etwa das am Osnabrücker Institut für Migrationsstudien (IMIS) angesiedelte Projekt „Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migra- tion“ mit der Erarbeitung eines „Inventars der Migrationsbegriffe“ begonnen.6 Bereits einige Jahr zuvor erschien in Brüssel ein französischsprachiger Band mit dem Titel Glossaire des mobilités culturelles, der stärker als der eher geschichts- und sozialwissenschaftlich orientierte IMIS-Band literatur- und kulturwissen- schaftliche Konzeptbegriffe aufnimmt und auch dem Exilbegriff (in Zusammen- hang mit Objekten des Exils) Raum gibt.7 Begriffsreflexionen, die Dimensionen einer auch historischen Semantik und Sprachpolitik einbeziehen, sind notwendig mit der Einsicht konfrontiert, dass auch die Leitbegriffe des eigenen Forschungsfelds im Hinblick auf ihre Konnota- tionen und Verwendungszusammenhänge dynamisch und nicht neutral sind. Die Rekapitulation ihrer Bedeutungsentwicklungen und -verschiebungen bedeutet immer auch, dass Konstitution und Grenzen bestimmter Forschungsfelder selbst einer Revision unterzogen werden. Für das relative junge Feld der Exilforschung gilt dies in besonderem Maße, da diese zwar durch bemerkenswerte Institutio- 6 Das von Isabella Löhr geleitete Projekt zielt auf eine multimediale Präsentation wissens- geschichtlich reflektierter Begriffe, bestehend aus einer kontinuierlich weiterzuentwickelnden Website (https://www.migrationsbegriffe.de/), die im Januar 2022 mit ersten Einträgen freige- schaltet wurde, sowie einer für 2023 angekündigten Buchpublikation mit dem Titel Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar (transcript Verlag). 7 Zilá Bernd und Norah De Cas-Giraldi: Glossaire des mobilités culturelles. Brüssel 2014.