Evolution, Kultur und Kriminalität Christian Laue Evolution, Kultur und Kriminalität Über den Beitrag der Evolutionstheorie zur Kriminologie 1 3 Christian Laue Universität Heidelberg Institut für Kriminologie Friedrich-Ebert-Anlage 6-10 69117 Heidelberg Deutschland [email protected] Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-642-12688-8 e-ISBN 978-3-642-12689-5 DOI 10.1007/978-3-642-12689-5 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. 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Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be- rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com) Vorwort Der Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen des Menschen und seinem (abweichenden) Verhalten stößt in der deutschsprachigen Kriminologie auf kein großes Interesse. Bisweilen erscheint eine Beschäftigung mit Biokriminologie im- mer noch als ein Tabu. Dies ist sogar nachvollziehbar, nachdem der große Miss- brauch der Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die starke Betonung der damaligen Kriminalbiologie zurückzuführen ist. Angebliche kriminologische Erkenntnisse dienten dazu, ganze Bevölkerungsgruppen als „min- derwertig“ und „unverbesserlich“ zu charakterisieren, und Ziel der so begründeten Kriminalpolitik war es, diese Menschen „unschädlich zu machen“ und „auszu- merzen“. Insbesondere die damals populäre Auffassung vom Darwinismus schien eugenische und rassistische Maßnahmen zu rechtfertigen, ja gerade zu fordern. Aufgrund dieser Erfahrungen ist die deutschsprachige Kriminologie in der Re- zeption biowissenschaftlicher Erkenntnisse äußerst zögerlich. Im Ausland legt man sich weniger Zurückhaltung auf und auch die aktuelle deutsche kriminalpolitische Diskussion in der Öffentlichkeit beruft sich auf populärwissenschaftliche Vermu- tungen der „Krankheit“ und damit Unverbesserlichkeit mancher Personen und rechtfertigt damit etwa eine lebenslange Sicherungsverwahrung. Im vorliegenden Werk soll dem möglichen kriminologischen und kriminalpoli- tischen Ertrag der Evolutionsbiologie nachgegangen werden. Es zeigt sich dabei, dass die fatalen populärwissenschaftlichen Deutungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachgerade das absolute Gegenteil von dem darstellen, was der aktuelle Erkenntnisstand der Evolutionstheorie nahelegt. Nicht der seine eigene Stärke rücksichtslos durchsetzende Egoist entspricht dem evolutionären Menschen- bild, sondern das reziprok handelnde, auf Fairness bedachte Gesellschaftsmitglied. Dies hat tiefgreifende kriminalpolitische Bedeutung, wird so doch beispielsweise der Abschreckungsdoktrin des Strafrechts weitgehend der Boden entzogen. Doktrinäre, offensiv in der Öffentlichkeit verbreitete Erkenntnisse, die bisweilen als Grundlage für frauenfeindliche und rassistische Maßnahmen verwendet wer- den, liefert die Evolutionspsychologie, die sich anmaßt, menschliches, insbeson- dere auch kriminelles Verhalten mit Ausschließlichkeitsanspruch zu erklären. Hier lauert sie wieder, die Gefahr einer verzerrten und höchst spekulativen Rezeption v vvii Vorwort der darwinschen Evolutionstheorie. Im letzten Teil der Arbeit wird die Evolutions- psychologie eingehend kritisiert. Ich danke von ganzem Herzen meinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Dieter Dölling für die Geduld, Flexibilität und Ermutigung, mit der er mir die Erstellung dieser Arbeit ermöglicht hat. Besonderen Dank schulde ich auch Prof. Dr. Dieter Hermann, der mir die Grundlagen der empirischen Sozialforschung vermittelt hat und geduldig und offen auf alle meine Fragen eingegangen ist. Allen Beschäftigten am Institut der Kriminologie möchte ich danken für ihren Beitrag zu dem dort herr- schenden offenen und freundschaftlichen Klima und zu den zahlreichen Diskussio- nen, die ich dort führen konnte und die die Arbeit vorangetrieben haben. Besonders danken möchte ich auch Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp für die unglaublich schnelle Erstattung des Zweitgutachtens und für zahlreiche wertvolle Anregungen. Den Mitgliedern der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg möchte ich für die – angesichts des Themas nicht selbstverständliche – offene und überaus freundliche Annahme als Habilitationsschrift danken. Der VG Wort danke ich für die großzügige Übernahme der Veröffentlichungs- kosten. Last but – definitiv – not least möchte ich meinen Eltern sowie Annette, Bettina und Klara danken. Ohne Sie wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Daher ist sie Ihnen gewidmet. im Juli 2010 Heidelberg Inhalt 1 Einleitung ................................................................................................... 1 1.1 Das Verhältnis von Kriminologie und (Evolutions-)Biologie ............ 2 1.1.1 Die moderne Biokriminologie ................................................ 2 1.1.2 Die Bedeutung der Evolutionstheorie .................................... 4 1.2 Evolutionstheorie und Kriminalität .................................................... 5 1.2.1 Kriminologie als Verhaltenswissenschaft ............................... 6 1.2.2 Die Biologie als Einflussfaktor auf das menschliche Verhalten ............................................................ 6 1.2.3 Der darwinistische Evolutionsmechanismus als biologisches Grundgesetz ....................................................... 9 1.2.4 Evolution der Kultur ............................................................... 10 1.3 Evolutionspsychologie ........................................................................ 14 2 Kriminalität und Biologie ......................................................................... 17 2.1 Das Verhältnis der deutschen Kriminologie zur Biologie ................... 17 2.1.1 Einwände gegen die biokriminologische Rezeption ............... 19 2.2 Ein Beispiel biokriminologischer Forschung: Testosteron ................. 28 2.2.1 Untersuchungen ...................................................................... 30 2.2.2 Testosteronforschung als Beispiel ........................................... 35 2.3 Die holistisch-evolutionäre Perspektive ............................................. 41 2.3.1 Reduktionismus ...................................................................... 41 2.3.2 Ultimate und proximate Gründe ............................................. 43 2.3.3 Evolution ................................................................................. 46 2.4 Evolution und Kriminologie ............................................................... 56 3 Evolution .................................................................................................... 59 3.1 Vor Darwins Evolutionstheorie ........................................................... 62 3.1.1 Vorneuzeitliche Vorstellungen ................................................ 63 3.1.2 Naturtheologie ........................................................................ 64 3.1.3 Biologie bis ins 19. Jahrhundert ............................................. 66 3.1.4 Form und Funktion ................................................................. 70 3.1.5 Die transformationelle Evolutionstheorie von Lamarck ........ 73 vii vviiiiii Inhalt 3.2 Charles Darwin und seine Evolutionstheorie ...................................... 79 3.2.1 Charles Darwin ....................................................................... 79 3.2.2 Darwins Evolutionstheorie ...................................................... 80 3.2.3 Beobachtbare Evolution .......................................................... 99 3.2.4 Genetische Drift ...................................................................... 101 3.3 Adaptionismus .................................................................................... 102 3.3.1 Anpassung ............................................................................... 104 3.3.2 Funktion .................................................................................. 108 3.3.3 Die Adaptionismus-Debatte .................................................... 113 3.3.4 Form und Funktion nach Darwin ........................................... 124 3.4 Die Einheit der Selektion .................................................................... 132 3.4.1 Individualselektion ................................................................. 132 3.4.2 Genselektion ........................................................................... 133 3.4.3 Gruppenselektion .................................................................... 142 3.5 Sexuelle Selektion .............................................................................. 148 3.5.1 Sexuelle Fortpflanzung ........................................................... 148 3.5.2 Sexuelle Selektion .................................................................. 150 4 Die Evolution der Kooperation ................................................................. 157 4.1 Altruismus und soziale Kooperation als Problem der Evolution ........ 157 4.1.1 Altruismus und verwandte Erscheinungen ............................. 158 4.1.2 Die genetische Problematik .................................................... 162 4.2 Verwandtenselektion ........................................................................... 165 4.2.1 Hamiltons Regel ...................................................................... 165 4.2.2 Kritik an Hamiltons Regel ...................................................... 168 4.3 Reziproker Altruismus ........................................................................ 172 4.3.1 Grundidee ............................................................................... 172 4.3.2 Reziproker Altruismus bei Menschen ..................................... 176 4.4 Spieltheoretische Erklärungen für die Entstehung sozialen Verhaltens ............................................................................................ 181 4.4.1 Die Grundidee der Spieltheorie .............................................. 181 4.4.2 Evolutionäre Spieltheorie ........................................................ 182 4.4.3 Die evolutionär stabile Strategie (ESS) .................................. 186 4.4.4 Falken – Tauben ...................................................................... 187 4.4.5 Das erweiterte Falke-Taube-Spiel ........................................... 191 4.4.6 Asymmetrische Spiele ............................................................ 192 4.4.7 Das Gefangenendilemma ........................................................ 195 4.4.8 Axelrods Spiele ....................................................................... 199 4.4.9 Fazit der biologischen Erklärungsmodelle ............................. 207 4.5 Anregungen aus den experimentellen Wirtschaftswissenschaften ..... 208 4.5.1 Der rationale Akteur ................................................................ 210 4.5.2 Spieltheorie – Indirekte Reziprozität ...................................... 212 4.5.3 Experimente – Strenge Reziprozität ....................................... 217 4.5.4 Public Goods-Experimente ..................................................... 220 Inhalt iixx 4.5.5 Schädliche Wirkungen der Strafe ............................................ 226 4.5.6 Verdrängungseffekte ............................................................... 229 4.5.7 Evolutionäre Grundlagen ........................................................ 237 4.6 Fazit .................................................................................................... 242 4.6.1 Altruismus ............................................................................... 242 4.6.2 Die besondere Evolution des Menschen ................................. 243 4.6.3 Konventionelle vs. reziproke Theorie ..................................... 247 4.7 Reziprozität, Kriminologie und Strafrecht ......................................... 250 4.7.1 Das evolutionär begründete Menschenbild und die Kriminologie ........................................................................... 250 4.7.2 Prävention ............................................................................... 258 4.7.3 Kommunale Kriminalprävention als Alternative .................... 273 4.7.4 Strafe ....................................................................................... 278 4.7.5 Wirtschaftsstrafrecht/Wirtschaftskriminologie ....................... 281 4.7.6 Fazit ........................................................................................ 301 4.8 Die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Frauen und Männern ....................................................................................... 302 4.8.1 Männer- und Frauenkriminalität aus kriminologischer Sicht ............................................................ 303 4.8.2 Die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung aus evolutionsbiologischer Sicht ................................................... 314 5 Evolutionspsychologie ............................................................................... 323 5.1 Die Wissenschaften vom Verhalten .................................................... 324 5.1.1 Humanverhaltenswissenschaften bis 1975 ............................. 324 5.1.2 Soziobiologie .......................................................................... 327 5.2 Evolutionspsychologie ........................................................................ 332 5.2.1 Begriff und Bedeutung ........................................................... 332 5.2.2 Allgemeiner Rahmen .............................................................. 334 5.3 Evolutionspsychologische Thesen zu ausgewählten Themen ............ 359 5.3.1 Gewalt allgemein .................................................................... 360 5.3.2 Tötungskriminalität – Männer gegen Männer ........................ 362 5.3.3 Tötungskriminalität – Gewalt von Männern gegen Frauen .... 369 5.3.4 Vergewaltigung, sexuelle Gewalt ............................................ 377 5.4 Kritische Würdigung der Evolutionspsychologie ............................... 396 5.4.1 Die empirische Basis .............................................................. 396 5.4.2 Die Haltung gegenüber den Sozialwissenschaften ................. 399 5.4.3 Strikte Modularität des Geistes? ............................................. 402 5.4.4 Super-Adaptionismus ............................................................. 412 5.5 Rassismus und Stigmatisierung .......................................................... 425 5.5.1 Evolution und Rassismus ....................................................... 425 5.5.2 Kriminalanthropologie – Cesare Lombroso ........................... 431 5.5.3 Evolutionspsychologie und Rassismus .................................. 436 xx Inhalt 6 Schlussbetrachtung .................................................................................... 451 Liste der Universalien der Menschheit ........................................................... 457 Glossar ............................................................................................................... 467 Literatur ............................................................................................................ 471 Kapitel 1 Einleitung Gegensätzlicher hätte die Entwicklung nicht sein können: Während im 20. Jahr- hundert die Naturwissenschaften und insbesondere die Biowissenschaften einen enormen Erkenntnisgewinn erlebten, hat sich die – vor allem deutschsprachige – Kriminologie von diesen Wissenschaften in einem Befreiungsakt bewusst abge- sondert. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre war Krimi- nologie vor allem Kriminalbiologie. Dann fand die konsequente Loslösung von den Biowissenschaften statt. Gerade zu dieser Zeit, in der Mitte des Jahrhunderts, begann aber eine rasante Entwicklung der Biowissenschaften; viele der neu gewonnenen Erkenntnisse können auch ein neues Licht auf das Verhalten des Menschen werfen, auch auf sein abweichendes Verhalten: die Synthese zwischen Evolutionsbiologie und Populationsgenetik, die Entdeckung der DNA als Träger der biologischen Infor- mation, die enormen Fortschritte der Molekularbiologie und der Entwicklungsbio- logie und die Aufschlüsselung des menschlichen Genoms. Technischer Fortschritt hat neue Verfahren ermöglicht, die die Vorgänge im Innern des lebenden Organis- mus beobachtbar machen und so einen Eindruck vermitteln zum Beispiel von der Arbeitsweise des Gehirns als der Schaltzentrale für alles menschliche Verhalten. Die Diskussion um die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen ist dadurch neu entflammt. Evolutionsbiologie, Paläoanthropologie sowie Soziobiologie und zuletzt Evolutionspsychologie stellen den Menschen in den großen Zusammenhang der Evolution aller Organismen und versuchen, Gesetzmäßigkeiten der Entwick- lung menschlichen Verhaltens zu formulieren. Parallel zu dieser Erfolgsgeschichte der Biowissenschaften hat die Kriminolo- gie versucht, alles Biologische aus ihrem Lehrgebäude zu eliminieren. Es herrscht von den späten 1950er Jahren bis heute bei zahlreichen einflussreichen Krimino- logen eine dezidiert antibiologistische Grundstimmung vor. Nicht nur wurden neue biowissenschaftliche Befunde nicht zur Kenntnis genommen oder gar mit den ge- sicherten kriminalsoziologischen Erkenntnissen in Einklang zu bringen versucht. Darüber hinaus wurde die Biologie als Bedrohung für die Kriminologie angesehen. Der Missbrauch der aus heutiger Sicht primitiv anmutenden Kriminalbiologie vor 1945 – „Verbrechen als Schicksal“, „Unschädlichmachung“, Eugenik, Rassismus – wird nicht selten als logische und unausweichliche Folge der biologisch orientierten C. Laue, Evolution, Kultur und Kriminalität, 1 DOI 10.1007/978-3-642-12689-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010