Leonie von Alvensleben Erzähler und Figur in Interaktion Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz Band 139 Leonie von Alvensleben Erzähler und Figur in Interaktion Metalepsen in Homers Ilias Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. ISBN 978-3-11-079064-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079105-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079110-5 ISSN 1862-1112 Library of Congress Control Number: 2022936949 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhaltsverzeichnis Dank VII 1 Einleitung 1 1.1 Rhetorische und narrative Metalepse 3 1.2 Die narrative Metalepse in der antiken Literatur 5 1.3 Mediale Bedingungen metaleptischen Erzählens in der Ilias 10 1.4 Narrative Kommunikation 13 1.5 Erzähler-Figuren-Interaktion und metaleptische ‚Echos‘ 16 2 Der ‚philachilleische‘ Erzähler: Metaleptische Kommunikation mit Achill 23 2.1 Erste Annäherung: Achill als ‚Kommentator‘ des Erzählers (18.182) 26 2.2 Ὦ Πάτροκλε: Figuren- und Erzähler-Anrufungen des Patroklos (16. Gesang) 33 2.3 Achills Gleichnisse: Begegnungen mit dem Erzähler ‚auf Augenhöhe‘? 49 2.4 Frontalbegegnung? Mit- und Gegeneinander zwischen Erzähler und Achill 86 2.5 Zusammenfassung 118 3 Weitere Formen von Erzähler-Figuren-Interaktion in der Ilias 121 3.1 Metaleptisches Wissen: Erzähler-Echos in Figurenrede 127 3.2 Metaleptisches Handeln? Figuren als Stichwortgeber des Erzählers 169 3.3 Metaleptischer Einspruch: Der Erzähler widerspricht 193 3.4 Zusammenfassung 207 4 Weitere Metalepsenformen in der Ilias 209 4.1 ‚Metalepse des Autors‘ – Iris’ anonymer Auftraggeber (3.121–140) 209 4.2 Eine Figur nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand (Achill, 21.273–283) 217 4.3 Sprechen Figuren über die Ilias? Metalepsen in Figurenrede 231 4.4 Metaleptische Spiegelungen 236 4.5 Zusammenfassung 262 5 Fazit 265 VI Inhaltsverzeichnis Bibliographie 269 Sachregister 285 Stellenregister 287 Dank Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im Februar 2021 an der Georg-August-Universität Göttingen verteidigt habe. Ich danke Heinz-Günther Nesselrath für seine beständige Unterstützung und Hilfsbereitschaft während des gesamten Projektes, Irene de Jong für die motivie- rende Betreuung in der Phase der Verschriftlichung und meiner germanistischen Betreuerin Simone Winko für ihre klugen Hinweise vor allem in der Phase der Konzeption. Den Teilnehmer:innen der Kolloquien meiner drei Betreuer:innen verdanke ich viele wichtige Hinweise und gute Gespräche. Katharina Luchner danke ich dafür, dass sie mich für das Thema dieser Arbeit begeistert hat. Für die finanzielle und ideelle Betreuung bin ich dem Evangelischen Studienwerk zu Dank verpflichtet. Torben Behm danke ich für die wertvollen formalen Hinweise und Korrekturen. Schließlich danke ich Jörg von Alvensleben für seine liebevolle und grenzenlose Unterstützung in allen Phasen dieser Arbeit. Göttingen, April 2022 Leonie von Alvensleben https://doi.org/10.1515/9783110791051-203 1 Einleitung In der Ilias wird sowohl die Erzähler- als auch die Figurenrede von derselben Stim me gesprochen – traditionell wird dies als Stimme des Dichters Homer ver- standen, während Narratolog:innen diese Stimme der homerischen Erzählinstanz zuweisen.1 Erzähler- wie Figurenrede sind jedoch deutlich voneinander getrennte Bereiche, und diese Trennung ist auch fest im Epostext verankert – sie lässt sich sowohl sprachlich nachvollziehen als auch, in einer konkreten Vortragssituation, intonatorisch: Ein vortragender Sänger kennzeichnet die Übergänge zwischen Erzählerrede und Figurenrede, indem er seine Stimme für die Länge der Figuren- rede anders moduliert.2 Wir können sogar sagen, der Sänger wird zu der Figur, deren Rede er gerade spricht.3 Auf diese Weise treten die Figuren des Epos geradezu leibhaftig aus dem Epostext hervor, und es entsteht – in der auktorialen Einstimmigkeit – eine Mehr- stimmigkeit: Der Erzähler und die Figuren treten in Interaktion miteinander. Da Erzählerrede und Figurenreden in der klassischen Narratologie auf zwei verschie- denen Erzählebenen verortet werden, kann eine Interaktion zwischen Erzähler und Figuren als metaleptisch (ebenenüberschreitend) bezeichnet werden. Darauf werde ich in den theoretischen Vorüberlegungen näher eingehen. Im Laufe der vorliegenden Arbeit wird deutlich werden, dass der vornehm- liche ‚Interaktionspartner‘ des homerischen Erzählers die Figur Achill ist. Zwi- schen Achills Figurenrede und der Erzählerrede gibt es besonders viele Bezüge, ja, es lassen sich zwischen ihnen sogar Dispute und Widersprüche feststellen. So verleiht die Erzähler-Figuren-Interaktion (nicht nur mit Achill, sondern auch mit den anderen Figuren der Ilias) dem Epostext eine immanente Dialogizität. Die vorliegende Studie soll herausarbeiten, wie sich metaleptische Interaktivität in dem uns vorliegenden Epostext manifestiert und welche interpretativen Schlüsse aus ihr gezogen werden können. 1 Jüngst haben Tilg 2019 und Grethlein 2021 dafür plädiert, den Erzählerbegriff zugunsten des Au- torbegriffs wieder aufzugeben. In der vorliegenden Untersuchung werde ich am Erzählerbegriff fest- halten, da die wenigen Informationen, die die Erzählstimme über sich selbst preisgibt (siehe dazu de Jong 1987a: 44 f.), nicht automatisch auf den Dichter selbst zu beziehen sind. Vielmehr ist die Er- zählerfigur immer eine (idealisierte) Konstruktion, die die dichtende Person von sich selbst bildet. 2 An einigen Stellen gebrauche ich zwar (möglichst) gendergerechte Begriffe, aber oft verwende ich aus textökonomischen Gründen auch das generische Maskulinum, etwa beim ‚Sänger‘ oder ‚Adressaten‘ (und zwar unabhängig von der Frage, ob das Epos in der Antike tatsächlich vor allem von Männern gesungen und gehört wurde). Mir ist bewusst, dass dies zu Lasten von gen- dergerechter Sprache geht, jedoch sehe ich momentan keine bessere Alternative im Deutschen. 3 Zur mimesis als impersonation siehe zuletzt Grethlein 2021. https://doi.org/10.1515/9783110791051-001 2 1 Einleitung Die Metalepse, in etwa übersetzbar mit ‚Erzählebenenüberschreitung‘, erfreut sich in mehreren philologischen Fachrichtungen einer anhaltenden Beliebtheit, seit einem guten Jahrzehnt auch auf dem Feld der Klassischen Philologie.4 Prin- zipiell sind bei der Metalepsenforschung zwei verschiedene Zugänge zu beob- achten: Es kann entweder der grenzüberschreitende oder der grenzaufweichende Charakter einer Metalepse im Vordergrund stehen. Im ersten Fall ist die Meta- lepse eine echte Transgression: Zwischen zwei (oder mehreren) Erzählebenen ist eine klare Grenze erkennbar, welche durch die Überschreitung noch zusätzlich betont wird. Die Metalepse erzielt einen relativ starken Effekt – in etwa das, was Genette einst als ‚bizarre Wirkung‘ beschrieben hat.5 Im zweiten Fall hingegen ist die Metalepse Ausdruck beziehungsweise Ursache verschwimmender Grenzen zwischen Erzählebenen: Es kommt zu einem Austausch zwischen den Ebenen, wodurch die Grenze dazwischen nicht betont, sondern vielmehr nivelliert wird. Folglich ist der transgressive Charakter der Metalepse gar nicht oder nur schwach ausgeprägt und somit auch die Metalepse selbst eher ‚still‘.6 Tendenziell ist der erste Fall eher in moderner Literatur zu finden (metafik- tionale, illusionsstörende ‚Schock-Metalepsen‘, beispielsweise: eine Figur tötet den Erzähler), während der zweite Fall eher mit antiker Literatur assoziiert wird. Auch die vorliegende Studie beschäftigt sich vorwiegend mit Fällen metalepti- schen Erzählens, bei welchen sich die Ebenenüberschreitung ohne starken, illu- sionsstörenden Effekt vollzieht und oft überhaupt erst durch die narratologische Beschreibung nachvollziehbar wird. Es handelt sich um illusionskompatible (oder sogar illusionsfördernde) Metalepsen wie beispielsweise die Apostrophie- rung einer Figur durch den Erzähler: Zwar gehört der Erzähler narratologisch betrachtet einer anderen Erzählebene als die Figur an, jedoch kann er seine Ebene mühelos verlassen, um eine ‚Nähe‘ zu seiner Figur herzustellen.7 Gerade für mündliche Erzählliteratur wie das homerische Epos, welches eine performative Aufführungssituation impliziert, ist solch ein ‚ebenendurchlässi- ges‘ Erzählen typisch. Da die homerischen Figuren als überzeitliche Heldinnen 4 Vgl. vor allem de Jong 2009, Eisen/von Möllendorff 2013a und Matzner/Trimble 2020a. 5 Genette 32010: 152. 6 Vgl. dazu Eisen/von Möllendorff 2013b und unten Kap. 1.3. 7 Jüngst hat Jonas Grethlein sogar dafür argumentiert, dass sich der Erzähler (Autor) und die erzählte Welt aus der Sicht der Antike so nahe seien, dass sie auf derselben ontologischen Ebene angesiedelt werden, vgl. Grethlein 2021. Grethlein zieht daraus den Schluss, dass das antike Verhältnis zwischen ihnen „decisively unmetaleptic“ (224) sei. Die Interpretationen der vorlie- genden Studie sollen jedoch zeigen, dass die Kategorie der Metalepse für Annäherungen und ‚Begegnungen‘ zwischen Erzähler und Figuren durchaus sinnvoll sind. Erzähler-Figuren-Nähe als fruchbares Untersuchungsgebiet der antiken Metalepsenforschung klingt auch an in Budel- mann 2020: 61 und Matzner/Trimble 2020b: 248 f. und 269. Siehe ausführlicher dazu Kap. 2 und 3.