Hans-Bernd Brosius · Frank Esser Eskalation durch Berichterstattung? Hans-Bernd Brosius · Frank Esser Eskalation durch Berichterstattung? Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH CIP-Codicrung angcfordcrt Allc Rcchte vorbchaltcn © 1995 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1995 Das Werk cinschlicSlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schiitzt. Jede Verwcrtung auSerhalb der cngen Grenzcn des Urheber rechtsgesetzcs ist ohne Zustirnrnung des Verlags unzulassig und strafhar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Biirklc, Darmstadt Gedruckt auf saurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12685-2 ISBN 978-3-663-12097-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-12097-1 Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Auslănder und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland . . . . . 13 2.1. Auslănder als Gastarbeiter ..................... 13 2.2. Auslănder als Asylbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.3. Die Stimmung schlăgt um ..................... 16 2.4. Die Schliisselereignisse: Hoyerswerda, Rostock, Molln und Solingen ..............................1 9 2.5. Bisherige Studien zur Berichterstattung iiber Auslănder . . . . . . 25 3. Massenmedien als Spiegel oder Gestalter gesellschaftlicher Realităt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4. Die Rolle der Medien bei der Verbreitung von Gewalt . . . . . 39 4.1. Die aktuelle Gewaltdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.2. Die soziale Lerntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.3. Kurz- und langfristige Wirkungen . . . . .......... 47 4.4. Methodische Zugănge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5. Bisherige Befunde zor Imitation von Gewalt durch Massenmedien .......................... 56 5.1. Nachahmung von Selbstmord ................... 56 5.2. Nachahmung von Mord. . . . . ........ 62 5.3. Nachahmung von Terrorakten ................... 65 6. Gewalt gegen Auslănder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6.1. Die Rolle der Medien . . . . . . ................. 71 6.2. Die Straftăter: Personlichkeitsprofile und Deliktbereiche . . . . . . 74 6.3. Nachahmung fremdenfeindlicher Straftaten und soziale Lerntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.4. Begriffsklărung: Nachahmung, Ansteckung, Suggestion oder Thematisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 7. Fragestellung und Hypothesen der Untersuchung ........ 82 8. Anlage der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8.1. Uberblick . . . . . . . . . . . . . 87 8.2. Inhaltsanalyse der Presseorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5 8.3. Erfassung der Berichterstattung von dpa .............. 90 8.4. Erfassung der Berichterstattung der Femsehnachrichten ...... 91 8.5. Erfassung der tatsiichlichen Zuwanderungszahlen ......... 92 8.6. Erfassung der fremdenfeindlicher Straftaten . . . . . . . . . . . . 93 8.7. BevOlkerungsumfragen ...................... 95 8.8. Autbereitung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 9. Ergebnisse: Ereignislage und Berichterstattung . . . . . . . . . 97 9.1. Die Entwicklung der Zuwanderungszahlen .............9 7 9.2. Die Entwicklung des Meinungsklimas in der Bevolkerung .... 101 9.3. Der Zusammenhang von Meinungsklima und Straftaten ..... .107 9.4. Die Entwicklung fremdenfeindlicher Straftaten .......... 109 9.5. Berichterstattung iiber Ausliinder und Asylbewerber von August 1990 bis Juli 1993 .................... 116 9.6. Verlauf der Berichterstattung ................... 124 10. Ergebnisse: Eskalation durch Berichterstattung ........ 131 10.1. Methodisches Vorgehen ..................... 132 10.2. Die ARIMA-Zeitreihenanalysen und ihre Funktion ........ 135 10.3. Berichterstattung oder Straftaten: Was war zuerst? . . . . 143 10.4. Die Rolle der Medien nach Hoyerswerda und Rostock ...... 149 10.5. Die Rolle der Medien nach Molln und Solingen ......... 156 10.6. Analyse von Bild-Zeitung und Der Spiegel . ........... 160 10.7. Analyse der Femsehberichterstattung ............... 167 10.8. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .171 10.9. Vergleich zwischen West und Ost ................ .173 10.10. Vergleich der beiden Untersuchungsphasen ............1 74 10.11. Die zentrale Rolle der Schliisselereignisse . . . . . . . . . . . . 175 10 .12. Analyse auf Tagesbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 11. Zusammenfassung und Diskussion der Befunde ........ 189 11.1. Wie wirkt die Berichterstattung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 11.2. Vergleich mit dem Linksterrorismus der siebzigerJahre . . . . . 200 12. Schlu8folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 12.1. Konsequenzen fiir die Wirkungsforschung . . 205 12.2. Konsequenzen fiir den Joumalismus ............... 208 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6 1. Einleitung Im Januar und Februar 1981 strahlte das Zweite Deutsche Femsehen an sechs aufeinanderfoigenden Sonntagen eine Femsehserie mit dem Titei "Tod eines Schiilers" aus. Inhalt der Serie war der Seibstmord eines 19jii.hrigen Schiiiers, der sich vor einen fahrenden Eisenbahnzug warf. In den sechs Foigen wurden die Motive des Schiiiers Ciaus Wagner und die Entwicklung hin zum Seibst mord aus den Perspektiven seiner seibst, seiner Mitschiiier, seiner Lehrer, seiner Freundin und seiner Eitem dargestellt. Zu Beginn jeder Foige wurde die Szene des iiberrollenden Eisenbahnzuges noch einmal gezeigt. Schmidtke & Hăfner (1986)1 untersuchten darautbin die Seibstmordraten von Personen, die im Zeitraum von 1976 bis 1984 auf den Schienen der Deutschen Bundes bahn Seibstmord begangen hatten. Sie stellten fest, daB - verglichen mit den vorausgegangenen und foigenden Jahren - wăhrend der Ausstrahiung der Sendung und unmitteibar danach die Zahl der Eisenbahnseibstmorde stark erhOht war. In der Altersgruppe der 15-bis 19jii.hrigen mănnlichen Jugendli chen war dies am deutlichsten. Die Autoren verzeichneten in den Wochen nach der Fernsehserie einen Anstieg von 175 Prozent (aiso fast dreimal so vieie Eisenbahnseibstmorde). Wesentlich geringer fiei die Steigerung der Seibstmordrate bei ăiteren bzw. weiblichen Teilpopuiationen aus. Offenbar wurden vor aliem solche Jugendliche, dem dem Vorbild Ciaus Wagner ăhn lich waren, nach dem Sehen der Sendung motiviert, ihrem Leben ebenfalis ein Ende zu setzen, indem sie die Art des Selbstmordes detailgetreu imitier ten. Diese Ansteckungs- bzw. Nachahmungswirkung, die von der Darstei Iung von Selbstmord sowie anderen Formen von Gewalt in den Medien aus geht, ist in vielen weiteren Studien untersucht worden (vgl. Kapitei 5). Die Mehrzahi der Studien kommt zu dem SchluB, daB die Darstellung gewalttăti ger Handiungen in den Medien die Nachahmung ăhnlicher Taten begiinstigt, daB aiso Verhalten in den Medien ein "Modell" fiir das Verhaiten von Rezi pienten liefert. In bezug auf Selbstmord ist dieses Phănomen seit mehr als Vgl. auch Hăfner & Schrnidtke (1989). 7 200 Jahren als "Werther-Effekt" bekannt. Die Publikation von Goethes Ro man "Die Leiden des jungen Werther" (1774), in dem ein junger Mann nach einer ungliicklichen Liebesbeziehung seinem Leben mit der Pistole ein Ende setzte, provozierte eine Welle ăhnlicher Selbstmorde, so daB das Buch in ver schiedenen europăischen Stiidten (Kopenhagen, Leipzig, Mailand) verboten wurde. Zahlreiche Beobachter von Selbstmordepidemien2 auBem schon seit Beginn dieses Jahrhunderts die Vermutung, daB die Medien zu Nachah mungstaten anregen. Und dies gilt nicht nur fiir Selbstmorde. Gabriel Tarde (1912) kommt beispielsweise zu dem SchluB, daB sich Verbrechen den Tele grafenleitungen3 folgend ausbreiten. Die Darstellung von Bankeinbriichen, Entfiihrungen, Mordvarianten und ăhnlichem in den Massenmedien fiihrt of fenbar auch dazu, daB Menscben diese Taten in ăhnlicber Weise nacbahmen. Jiingst wurde die Nacbahmungswirkung der Medien in England emeut dis kutiert. Zwei zehnjăhrige Jungen batten das zweijăhrige Kleinkind James Bulger brutal ermordet, nachdem sie den Horrorfilm "Child's Play 3" gesehen batten. Die jugendlicben Morder bewarfen ihr Opfer, bevor sie es toteten, mit blauer Farbe, dann legten sie die Leicbe des Kindes auf Eisenbahngleise. In "Cbild's Play 3" wird die Killerpuppe Cbucky mit blauer Farbe bespriibt; der Hohepunkt des Films ist eine Szene, in der ein Junge beinahe von einem Gei sterzug iiberfahren wird. Der V ater eines der Jungen batte neben diesem Film iiber 400 weitere Horrorvideos in den Jahren zuvor ausgelieben. Die britiscbe Regierung bat daraufhin im April 1994 eine neue Bestimmung ins Strafge setz aufgenommen, nacb der die britiscbe Filmbewertungsstelle BBFC bei der Vergabe von Lizenzen fiir den Heimvideomarkt die "psychologischen Auswirkungen von extremer Gewalt auf Kinder" zu beriicksichtigen bat. Sie bat femer zu entscbeiden, ob einzelne Videos ein fiir Kinder "ungeeignetes Vorbild" propagieren.4 Nicbt nur fiktive sondem aucb reale Taten werden of fenbar nacbgeahmt. Die Scbiilerin aus Halle, die sicb vor einiger Zeit ein Ha kenkreuz in den Arm ritzte und Recbtsradikale dafiir verantwortlicb macbte, fand mittlerweile ebenfalls Nacbahmer. 5 Im Zusammenbang mit der anstec- 2 Vgl. schon Rost (1912); siehe auch die Uberblicke in Pell & Watters (1982) oder Robbins & Conroy (1983). 3 Also den Vorlăufern der heutigen elektronischen Medien. 4 Medien und Gewalt (1994); Krtinig (1994). 5 Die Frankfurter Allgemeine berichtete am 22. 1. 1994 von einem 15-jăhrigen Tiirken, der sich ebenfalls ein Hakenkreuz in den linken Oberarm ritzte und Rechtsradikale dafiir ver- 8 kenden Wirkung rnedial verbreiteter Gewalt wird die Rolle der Medien bei der Zunahrne von Gewalt gegen Auslănder und Asylbewerber diskutiert, die Gegenstand der vorliegenden Studie ist. Trotz der iiberzeugend klingenden ernpirischen Befunde sind die Stu dien zur Nachahrnungwirkung der Medien nicht unurnstritten. Der Vergleich von Medienberichterstattung und Selbstrnord- oder Mordstatistiken iiber einen lăngeren Zeitraurn wird vor allern deshalb kritisiert, weil die Verbin dung zwischen Medienkonsurn und Nachahrnungstat nur indirekt nachgewie sen und irn strengen Sinne keine Kausalităt aufgezeigt werden kann. Bezogen auf die Eisenbahnselbstrnorde bedeutet dies, daB beispielsweise nicht sicher gestellt ist, ob die Selbstrnărder jener Zeit die Sendung auch tatsăchlich ge sehen haben und sich an dern Selbstrnord des Schiilers Claus Wagner orien tiert haben. Dariiber hinaus kănnen bei einern Vergleich zweier Zeitreihen Drittvariablen nicht ausgeschlossen werden. Beispielsweise kănnte der An stieg der Selbstrnordraten auf eine Erhăhung der Arbeitslosenquote oder auf andere soziale Verănderungen zuriickgefiihrt werden. Mit anderen Worten ist mit Zeitreihenvergleichen kein letztlich giiltiger Kausalnachweis zu fiihren. Dies kănnen nur Laborexperirnente leisten, in denen alle beteiligten EinfluB faktoren streng kontrolliert werden. 6 Es gibt jedoch Gegenstandsbereiche, die sich sowohl einer experirnen tellen Zugangsweise als auch einer Feldstudie weitgehend verschlieBen. Hierzu gehăren auch verschiedene Bereiche von Gewalt. Es wăre beispiels weise ethisch unvertretbar, den EinfluB der Medien auf die Selbstrnordbereit schaft von Rezipienten experirnentell zu untersuchen. Falls rnan einen Nach ahrnungseffekt finden wiirde und nur ein einziger der beteiligten Versuchs personen einen Selbstrnordversuch unternehrnen wiirde, kănnten die Unter suchungsergebnisse diese Konsequenzen auf keinen Fali rechtfertigen. Ăhn liche ethische Einschrănkungen gel ten, wenn rnan den EinfluB der Medienbe richterstattung auf die Gewaltbereitschaft von Terroristen und Vergewalti gern oder auf Rassenfeindseligkeiten experirnentell untersuchen wollte. Aber nicht nur die Ethik wissenschaftlichen Handelns schrănkt die Măglichkeiten von Experirnenten und Feldstudien ein. Die Gewaltbereit- antwortlich machte (vgl. auch Der Spiegel, 3/1994, S. 59). Zu ăhnlichen Făllen siehe Jesse (1993, S. 106). 6 Die Nachteile von Laborexperimenten auf der einen Seite und von Feldstudien auf der an deren Seite fiihren in der Rege! nicht dazu, daB eine Methode der anderen generell vorge zogen wird. Stattdessen wird argumentiert, daB Laborexperimente, Feldstudien und Se kundăranalysen im groBen und ganzen zu ăhnlichen Ergebnissen kommen, wenn sich eine Theorie als zutreffend erweist. 9 schaft einzelner gesellschaftlicher Gruppen zu untersuchen, ist nur dann tiber kontrollierte Experimente moglich, wenn sich diese Gruppen einwandfrei be stimmen lassen, sie Kooperationsbereitschaft ftir eine Untersuchung zeigen und sie ihr Verhalten auch unter den Bedingungen einer kontrollierten Unter suchung ăuBern wtirden. Dies ist beispielsweise in hohem MaBe bei Kindern gegeben, deren Gewaltbereitschaft nach Medienkonsum hăufig untersucht wurde. Bei Terroristen oder deren Sympathisanten sind diese Bedingungen nicht ohne weiteres gegeben, obwohl bei Terroranschlăgen ebenfalls von ei ner hohen Nachahmungsrate auszugehen ist (vgl. Brosius & Weimann, 1991). Es verbietet sich auch, eine soziodemographisch ăhnliche Gruppe zu untersuchen, weil Terroristen vermutlich nicht mit einer solchen Gruppe ver gleichbar sind und somit die Ergebnisse einer solchen Untersuchung nicht tibertragbar wăren. Die genannten Probleme gelten in ăhnlicher Weise auch ftir die Gruppe von Personen, die wir in unserer Studie untersuchen wollen, nămlich diejenigen Bundesbtirger, die Straftaten gegen Auslănder und Asyl bewerber aus fremdenfeindlichen Motiven begehen. Zum einen ist diese Gruppe nicht klar zu definieren. Viele fremdenfeindliche Straftaten gesche hen offensichtlich aus einer spontanen Eingabe heraus und werden in der Gruppe vertibt (vgl. Willems, Wiirtz & Eckert, 1993).7 Die Mehrzahl der Tater stammt offenbar nicht aus einem kriminellen Milieu, sondern aus an sonsten unauffălligen sozialen Kontexten (vgl. Willems, Wtirtz & Eckert, 1993). Zum anderen ist fremdenfeindliches Verhalten nur sehr schwer unter kontrollierten Bedingungen nachweisbar. Viele Menschen werden mogliche fremdenfeindlichen Einstellungen in einer wissenschaftlichen Untersuchung kaum zugeben und schon gar nicht entsprechendes Verhalten zeigen. Gerade im Zusammenhang mit den gegenwărtigen fremdenfeindlichen Straftaten wird die Rolle der Medien kontrovers diskutiert. Die einen betonen die Notwendigkeit, daB Medien gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen und kommentieren und nicht etwa in Schweigen verfallen. Die anderen sehen die Gefahr, daB durch die Berichterstattung Nachahmungstaten gefordert werden, daB also gewaltbereite Personen aufgrund der Berichterstattung erst auf die Idee kommen, ebenfalls gegen Auslander und Asylbewerber gewalt tatig vorzugehen (vgl. Bundeskrimimalamt, 1993; Schreiber, 1993). Die Ge fahr der Nachahmung erscheint vielen intuitiv einleuchtend. Daten, die ein solches Phanomen belegen konnen, fehlen allerdings weitgehend. Die vorlie- 7 Die Autoren stellten fest, daB 90 Prozent aller fremdenfeindlichen Straftaten in der Gruppe, nur sechs Prozent dagegen als Einzeltat begangen werden. 10