Ethik der Biogerontologie Hans-Jörg Ehni Ethik der Biogerontologie Dr. phil. Hans-Jörg Ehni Universität Tübingen, Deutschland ISBN 978-3-658-03377-4 ISBN 978-3-658-03378-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-03378-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus- drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be- rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Lektorat: Frank Schindler, Stefanie Loyal Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt I . Einleitung .............................................................................................................. 9 I.1 Was ist Biogerontologie? ............................................................................. 9 I.2 Die Institutionalisierung der biogerontologischen Forschung ..................... 13 I.3 Sind Biogerontologen Transhumanisten oder Anti-Aging-Anhänger? Die irreführende ethische Debatte über Eingriffe in den Alterungsprozess ........................................................................................ 16 I.4 Warum eine Ethik der Biogerontologie? .................................................... 20 II . Entbehrliche Körper . Die Biogerontologie als neue theoretische Grundlage für das Verständnis des körperlichen Alter(n)s ................................................... 23 II.1 Die ältere Phänomenologie des körperlichen Alter(n)s ............................... 23 II.2 Gebrechlichkeit als Verbindungsstück zwischen alter und neuer Phänomenologie des Alters ............................................................... 25 II.3 Molekulare und zelluläre Phänomene des Alterns ...................................... 28 II.4 Das biologische Alter: die tickende Uhr der Moleküle .............................. 30 II.5 Ältere evolutionäre Erklärungen ................................................................. 35 II.6 Eine vereinheitlichte Theorie der Evolution des Alterns .............................. 37 II.7 Die genetische Komponente des biologischen Alterns ............................... 40 II.8 Biologisches Altern als System variabler und plastischer Prozesse ................ 43 II.9 Neuere Erkenntnisse: Manipulation einzelner Gene, nicht-alternde Organismen, und Mortalitätsplateaus ........................................................ 45 II.10 Theoretische Grundprinzipien der Evolutionstheorie des Alterns und ihre praktischen Implikationen .......................................................... 48 III . Biogerontologische Interventionen in Alternsprozesse ....................................... 51 III.1 Stand im Tierversuch und die Übertragbarkeit auf den Menschen ............. 51 III.2 Kalorienrestriktion (KR) ............................................................................ 53 III.3 Kalorienrestriktions-Mimetika (KRM) ...................................................... 56 III.4 Genmanipulation und genetische Interventionen ...................................... 58 III.5 Anti-Oxidantien ....................................................................................... 60 III.6 Hormonsubstitution .................................................................................. 61 III.7 Telomere und Telomerase .......................................................................... 62 6 Inhalt III.8 Stammzelltherapie, Transplantation von Organen und Geweben .............. 65 III.9 Umrisse einer möglichen zukünftigen Altersmedizin auf biogerontologischer Grundlage ................................................................. 67 IV . Biologisches Altern und Krankheit ..................................................................... 75 IV.1 Ein neuer Beitrag zu einer alten Frage ........................................................ 75 IV.2 Ein Perspektivwechsel: Altern aus Sicht der Theorie des Krankheitsbegriffs ............................................................................... 78 IV.3 Altern und Krankheit – kurzer historischer Überblick ............................... 80 IV.4 Das Eigenschaftsargument ......................................................................... 83 IV.5 Das Kausalitätsargument ........................................................................... 87 IV.5.1 Kausalität oder Korrelation? ........................................................ 87 IV.5.2 Grenzen des Kausalitätsarguments ............................................... 91 IV.6 Das Altersschwächeargument ..................................................................... 95 IV.7 Biogerontologie und theoretische Überlegungen zum Krankheitsbegriff ... 98 IV.7.1 Probleme mit dem allgemeinen Krankheitsbegriff ....................... 98 IV.7.2 Biologisches Altern in Christopher Boorses biostatistischer Theorie der Gesundheit .............................................................. 99 IV.7.3 Altern in der holistischen Theorie der Gesundheit von Lennart Nordenfelt ............................................................. 104 IV.8 Die Analogie von Altern und Krankheit aus gesellschaftlicher Perspektive ............................................................................................... 107 IV.9 Alternsprozesse ohne allgemeine Krankheitsdefinition medizinisch behandeln ................................................................................................ 108 V . Ziele der Biogerontologie – auch Ziele für die Medizin? ................................... 113 V.1 Mögliche Ziele der Biogerontologie .......................................................... 113 V.2 Verlangsamtes Altern ............................................................................... 114 V.3 Längeres Leben ........................................................................................ 116 V.4 Zwei biogerontologische Visionen für die Medizin ................................... 119 V.5 Legitime Ziele der Medizin ...................................................................... 123 V.6 Eine falsche Dichotomie .......................................................................... 124 V.7 Der „frühzeitige Tod“ und der „natürliche Tod“ als Grenzen für die medizinische Behandlung von altersassoziierten Krankheiten ........ 126 V.8 Verstöße gegen die interne Moral der Medizin ......................................... 130 V.9 Die interne Moral der Medizin und gesellschaftlicher Pluralismus ........... 134 V.10 Jenseits der internen Moral der Medizin ................................................... 135 Inhalt 7 VI . Eine unzulässige Biomedikalisierung des Alterns? ............................................ 137 VI.1 Ein Konflikt der Interpretationen ............................................................ 137 VI.2 Der Begriff der Medikalisierung ............................................................... 139 VI.3 „Bio“-medikalisierung des Alterns als neues Phänomen ............................ 142 VI.4 Biomedikalisierung und Biogerontologie ................................................. 146 VI.5 Gute oder schlechte Biomedikalisierung des Alterns? ............................... 149 VI.6 Ageism als Grundlage von Naturwissenschaft: John Vincents Angriff auf die Biogerontologie ............................................................................ 152 VI.7 Kritische Sozialgerontologie ...................................................................... 155 VI.8 Die soziale Konstruktion des Alters durch die Biogerontologie ................ 157 VI.9 John Vincents Anti-Realismus ................................................................. 159 VI.10 Erkenntnistheoretischer Relativismus und soziale Konstruktion ............... 160 VI.11 Grenze der naturwissenschaftlichen Konzeption des Alters ....................... 162 VI.12 Eine mögliche Integration von sozial- und biogerontologischen Perspektiven ............................................................................................. 165 VI.13 Biomedikalisierung, soziale Konstruktion und Altern als Übel ................. 168 VII . Altern als Übel .................................................................................................... 171 VII.1 „Das Altern wie eine Krankheit bekämpfen“ – Der praktische Syllogismus der Biogerontologie .............................................................. 171 VII.2 Alter(n) in der philosophischen Tradition ................................................ 177 VII.3 Formen des malums ................................................................................. 178 VII.4 Verteidigung der conditio humana ........................................................... 185 VII.5 Antike Grundmodelle philosophischer Apologetik: Cicero und Epikur .... 187 VII.6 Altern als malum physicum ...................................................................... 191 VII.6.1 Warum eine pauschale Wertung des körperlichen Alterns als malum physicum unbegründet ist .............................................. 191 VII.6.2 Der Verlust der jugendlichen Erscheinung ................................. 193 VII.6.3 Gebrechlichkeit und Demenz .................................................... 197 VII.6.4 Die Relativierung von Gebrechlichkeit ...................................... 198 VII.6.5 Die Negativität von Demenz anerkennen .................................. 203 VII.7 Altern als malum morale und malum sociale ........................................... 207 VII.7.1 „Difficilis, querulus, laudator temporis acti“ ............................. 207 VII.7.2 Eine gerontologische Altersmoral ................................................ 211 VII.7.3 Alterstugenden, Alterspflichten: Ein Vorbild aus der deutschen Aufklärungsphilosophie ............................................. 215 VII.7.4 Nützlichkeit und Potenziale des Alters ....................................... 219 VII.7.5 Alterstugenden und Eingriffe in körperliches Altern .................. 223 8 Inhalt VII.8 Altern als malum metaphysicum ............................................................. 226 VII.8.1 Verteidigung der Endlichkeit .................................................... 226 VII.8.2 Länge des Lebens und der Tod als Übel ..................................... 230 VII.8.3 Die Negativität des Alter(n)s ...................................................... 234 VIII . Gesellschaftliche Folgen von Eingriffen in Alternsprozesse ............................. 241 VIII.1 Der mögliche gesellschaftliche Schaden durch radikale Lebensverlängerung ................................................................................ 241 VIII.2 Formen der Gerechtigkeit und Eingriffe in Alternsprozesse ..................... 243 VIII.3 Die Verschärfung der gesundheitlichen Ungleichheit im Alter ................ 245 VIII.4 Legitime Ungleichheit? .......................................................................... 249 VIII.5 Gerechter Zugang zu Eingriffen in Alternsprozesse ................................. 255 IX . Schluss: Die Ethik der Biogerontologie und die Zukunft des Alterns .............. 261 Bibliographie ............................................................................................................... 267 Zusammenfassung ........................................................................................................ 283 Danksagung ................................................................................................................. 287 I. Einleitung I . 1 Was ist Biogerontologie? Anfänge der gegenwärtigen Gerontologie (gr. „géron“, „Greis“) als interdisziplinärer theore- tischer Erforschung der Grundlagen des Alterns sind auf die Zeit um 1900 zurückzuführen.1 Diese Wissenschaft umfasst der Vielschichtigkeit ihres Gegenstands entsprechend zahlrei- che soziologische, psychologische und biologische Theorieansätze, die von feministischen, neuropsychologischen bis zu entwicklungsgenetischen Theorien reichen.2 Der Begriff „Bio- gerontologie“ fasst die biologischen Theorieansätze zusammen.3 Für die zukünftige Anwen- dung biogerontologischer Erkenntnisse wurde kürzlich der Begriff „Biogerontechnology“ vorgeschlagen4, der sich jedoch noch nicht durchgesetzt hat (keine Einträge in PubMed, kei- ne Treffer bei einer elektronischen Suche im Zeitschriftenarchiv von Biogerontology). Teil- weise wird auch die Anwendung der Biogerontologie unter den Begriff „Anti-Aging“-Medi- zin subsumiert, auch in der medizinethischen Literatur.5 Vor allem aus einem Grund sollte man jedoch Biogerontologie und Anti-Aging voneinander unterscheiden: Zahlreiche Bio- gerontologen haben sich selbst gegen die Behauptung gestellt, es gebe bereits eine wirksa- me und sichere „Anti-Aging-Medizin“.6 Dieser Begriff ist damit durch zahlreiche fragwür- dige Nahrungsergänzungsmittel und Therapien vorbelastet und entsprechende Methoden basieren gerade nicht auf naturwissenschaftlichen, biogerontologischen Erkenntnissen und der Überprüfung von entsprechenden Hypothesen in klinischen Studien.7 Ferner geht es bei der möglichen Anwendung biogerontologischer Erkenntnisse nicht primär darum, die äußeren Erscheinungsformen des Alterns zu verändern, was für zahlreiche kosmetische In- terventionen zutrifft, die wie Botox-Spritzen in der Regel ebenfalls unter dem Begriff „Anti- 1 Beauchamp 2001. 2 Bengtson Putney et al. 2005. 3 Für eine ausführliche Darstellung vgl: Kap. 2. 4 Der Begriff wird genannt in einem Bericht der SRI Consulting Business Intelligence (mittlerweie SBI – Strategic-Business-Insights), einem privaten Unternehmen zur Technikfolgenabschätzung, für den National Intelligence Council in den USA über sogenannte „disruptive“ Technologien (http:// www.dni.gov/files/documents/2008%20Conference%20Report_Disruptive%20Civil%20Techno- logies.pdf, aufgerufen am 3.07.2013). Auf diesen Bericht verweist das Fraunhofer-Institut in einem Foresight-Bericht an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF). Außerdem wird dort als Quelle ein Aufsatz des Bioethikers Eric Juengst genannt, in dem sich der Begriff „Biogeron- technology“ jedoch nicht nachweisen lässt. Vgl. Cuhls Ganz et al. 2009, S.41 (http://www.bmbf.de/ pubRD/02_Das_Altern_entschluesseln_Auszug.pdf aufgerufen am 3.07.2013) und Juengst 2003a. 5 Z. B. bei Juengst 2003b oder Maio 2011a. 6 Olshansky Hayflick et al. 2002a. 7 Vgl. z. B. United States. 2001. Hans-Jörg Ehni, Ethik der Biogerontologie, DOI 10.1007/978-3-658-03378-1_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 10 I. Einleitung Aging“ zusammengefasst werden. Im Gegensatz dazu stellt die Biogerontologie in Aussicht, dass biologische Alternsprozesse selbst beeinflusst werden könnten. Für neue medizinische Interventionen, die auf der möglichen Anwendung von biogerontologischen Erkenntnis- sen beruhen, wird daher in der Folge den Begriff „Eingriffe in Altern(-sprozesse)“ verwen- det. Gerade der Erkenntniszuwachs, den die Biogerontologie in den letzten Jahrzehnten verzeichnen konnte, und ein allgemein akzeptierter theoretischer Rahmen für dieses neu gewonnene Wissen über Alternsprozesse bilden die naturwissenschaftliche Grundlage für eine mögliche Anwendung. Dadurch unterscheidet sich die Biogerontologie von allen an- deren bisher in der Menschheitsgeschichte in Aussicht gestellten Methoden, körperliches Altern neu zu gestalten. Welches die realistischen Möglichkeiten einer solchen Anwendung sind, wie die konkreten Konzeptionen und Theorien lauten, auf denen sie beruht und wel- che ethischen Probleme auf dieser Grundlage zu erwarten sind (und welche nicht), wur- de bisher noch kaum untersucht. Ein Grund dafür ist gerade die falsche Identifikation von Biogerontologie mit „Anti-Aging“. Als theoretische Grundlage der Biogerontologie hat sich mittlerweile ein evolutions- theoretischer Erklärungsrahmen, die „Disposable-Soma-Theorie“ (engl. „disposable“, „Weg- werf-“ bzw. „entbehrlich“ und gr. „soma“, „Körper“) weitgehend durchgesetzt.8 Diese The- orie umfasst mehrere Voraussagen zu genetischen Effekten der Selektion in Bezug auf das Altern, für die sich zahlreiche empirische Belege gefunden haben.9 Die Disposable-Soma- Theorie kann ferner auch die einzelnen Erklärungsansätze für physiologische Veränderungen auf molekularer und zellulärer Ebene integrieren. Daher ist man zur folgenden Schlussfol- gerung gelangt: „Biologisches Altern ist nicht länger ein ungelöstes Problem.“ Zwei promi- nente Biogerontologen benennen so ihren Bericht über zwei Konferenzen, bei denen unge- fähr ein Fünftel ihrer scientific community zusammengekommen ist.10 Damit wollen sie nicht nur einen vorgeblichen Konsens unter ihren Kollegen ausdrücken, sondern spielen auf ein klassisches Werk von 1952 an.11 Peter Medawar, ein englischer Biologe und Nobelpreisträger, stellte darin fest, dass Altern zu den großen und ungelösten Problemen in der Biologie ge- höre und forderte entsprechende Anstrengungen in der Forschung. Im selben Jahr, in dem Medawar seinen mittlerweile klassischen Aufsatz veröffentlichte, beginnt die Biogerontologie die Gestalt einer wissenschaftlichen Disziplin mit einer entsprechenden scientific communi- ty, Forschungsinstitutionen und Curricula der wissenschaftlichen Ausbildung anzunehmen. Eine eigene Zeitschrift – die Sektion „Biological Sciences“ innerhalb des Journal of Geronto- logy der GSA – wird ebenfalls zu dieser Zeit gegründet. Eine einflussreiche Zeitschrift mit dem Titel Biogerontology wurde sogar erst 2000 gegründet. Die Biogerontologie kann mitt- lerweile auf sechs erfolgreiche und fruchtbare Jahrzehnte des Wissenszuwachses zurückbli- cken. Ein häufig zitierter Klassifikationsversuch des Biologen Zhores A. Medvedev ergab 8 Kirkwood 2005a. 9 Vgl. Martin 2007. 10 Holliday 2006, Hayflick 2007a. 11 Medawar 1952.