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Europa. Kultur der Sekretäre PDF

271 Pages·2003·19.679 MB·German
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Herausgegeben von Claus Pias und Joseph Vogl Europa: Kultur der Sekretäre Herausgegeben von Bernhard Siegert und Joseph Vogl diaphanes 1. Auflage ISBN 3-935300-38-7 © diaphanes, Zürich-Berlin 2003 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten Layout: 2edit, Zürich, www.2edit.ch Umschlaggestaltung: Thomas Bechinger und Christoph Unger Druckvorstufe: print‘s professional, Jan Scheffler, Berlin Druck: Kästner-Druck, Berlin Inhalt 7 Vorwort SCHAUPLATZ DER MACHT 13 Jan-Dirk Müller Archiv und Monument Die Kultur der Sekretäre um 1500 29 Horst Wenzel Sekretäre – heimlîchaere Der Schauraum öffentlicher Repräsentation und die Verwaltung des Geheimen 45 Nicolas Schapira Sekretäre des Königs Die Gelehrten und die Macht im Frankreich des 17. Jahrhunderts WALTEN, VERWALTEN 63 Bernhard Siegert Perpetual Doomsday 79 Rüdiger Campe Barocke Formulare 97 Joseph Vogl Leibniz, Kameralist 111 Uwe Jochum Goethes Bibliotheksökonomie SEKRETÄRSPOETIK 127 Ethel Matala de Mazza Angestelltenverhältnisse Sekretäre und ihre Literatur 147 Manfred Schneider Leporellos Amt Das Sekretariat der Sekrete 163 Ulrike Sprenger Fräulein Sekretär: Prousts Schreiber 175 Sabine Mainberger Schreibtischporträts Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge SCHREIBZEUG 195 Gloria Meynen Routen und Routinen 221 Wolfgang Schäffner Mechanische Schreiber Jules Etienne Mareys Aufzeichnungsmaschinen 235 Claus Pias Digitale Sekretäre: 1968, 1978, 1998 253 Wolfgang Ernst Sekretärinnen ohne Chef (Mnemosyne, Klio, Schreibmaschinen) 267 Die Autoren 269 Namenindex Vorwort Das ist aus meiner Sicht das Erstaunlichste an uns: welche Ausdehnung besitzt der innere Raum des Ohres, wo der Strom aller Wahrnehmungen des Gehörs zusammenfließt? Wer sind die Sekretäre, um die Reden aufzunehmen, die in die Ohren eindringen? Gregor von Nyssa, De officio hominis, Kap. 10. Eine Grundregel unserer Schriftkultur besagt seit dem Ende des 18. Jahrhun- derts, dass ein Autor immer anderes und immer mehr sei als ein bloßer Schreiber. Diese Regel hat Werke und Schulen, Texte und Kommentare hervorgebracht. Und diese Regel hat vergessen gemacht, was stets den Boden dieser repräsen- tativen Kulturarbeit bereitet: ein unaufhörliches Aufschreiben, Abschreiben, Verzeichnen, Registrieren und Archivieren. Ausgehend von einer Überlegung dieser Art geht es in dem vorliegenden Band um eine eher verborgene und apo- kryphe ›Kultur der Sekretäre‹ – um eine Kultur, die in die Namenlosigkeit von Diskursen und in die Anonymität von institutionellen und bürokratischen Ver- arbeitungstechniken zurückführt. Eine europäische Kultur der Sekretäre wird dabei historisch und thematisch im weitesten Sinne begriffen. Sie schließt den apostolischen Auftrag als Sekretariat göttlichen Worts ebenso ein wie die graue Arbeit der Kanzlisten im Dienste eines abendländischen Gerichtswesens; sie reicht von den Archivaren und Bibliothekaren der neuzeitlichen Gedächtnisbürokratie bis hin zum Stand der Sekretärin im modernen Büro; sie wird von der unermüdlichen Arbeit mittelal- terlicher Kopisten ebenso geprägt wie von der neueren Machtfigur des General- und Parteisekretärs; und sie arbeitet – wie Goethes Sekretäre – an der Fabrika- tion literarischer Autoren und Werke ebenso, wie sie – in Melvilles Bartleby oder in Kafkas Texten – selbst zum Thema und Modell von Literatur geworden ist. In all diesen Fällen lässt sich die Gestalt des Sekretärs ganz allgemein als eine Schaltstelle, als Umschlagplatz und als ein Medium von Daten und Botschaften begreifen, das die grundsätzliche Fremdheit aller Rede in die autorisierten For- men des Befehls und der Rechtsprechung, der Wahrheitsrede und der Kunst übersetzt. Das Imaginäre einer europäischen Kultur wird ermöglicht und über- liefert durch das Reale einer sekretären Politik – als einer Politik der Namen und Taten, der res gestae im weitesten Sinn. Der Titel des Sekretärs verweist demnach nicht einfach auf eine Geschichte von unterschiedlichen Funktionären, Berufsgruppen und Karrieren, er versam- melt vielmehr ein Ensemble aus – politischen, administrativen, technischen, diskursiven – Operationen, mit denen die abendländische Schriftkultur zur Basistechnologie für die Verwaltung von Dingen und Leuten, ihrer Verhältnisse und ihrer Verkehrsformen geworden ist. Was seit dem 15. Jahrhundert secretarius oder Sekretär heißt, dokumentiert zunächst einen geheimen, gleichermaßen ver- borgenen wie vertrauten, mithin unheimlichen Umgang mit politischer Macht und situiert sich auf einer Schwelle, an der sich die Inszenierung fürstlicher Herr- 8 Bernhard Siegert, Joseph Vogl schaft ganz konsequent um die systematische Produktion regierungstechnischen Arkanwissens zu verdoppeln beginnt (vgl. die Beiträge im Kapitel Schauplatz der Macht). Der Sekretär übernimmt die Nachfolge des gebildeten Rhetors ebenso wie die Übersetzung und Transmission herrschaftlichen Willens, er institutiona- lisiert sich als Schrift-Steller besonderer Art und verbindet die Pflege der politi- schen Schauseite mit der Sorge um jenen Schriftverkehr, der zur Keimzelle von neuzeitlichen Bürokratien, von Staatsapparaten und Staatsmaschinen gerät. In der Nähe zu Souveränen und regierenden Instanzen hat sich seit der frühen Neuzeit eine Spielart politischer Macht formiert, die professionelles Schreiber- tum mit Verwaltungsakten verknüpft und sich in Kanzleien, Büros und Regist- raturen eine eigene Adresse verschafft. Es gibt daher gute Gründe dafür, sekretäre Figuren und Praktiken als Leitfossi- lien für eine Geschichte zu betrachten, in der sich Aufschreibeweisen und gou- vernementales Handeln zu einer neuen Ordnung der Dinge verschränken (vgl. die Beiträge im Kapitel Walten, Verwalten). Apodemiken und enquêtes, Staatsbe- schreibungen und Statistiken begleiten die Entstehung eines neuzeitlichen Staats, der sich als umfangreiches Erhebungswissen konstituiert und spätestens seit dem 16. Jahrhundert anfängt, sich selbst, seine Bewohner, Territorien und Reichtümer zu inventarisieren. Sie stehen für einen politischen Prozess, der die Verbesserung Europas nach dem Stand seiner Zivilisierung, d.h. seiner internen Kolonisierung bemisst. Tabellen, Formulare, Diagramme, Register und Kata- loge erzeugen dabei den Geltungsraum einer ontologischen Differenz, mit der sich die seienden Dinge und Wesen von denjenigen unterscheiden, die bloß möglich, wahrscheinlich oder gar unmöglich sind. Das Verzeichnis aller ab- gezählten Existenzen koinzidiert nun mit dem Horizont einer Welt, deren Wirklichkeit und Verwirklichung vom Programm ihrer erschöpfenden Darstel- lung abhängt. Ein gutes Leben ist ein gut verwaltetes Leben; und nichts gibt es, was nicht geschrieben steht. Mit Sekretären und Sekretariaten hat sich damit ein Expertentum dafür entwi- ckelt, was Schrift, Auf- und Abschreiben bedeuten. In all diesen Praktiken steckt auch eine poietische Aktivität, ein Verfertigen und Hervorbringen, das elemen- tare Auskunft darüber gibt, wie das Geschriebene mit dem Schreiben, das Ver- zeichnete mit der Ordnung von Verzeichnissen zusammenhängt, und das heißt: was passiert, wenn man litterae zu Literaturen aneinander reiht. Das führt zur Frage nach einer Sekretärspoetik (vgl. die Beiträge im dritten Kapitel), die sich in der Stille von Schreib- und Schreibtischszenen überhaupt formiert. Schon in den Gattungen von Tagebuch und journal intime, in Haushaltslisten und Register- arien lässt sich ein Sekretärsbegehren erkennen, das von Bürokratien in private Lebensführung übergewechselt und an der Buchführung moderner Subjekte beteiligt ist; und man hat es hier zugleich mit einer Autorschaft zu tun, die um so besser Bescheid über sich weiß, als sie sich von jenen Überschätzungen absetzt, mit denen seit dem 18. Jahrhundert Genies, Originale und auktoriale Schöpfer ein Privileg schreibenden Handelns beansprucht haben. Wenn ein sekretäres Schreiben tatsächlich in die moderne Literatur hinüberführt, so sind es eben geborgte Reden, durchgestrichene Ichs und die vielen Stimmen der Ande- Vorwort 9 ren, die deren Poetik bestimmen. Die Literatur von Schreibern und Sekretären spricht stets ›im Namen von‹. Das ist nicht zuletzt ein technologisches Problem und stellt die – nietzscheani- sche – Frage danach, wie das Schreibzeug das Schreiben, das Geschriebene und seine Effekte erzeugt (vgl. die Beiträge im vierten Kapitel). Was nämlich seit dem späten Mittelalter mit Buchführung und Rechnungswesen beginnt und die abgeschlossene Einheit von Büros überhaupt ermöglicht, muss als Probe auf jene Materialitäten und Operationen erscheinen, die garantieren, dass graphè und gramma haltbare Einschreibungen und eben nicht Unordnung, sondern Ord- nung produzieren. Die grundlegenden Verfahren von Speichern, Adressieren und Übertragen verflechten die ›Kultur der Sekretäre‹ mit einer Geschichte von Schrifttechnologien, die von den Linien auf weißem Papier über die verschie- denen ›-graphien‹ des 19. Jahrhunderts bis hin zu jenen Maschinen verläuft, in denen Schreiben nur unter der Bedingung von Schreibprogrammen funktio- niert. Sekretärsarbeit siedelt sich damit nicht nur in einer politisch relevanten Zone an, in der die Verwaltung von Schriften, Daten und Dateien mit dem Walten von Verwaltungen überhaupt zusammentrifft; sie weiß vielmehr auch um ein Unbewusstes der Kultur, das das Unbewusste der Maschinen ist. Der Sekretär und seine nahen und ferneren Verwandten werden also in diesem Band vor allem als Figuren vielfältiger Übergänge begriffen. Am Beispiel ihrer Geschichte(n) stoßen die Schauseiten politischer Macht mit sekretem Regieren, öffentliches Sprechen mit soufflierter Rede, Leute mit Apparaten und die Gel- tung symbolischer Ordnungen mit deren Infrastrukturen zusammen. Welche Titel, welche kleinen oder großen Posten man auch immer für sie bereit gehal- ten hat: sie haben ihren Weg in die folgenden Texte über eine Liebe des und eine Liebe zum Sekretär gefunden, mit der er immer wieder die – guten und schlechten – Träume seiner Autoren geträumt hat. Die Beiträge des vorliegenden Bands gehen fast ausnahmslos auf eine Tagung zurück, die 1999 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Literaturforschung (Berlin) und dem Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar stattgefunden hat. Diesen Institutionen sei für ihre Unterstützung gedankt; ebenso Sabine Schimma für redaktionellen Beistand. Ohne das große Engagement von Michael Heitz und Sabine Schulz (Verlag diaphanes) hätte dieser Band nicht erscheinen können; nicht zuletzt ihnen gilt die Dankbarkeit der Herausgeber. Bernhard Siegert Joseph Vogl

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