ebook img

Ernst Haeckl - Ein Plädoyer für die wirbellosen Tiere und die biologische Systematik PDF

66 Pages·1998·6.4 MB·German
by  AeschtErna
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Ernst Haeckl - Ein Plädoyer für die wirbellosen Tiere und die biologische Systematik

© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Ernst HAECKEL - Ein Plädoyer für die wirbellosen Tiere und die biologische Systematik E. AESCHT Abstract 20 1 Einleitung 20 2 Die statische Ordnung der Lebewesen 22 3 Die dynamische Ordnung der Lebewesen im 19. Jahrhundert 24 4 Ernst HAECKEL als phylogenetischer Systematiker 25 5 Abriß der Radiolarien-, Schwamm- und Medusenforschung bis Ende des 19. Jh.s.27 5.1 Die Strahlentierchen (Radiolarien) 27 5.2 Die Schwämme (Porifera) 32 5.3 Die Nesseltiere (Cnidaria) 37 6 Entwicklungen im 20. Jahrhundert 40 6.1 Artbegriff, Biosystematik und Evolutionstheorie 40 6.2 Die Radiolarien 42 6.2.1 Biologie und Bedeutung 42 6.2.2 Forschungsschwerpunkte im 20. Jahrhundert 45 6.3 Die Schwämme 49 6.3.1 Biologie und Bedeutung 49 6.3.2 Forschungsschwerpunkte im 20. Jahrhundert 54 6.4 Die Nesseltiere 56 6.4-1 Biologie und Bedeutung 56 6.4-2 Forschungsschwerpunkte im 20. Jahrhundert 61 6.5 Die Rippenquallen (Ctenophora) 62 7 Schlußbemerkungen 63 7.1 Von der „klassischen" Naturgeschichte zur Geschichte der Natur? 63 7.2 Erkenntnistheoretische Fallstricke 66 7.3 Was ist forschungs- und förderungswürdig? 67 8 Dank .69 9 Zusammenfassung 70 Stapfia 56. 10 Literatur 71 zugleich Kataloge des OÖ. Landes- museums, Neue Folge Nr. 131 (1998), Anmerkungen 84 19-84 19 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Abstract The present paper gives some background Ernst HAECKEL - an Appeal for the information on HAECKEL'S (and others) Invertebrates and the Biological Syste- attempts to dissolve systematics into matics. phylogenetics and shortly describes the state of knowledge concerning his prefer- At the end of the 20th century it is - red groups of single-celled protists (Proto- like in the middle of the 19th century - zoa), sponges (Porifera) and cnidarians a frequent practice to regard biological (Cnidaria) about 100 years later. It is systematics as outdated. Ernst HAECKEL shown that the re-interpretation of static (1834-1919) likewise had other priorities, morphological characters and overall namely the search for phylogenetic (genea- similarity for descent is limited and requi- logical) relationships, however he has res methods of its own embracing e. g. created about 2000 genus names and has ualitative novelties (apomorphies) instead described more than 3500 species of of possible convergent resemblance or mainly radiolarians, calcareans, scypho- common ancestral (plesiomorphic) charac- zoans, cubozoans, and siphonophorans. ters. The inventory and reconstruction of After DARWIN'S "Origin of species" of phylogeny, particularly those of inverte- 1859 he has therefore been one of the first brates, are far from a preliminary end. scientists applying the gradual transform- Biological systematics thus represents an ation of species and the newly discovered important research field otherwise evolu- criterion for biological classification, the tion and protection of biological diversity common ancestry, to various taxa of ani- (biodiversity for short) remains an un- mals on key positions of the evolution. resolved enigma of natural science. 1 und den übrigen Belangen der Biologischen Einleitung Systematik im Unterricht an den höheren Schulen und in der Lehre an den meisten Ende des 20. Jahrhunderts „besteht über Universitäten kaum ausreichend Beachtung Ziele und Grundlagen der biologischen Syste- geschenkt" (WEBERLING & STÜTZEL 1993: matik selbst bei vielen Biologen eine mitunter VII). Ob diese Situation zutrifft und eventuell sehr gepflegte Unkenntnis, mit der Konse- sogar gerechtfertigt ist, soll anhand einer kur- quenz, da3 die Sysremarik (oder Taxcnunnie) zen Geschichte des diSeremierenilen und ord- weithin als überholt und überflüssig angese- nenden Denkens sowie am Beispiel von drei hen wird. In einer Zeit des zunehmenden interessanten Tiergruppen an Schlüsselstellen Interesses an der Ökologie, ,die ihrerseits auf der Evolution, den einzelligen Strahlentier- taxonomische Grundlagenforschung zwin- chen (Radiolarien), den Schwämmen (Pori- gend angewiesen ist', wird der notwendigen fera) und den Nesseltieren (Cnidaria), Kenntnis der vielfältigen Organismenarten beleuchtet werden. 20 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Der Begriff Taxonomie mag fremd klin- bestimmten Tiergruppe. Aber auch der Vor- gen, ist aber sehr alt und wurde von A. P. de gang selbst, das Einordnen von Tieren in CANDOLLE (1813) zum ersten Mal verwendet; Gruppen oder Reihen, wird Klassifikation v. a. im angelsächsischen Bereich wird er häu- genannt. fig deckungsgleich (synonym) mit dem Termi- Obwohl HAECKEL (1866a: 39, 40) „syste- nus Systematik gebraucht. Die Taxonomie ist matische Kleinigkeitskrämerei" und „Species- die Theorie und Praxis der Klassifikation, fabrikation" polemisch bekämpfte und die während Systematik die Mannigfaltigkeit von Artunterscheidung als „ganz untergeordnete Organismen sowie alle Beziehungen und Ver- Aufgabe" betrachtete, hat er in seiner Lauf- wandtschaften zwischen ihnen erforscht bahn mehr neue wissenschaftliche Namen (SIMPSON 1961; MAYR 1975; MAYR & geschaffen als die meisten Naturforscher vor ASHLOCK 1991; MlNELLl 1993). Systematik ist und nach ihm, nämlich allein an die 2000 der umfassende Begriff und schließt den Gattungsnamen und hunderte Namen für Begriff der Taxonomie ein. Beide Begriffe feh- höhere Kategorien, beschrieben hat er nach len in einem ersten umfassenden Versuch der seinen eigenen Zählungen mehr als 3500 neue Systematisierung der biologischen Wissen- Arten. Die Motivation für seinen Forscher- schaften, den Ernst HAECKEL 1866 unter- drang und die Hauptziele dabei faßt HAECKEL nahm; dies scheint paradox, so als würde er (1916: 5f.) 82jährig treffend selber zusammen: alle Bestrebungen älterer Naturforscher, vor „Während ich in diesen größeren und zahlrei- allem jene von Carl LINNAEUS (1707-1778, chen kleineren Schriften fünfzig Jahre hin- seit 1762 von LlNNE), unberücksichtigt lassen. durch den Neubau der Phylogenie3 immer Als Begründung nannte er, daß sich „nur sicherer und brauchbarer auszugestalten dadurch... die Kunst der Formbeschreibung zur bestrebt war, versuchte ich gleichzeitig, ihr Wissenschaft der Formenkenntniss [erhebt], durch spezielle systematische Bearbeitung ein- dass der gesetzmässige Zusammenhang in der zelner größerer Tiergruppen ein festes dauern- des Fundament zu geben. Zu diesem Zwecke Fülle der einzelnen Erscheinungen gefunden wird"1 (HAECKEL 1866a: 5). Dies spricht wohl habe ich viele Jahre hindurch mehrere Tier- klassen, die ein besonderes morphologisches all jenen aus der Seele, für die im Vordergrund Interesse besitzen, eingehend studiert und steht, daß in der Systematik scheinbar nur ein durch vollständige Benutzung der betreffen- System das andere abgelöst hat, ohne daß ein den Literatur, sowie durch umfassende Beob- einheitliches, allgemeingültiges Ergebnis achtungen ein möglichst vollständiges Bild erzielt worden wäre, geschweige denn abseh- von ihrer Organisation und Entwicklung, bar ist. HAECKEL versuchte jedoch als einer der ihrer systematischen Gliederung und Ver- ersten Zoologen bewußt den Rahmen der klas- wandtschaft zu gewinnen gesucht. So entstan- sischen (LlNNEschen) Systematik zu sprengen, den im Laufe von 33 Jahren (1856-1889) vier indem er viele andere Aspekte, vor allem die umfangreiche Monographien: I. die Radiolari- Individualentwicklung (Ontogenese oder en (1856-1887), II. die Calcispongien (1867- Ontogenie2) einbezog und die Zoologie einmal 1872), III. die Medusen (1864-1882) und IV. vom Sachgebiet her (Allgemeine Zoologie) die Siphonophoren (1866-1888). Der Wert und zum anderen von der Tiergruppe her einer solchen kompleten Monographie, wenn (Spezielle Zoologie) betrachtete. Unter Spezi- sie möglichst sorgfältig und gewissenhaft eller Zoologie versteht man in bestimmten durchgeführt ist, beruht darauf, daß sie eine Fachkreisen auch heute die Wissenschaft von vollständige Darstellung aller gesammelten der Vielgestaltigkeit der Tiere oder die Wis- Kenntnisse zu einem bestimmten Zeitpunkte senschaft von den Tieren unter systemati- gibt und daher allen nachfolgenden Forschern schen Gesichtspunkten (z. B. GRÜNER 1993; als sichere Basis und als Ausgangspunkt weite- WESTHEIDE &. RIEGER 1996). Spezielle Zoolo- rer Untersuchungen dienen kann. ... Eine sol- gie ist demnach Systematik im weiteren Sinn che phyletische Monographie, welche in der und Taxonomie die Systematik im engeren wahren Stammesverwandtschaft der zusam- Sinne. Als Klassifikation bezeichnet man ein- mengehörigen Formen die natürlich Basis für mal das Ergebnis taxonomischer Arbeit, also ihre Klassifikation erblickt, hat einen viel das System oder eben die Klassifikation einer 21 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at höheren intellektuellen Wert als eine „ursprünglichen Idee", die er „Archetypus" gewöhnliche rein deskriptive Monographie". nannte (ZIMMERMANN 1953; SCHMITT 1986). Von welchen praktischen und theoreti- Von PLATON stammt das Prinzip der Fülle mit schen Voraussetzungen HAECKEL bei seiner dem Lehrsatz von der vollständigen Verwirkli- wissenschaftlichen Arbeit ausging und wie der chung alles gedanklich Möglichen in dieser Stand der Forschungen hundert Jahre später Welt, während auf ARISTOTELES das Prinzip ist, speziell was die von ihm untersuchten der Kontinuität zurückgeht; seine Definition Tiergruppen betrifft, versucht dieser Beitrag des Kontinuums lautet: „Man nennt etwas herauszuarbeiten. kontinuierlich, wenn die Grenze von zweien, wo sie sich berühren und sich aneinander schließen, völlig zusammenfällt" (zit. n. LOVE- JOY 1993: 73f.). Die Natur verweigert sich jedoch unserem Wunsch nach klaren Grenz- Die statische Ordnung der ziehungen (vgl. Kap. 7.2). Lebewesen Unterschiede zwischen alten und neuen Benennen und Klassifizieren gehören zu Systemen sind lediglich durch die Wahl des den Hauptfunktionen der Sprache. Nachge- Ordnungsprinzips bedingt. Oft wurde nach wiesen sind Bemühungen um eine Ordnung der Nützlichkeit für die menschliche der Lebewesen seit der Antike. ARISTOTELES Ernährung und die Heilmittelkunde klassifi- (384-322 v. Chr.) kannte über 500 Tierarten ziert; Conrad GESSNER (1516-1565) ordnete und ordnete sie nach dem Grad ihrer „Perfek- in seiner „Historiae Animalium" die Arten tion" in einem Stufenleitersystem (scala natu- alphabetisch, wie es in vielen Kräuterbüchern ra), das von den „niederen Tieren" zu den üblich war. Später wurde vorwiegend nach „höheren" führte (vgl. Ax 1985). Seit damals äußerlichen Ähnlichkeiten gruppiert. Unter behielten die aristotelischen Kategorien oder den zahllosen aufgestellten Systemen sind die 5 Grundbegriffe (Universalien) zum Ordnen sogenannten „Stufenleitern" (scala naturae) der Dingwelt ihre Bedeutung für die Pflanzen- besonders wichtig, weil sie das Bild vom und Tiersystematik. Die Begriffe Genus und Stammbaum nachhaltig beeinflußt haben. In Species (Gattung und Art), differentia den „Stufenleitern" wurden alle unbelebten (Unterschied), proprium (Eigentümlichkeit) und belebten Naturkörper (Mineralien - und accidens (Zufälligkeit) enthielten die Kri- Pflanzen - Tiere) in aufsteigender Folge terien zur Gruppierung der Einzelwesen (spe- lückenlos und linear angeordnet (USCHMANN cies) unter allgemeine Begriffe (genus). Mit 1967). Im Mittelalter errichtete man Stufen- seinem empirischen Vorgehen, das die folgen, die über den Menschen hinaus Erkenntnis der konkreten Welt als Ausgangs- einschließlich der Engel und Gottes das ganze punkt nahm, stand ARISTOTELES im Gegen- Universum umfaßten. Angeregt durch das satz zu PLATON, der in seiner Ideenlehre, „Kontinuitätsgesetz" des Philosophen LEIBNIZ Wesen und Konkretes völlig voneinander („Die Natur macht keine Sprünge", „Kette der getrennt hatte. Die platonische Anschauung Wesen") wurden besonders im 18. Jahrhun- der Idee, des Typus und die aristotelische derts zahlreiche neue Stufenleitern entwor- Begriffspyramide von Ober- und Unterbegriff fen, wobei jedoch bereits Zweifel an der Gattung (genus) und Art (eidos) waren für Berechtigung der linearen Anordnung auf- die geschichtliche Entwicklung der Biologie tauchten. rweifellos von großer Bedeutung. Beispiels- Die Erforschung und Kolonialisierung fer- weise suchte GOETHE nach dem „Urtyp" der ner Länder durch die europäischen Handels- Tiere und vor allem nach der „Urpfianie", die ranonen cifenbaite eine immense Vteliali er zunächst als wirkliche Pflanre auf seiner neu entdeckter Pflanzen und Tiere. Mit der Italienreise m finden hoffte. Nachdem seine raschen Zunahme der Sammlungsbestände Suche erfolglos geblieben war, bedeutete die steigerte sich auch das Bedürfnis nach Urpflanze für ihn Symbol, Idee, Typ der Pflan- Beschreibung und Übersicht. Nach seinen ze. Auch Richard OWEN (1804-1892) suchte, Anfängen bei den Botanikern Andrea CESAL- sich auf PLATON berufend, nach der PINO (1519-1603), Joseph Pitton de ToURNE- 22 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at FORT (1656-1708) und John RAY (1627-1705), treten, wonach (1) Arten aus ähnlichen Indi- erreichte das Zeitalter der Klassifizierung sei- viduen bestehen, die dieselbe Essenz (eidos bei nen Höhepunkt in Carl ÜNNAEUS (1707- PLATO) gemeinsam haben; (2) jede Art von 1778) (vgl. MAYR 1984). Dem schwedischen allen anderen durch eine scharfe Diskonti- Botaniker ging es in erster Linie um die Über- nuität getrennt ist; (3) jede Art in der Zeit sichtlichkeit des Systems der damals bekann- konstant ist und (4) es strenge Grenzen für die ten rund 8500 Pflanzen- und 4200 Tierarten. mögliche Variation jeder einzelnen Art gibt Um diese zu erreichen, vernachlässigte er die (vgl. KRAUS & KUBITZKI 1982; MAYR 1984). unbedeutenden Varietäten als unvollkomme- Für das Entwicklungsproblem war dieser Art- ne Manifestation der jeder Art eingeschlosse- begriffder abgegrenzten, diskreten, relativ sta- nen Idee, führte die Kennzeichnung der Orga- bilen und objektiv vorhandene Einheiten nismen durch einen zweiteiligen lateinischen bedeutsam. Der gegenwärtig für viele biologi- Namen (binäre Nomenklatur) ein, vollzog sche Richtungen (Pflanzen- und Tierzüch- eine straffe, hierarchische Gliederung des tung, Evolutionsforschung, Taxonomie, Bio- Systems (Arten, Gattungen, Ordnungen, geographie, Verhaltensbiologie) wichtige Klassen), wählte leicht erkennbare Merkmale Begriff der Population, der Fortpflanzungsge- zum Unterscheiden der Gruppen und setzte meinschaft, existiert eigentlich schon, seit die die Konstanz der Arten voraus (vgl. SCHMITT „Art" als Gruppe von Individuen definiert 1986). Die Anordnung in einem überwiegend wurde, die sich miteinander fruchtbar ver- künstlichen System, bei dem Großgruppen mehren (z. B. RAY, BUFFON und CUVIER). durch ein Merkmal gekennzeichnet wurden, Damals war diese Definition eines der Argu- erleichterte die Aufgabe der Identifizierung mente für Artkonstanz, da mit der Fortpflan- beträchtlich. LlNNES System bildete eine zung erfahrungsgemäß die konstante Verer- enkaptische Hierarchie, in der die höheren bung artspezifischer Merkmale verbunden war, Kategorien die zugehörigen niederen einsch- woran Systematiker interessiert waren. Viele ließen, ohne eine Rangfolge zu unterlegen; sahen im Artbegriff aber eher eine nützliche, dadurch stand es im Gegensatz zu den Stufen- aber künstliche Methode der Einteilung, die leiter-Systemen, die den Organismen oder in der Natur keine Entsprechung hatte. zumindest den höheren Kategorien eine Rang- Der Übergang von den künstlichen Syste- folge zuwies. Trotz seiner Bedeutung für die men zum natürlichen (phylogenetischen) Systematik war das LlNNEsche Schema teil- System im heutigen Sinn vollzog sich an weise ein Rückschritt, da er die Bedeutung der einem unscheinbaren Punkt, nämlich dort wo relativ großen Wirbeltiere für die Systematik „species" (Art) nicht mehr als klassifikatori- noch weiter überbewertete und die Fülle der scher, sondern als biologischer Begriff verstan- wirbellosen Arten in den Insekten und Ver- den wurde - als reale genealogische Verwandt- mes (Würmer) vereinigte. LlNNE sah das Ziel schaft. Fungiert er als klassifikatorischer der Systematik darin, die göttliche Weltord- Begriff, so sind die unter ihm zusammengefaß- nung, die weder Zufall noch Notwendigkeit ten Individuen nach irgendwelchen, als kennt, wiederzugeben und ein „natürliches wesentlich gesetzte, Merkmalen zu einer Art System" als Spiegel dieses Schöpfungsplanes vereinigt, also nur subjektiv zusammengefaßt. zu schaffen. Je nachdem, was als „natürlich" Fungiert er dagegen als biologischer Begriff, so interpretiert wurde, entstanden bis Mitte des bilden die entsprechenden Individuen selbst 19. Jahrhunderts unzählige Systeme und aufgrund ihrer Lebensweise eine Art; der brachte die Systematik als reine Ordnungswis- Begriff Art meint somit einen objektiven senschaft in Mißkredit. Zusammenhang unter Individuen. Die Zuord- Neben dem Streben nach Inventarisie- nung von Individuen zu Arten ist dann keine rung und Katalogisierung der Lebewesen hat künstliche, aus diagnostischen Bedürfnissen stets die Frage nach dem bestimmenden eingeführte Etikettierung, sondern gedankli- Wesen der Art eine wichtige Rolle gespielt, che Reproduktion ihrer Daseinsweise im wenngleich mit wechselnder Intensität (vgl. Zusammenhang einer Art (LEFEVRE 1984)• Kap. 6.1). Bis in die Mitte des 19. Jahrhun- Dieses völlig neue Artkonzept entwickelte derts wurde ein typologisches Artkonzept ver- sich ab 1750, die Sprengung des konstanten 23 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Artbegriffs beruht im wesentlichen aufJean- immer mit aus Urzeugung entstandenen Ein- Babtiste de LAMARCK (1744-1829) und Char- zellern), aber keine „gemeinsamen" Vorfah- les DARWIN (1809-1882). ren. Der Mensch gehört demnach zu den älte- sten Arten, weil er am vollkommensten ist. Medusen würden zu den jüngsten gehören, weil sie erst wenig Zeit zur Umformung gehabt Die dynamische Ordnung der hätten. Lebewesen im 19. Jahrhundert DARWIN (1851-53) hatte sich eingehend mit den zeitgenössischen Tiersystemen befaßt Im Sinne der schon aus der Antike über- und seine wenig bekannte Revision der Ran- lieferten Auffassung, daß sich die Lebewesen kenfußkrebse (Cirripedia) war zweifellos eine in einer geradlinigen Folge (scala naturae) wichtige praktische und theoretische Voraus- ordnen lassen, stellte LAMARCK (1809) ein setzung für sein epochales Werk „Origin of lineares System der Arten auf, interpretierte species..." (1859). Die Notwendigkeit und es aber nicht statisch als bloßes Klassifikati- Mühen der taxonomischen Arbeit bringt er onsmittel, sondern dynamisch als eine laut dem Biographen Irving STONE (1981: geschichtliche Entwicklung. Und zwar nahm 431) sehr humorvoll zum Ausdruck: Dem er einen inhärenten Drang der Organismen Geologen Charles LYELL gegenüber erwähnt zur Vervollkommnung an: Durch Umweltver- DARWIN, „ich habe mir nie vorgestellt, wie änderungen werden neue Bedürfnisse erzeugt, viele verschiedenen Cirripedia-Arten es auf die die Lebewesen veranlassen, die bestimm- Erden gibt. Ich nahm an, Hunderte. Aber ten Organe stärker oder schwächer zu betäti- Tausende? Sie alle zu sezieren und zu beschrei- gen. Durch den Gebrauch oder Nicht- ben wird mich Jahre meines Lebens kosten". Gebrauch werden diese Organe mehr oder Seiner Frau gestand er nach Fertigstellung der weniger stark ausgebildet. Diese erworbenen Revision: „Ich fühle mich unaussprechlich Eigenschaften werden auf die Nachkommen erleichtert, mit meinem letzten Rankenfüßer vererbt. endlich fertig zu sein. Sollte ich noch zufällig auf einen stoßen, so werde ich mich einfach Neu an seiner Theorie der Arttransforma- umdrehen und weggehen". tion ist die Erkenntnis, daß die Verschieden- heit der Organismen nur erklärt werden kann, Mit DARWINS (1859) Evolutionstheorie wenn man ein sehr hohes Alter der Erde vor- entsteht die Biologie als potentiell theoretisch aussetzt, da er die Entwicklung der Arten als einheitliche, d. h. moderne Wissenschaft. langsamen Vorgang begriff. Auch seine Indem für DARWIN Formwandel und Anpas- Annahme der Wandelbarkeit der Arten sung untrennbar zusammenhingen, gelang es bedeutete eine Sprengung des ursprünglichen ihm, die gemeinsame Abstammung (Deszen- Artbegriffs. Die Schwächen lagen in der denz) und die historische Veränderung der Begründung: LAMARCK hatte seine Theorie Arten aus den dem Prozeß innewohnenden als Moment einer umfassenden Welterklärung Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, ohne auf ziel- konzipiert und zwar gemäß der deistischen gerichtete oder jenseitige Triebkräfte Bezug zu Weltsysteme, die Natur als in sich geschlosse- nehmen. Seine Theorie war damit gleichzeitig nes und unveränderliches Games begriffen, ein Schlag gegen die aristotelische Kategorie das sich als dynamisches Gleichgewichtssy- der Zweckursachen und gegen die platonische stem aus eigenen Kräften zu erhalten vermag. Doktrin von den idealen Formen in der Natur. Sein Hauptprinzip ist eine den Lebewesen Somit hat DARWIN die Ablösung der stati- eigene Fähigkeit zur Höherentwicklung (ein schen Welt des Schöpfungsglaubens durch die zielgerichteter Wtllensaki, das Bedürfnis als dynamische We't der Evc'aricm bersirkt- Bei Ursache der Organumbildung), die Artab- HAECKEL fielen diese Gedankengänge auf wandlung aufgrund der Anpassung dagegen fruchtbaren Boden, da er Schwierigkeiten bei nur ein ergänzenden Nebenprinzip. Rezente der morphologischen Abgrenzung mancher Arten stammen deshalb nicht voneinander Radiolarienformen aus eigener Erfahrung ab: Sie haben zwar alle „gleichartige" Vorfah- kannte (HAECKEL 1862). Nun war endlich ein ren (die Entwicklung beginnt bei LAMARCK schlüssiges Kriterium für die Gestaltähnlich- 24 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at keit natürlicher Gruppen gefunden, die Discomedusae gemeinsame Abstammung, und er ging sofort auf die Suche nach der genealogischen Ver- Rhiiostomeae Tae-\ / Lobalac wandtschaft der Lebewesen. Der bloßen Ähn- nialae JOuzostama/ > Ceptua, lichkeit in den künstlichen Systemen folgte Htuckeiüi. Cfuuyode/v Tamoya. \Jf~ AN die Homologie, die entwicklungsgeschicht- Cvdippt. Mamimalit J/Phjflon&daV lich gleiche Herkunft, als Ausdruck von Goyonida Abstammung. Liriopc MarsipordridaVN. V1 eae Calycozoa Lucerrutria.' Hai a/Juu Ernst HAECKEL als phylogenetischer Systematiker FlUlffUV leptomedusaeX HAECKEL hatte einige persönliche Eigen- Oculina. Siphonophora \J . TuriinoluL schaften, die ihn zu einem Systematiker prä- vl Perforate destinierten, nämlich eine exzellente Beob- 7.-J\ rtysaua achtungsgabe, eine artistische Hand beim Pvhy™). K \. Zeichnen, ein hoch differenziertes morpholo- Halirhoda gisches Problembewußtsein (vgl. Beitrag Aclinüi/ SCHALLER in diesem Band), einen systemati- Zoantfius Thalaaattihus schen Geist, eine kreative Sprache sowie Phy Selbstdisziplin, Konsequenz und Geduld (zu den naturgemäß auch vorhandenen negativen Tubidjirüu Eigenschaften vgl. Kap. 7 sowie die Biogra- , | Hydracluua/ phien von KRAUBE [1984, 1988]; USCHMANN [1984, 1985, 1986]; ERBEN [1990]). Vor allem die konsequente Arbeitsweise wird in einem Brief aus Messina deutlich: „Mein regulärer Lebenslauf in diesem kleinen behaglichen Winterquartier hat sich vorläufig zu folgender Zeiteinteilung gestaltet: sobald die erste Mor- -D"co- Tradiy- gendämmerung den Hafen erhellt, klopft es nudusoe an die Tür, und der Zoologische Leibmarinar, Domenico NlNA, holt mich an den Kai hin- unter und fährt mich in die Mitte des Hafens, wo ich zum Entsetzen der gesitteten Messine- Stammbaum der Coelenteraten sen (die wie die Neapolitaner nur im Juli und oder Acalfiplien(Zoophyten) August Bäder für möglich halten, und nicht entwvrfm u. gezeühnei von. ErnstHaedael. Jena.1866 mehr als 20 im Jahr!) mein kühles, erfri- schendes Morgenbad in der tiefblauen, klaren Salzflut nehme. (NB. Da ich von Ende Man dann die Arbeit des Tages vorbereite, er- Abb. 1: an beinahe täglich ein Seebad genommen scheint gewöhnlich um 8 Uhr der Kellner, Stammbaum der Coelenteraten oder habe, wird deren Zahl in diesem Jahr bald 200 Hohltiere (aus HAECKEL 1866b: Taf. 3). Domenico ALTHEIMER (ein verdorbener bayri- überstiegen haben, und allen Prophezeiungen Die Rippen- oder Kammquallen scher Mediziner, übrigens ein sehr guter (Ctenophora, s. links oben) werden zum Trotz bin ich dabei immer nur stärker, heute als eigener Tierstamm betrach- kräftiger und gesünder geworden!) Ich denke Kerl) und bringt mir mein Frühstück, aus tet. es noch den ganzen Winter durch fortzusetzen. Milchkaffee, Butterbrot und zwei Eiern beste- Nach dem Seebad besuche ich den hend. Nachher springe ich meist eben noch Fischmarkt, der sehr bequem grade unter mei- einmal zum Fischmarkt hinunter, um zu sehen, nem Fenster liegt, und springe dann meine ob inzwischen nichts Merkwürdiges noch 118 Stufen rasch wieder herauf. Während ich angekommen ist, und fange dann an zu mikro- 25 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at skopieren, ununterbrochen bis 41/2-5 Uhr ein nothwendiges praktisches Bedürfniss, und fortgesetzt und nur von den ab und zu erschei- diese Speciesbildung ist verständig und nenden Fischerjungen unterbrochen, die mir gerechtfertigt, so lange man sich nur ver- meine köstlichen Schätze bringen. Gegen 5 gegenwärtigt, dass sie eine künstliche ist, und Uhr Nachmittag werde ich, meist zu früh, zum nur auf unvollständigen Kenntnissen beruht" Mittagessen abgerufen, packe rasch die (HAECKEL 1866b: 340). Auch die „physiologi- Mikroskope zusammen und begebe mich in schen Verhältnisse ihrer Fortpflanzungsfähig- das Zimmer Nr. 1, wo meine beiden Stuben- keit [jener der Bastarde, Rassen oder Varietä- nachbarn, Dr. Edmund von BARTELS und der ten] sind quantitativ, nicht qualitativ ver- französische Gesandtschaftssekretär CLAVIER, schieden" (HAECKEL 1866b: 346). Seine sehnsüchtig auf mich warten. genealogische Begriffsbestimmung besagt: „Die Species oder organische Art ist die Unsere Tafel ist, wenigstens in Anbe- Gesammtheit aller Zeugungskreise, welche tracht sizilianischer Zustände, leidlich gut: unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Suppe, Fisch, sogenannter Braten (eigentlich Formen besitzen" (HAECKEL 1866b: 353). nur getrocknete Sehnen, Bänder und im günstigsten Fall Bindegewebe und Knochen!) „Alle Thier- und Pflanzenformen, die wir und etwas Früchte, dazu saurer Rotwein und als Species unterscheiden, besitzen ... nur eine zum Schluß eine sehr gute Tasse schwarzen relative zeitweilige Beständigkeit und die Kaffees, der als treffliches Anti-Boa sogleich Varietäten sind beginnende Arten. Daher ist wieder denk- und arbeitsfähig macht. Meist die Formengruppe der Art oder Species eben- plaudern wir aber noch ein wenig, was, da die so ein künstliches Product unseres analyti- Konversation nur in französischer Sprache schen Verstandes, wie die Gattung, Ordnung, geführt wird, meiner großen Ungeschicklich- Classe und jede andere Kategorie des Systems. keit in letzterer bedeutend aufhilft. Oft gehe Die Veränderung der Lebensbedingungen ich auch noch ein halbes Stündchen an den einerseits, der Gebrauch und Nichtgebrauch Kai hinunter und ergötze mich an dem See- der Organe andrerseits wirken beständig leuchten und dem Wellenplätschern, das mir umbildend auf die Organismen ein; sie bewir- immer ganz besondere Freude macht. Späte- ken durch Anpassung eine allmähliche stens um 71/2 Uhr sitze ich dann wieder an Umgestaltung der Formen, deren Grundzüge meinem Schreibpult, wo ich die Arbeit des durch Vererbung von Generation zu Genera- Tages nochmals durchgehe, die Notizen ver- tion übertragen werden. Das ganze System der vollständige und über die einschlagenden Fra- Thiere und Pflanzen ist also eigentlich ihr gen nachlese oder (wie heute abend) mich Stammbaum4 und enthüllt uns die Verhältnis- mit meinen Lieben in der Heimat unterhalte. se ihrer natürlichen Blutsverwandtschaft" Vor 12 Uhr komme ich nicht zu Bett, schlafe (HAECKEL 1882a: 40; Abb. 1). Gegen lineare dann aber auch ganz trefflich" (HAECKEL Stufenleitern wendet er sich vehement 1921: 124f.). (HAECKEL 1866b: 255f.): „Der gewöhnlichste Fehler, den man bei Untersuchung dieser HAECKEL (1866b: 323-364) setzt sich in systematischen Differenzirung begeht, liegt seinem theoretischen Hauptwerk „Generelle darin, dass man die verschiedenen coexisti- Morphologie" sehr ausführlich mit dem renden Zweige des Stammbaums als subordi- Artbegriff auseinander, den er in einen mor- nirte Glieder einer einzigen leiterförmigen phologischen, physiologischen und genealo- Reihe betrachtet, während sie in der That gischen differenziert. Hinsichtlich dem mor- coordinirte Zweige eines ramificirten Baues phologischen kommt er zu den folgenden sind. Hierauf beruht z. B. der Irrthum der älte- Schlüssen: „Befriedigende Definitionen von ren Systemariker, welche die sämrnilichen dem Begriffe der Subspecies und Varietal exi- Thiere oder Pflanzen in eine einzige Differen- stieren eben so wenig, ab von dem der Spe- zirungs-Reihe zu ordnen trachteten. Statt also cies, und sie können auch in der That eben so den Divergenz-Grad der verschiedenen For- wenig gegeben werden" (HAECKEL 1866b: men von der gemeinsamen Stammform zu 338) und „Die Unterscheidung der unendlich messen, beschränkt man sich auf Messung des vielen verschiedenen Formen, welche unsere Unterschiedes, den sie voneinander haben". Erde beleben, durch verschiedene Namen ist 26 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at „Als die einzige reale Kategorie des zoolo- pen geschaffen, z. B. Acrania (Schädellose), gischen und botanischen Systems können wir Heliozoa (Sonnentierchen), Hexacorallia nur die grossen Hauptabteilungen des Thier- (Sechsstrahlige Korallen), Nematoda (Faden- und Pflanzen-Reiches anerkennen, welche wir würmer), Octocorallia (Achtstrahlige Koral- Stämme oder Phylen genannt und als genea- len), Prosimiae (Halbaffen) und Metazoa logische Individuen dritter Ordnung erörtert (Vielzeller) (v. a. in HAECKEL 1862, 1866b, haben. Jeder dieser Stämme ist nach unserer 1895, 1894, 1896c; s. auch die Beiträge COR- Ansicht in der That eine reale Einheit von LISS sowie SCHALLER in diesem Band). Einer vielen zusammengehörigen Formen, da es das seiner berühmtesten Gattungsnamen lautet materielle Band der Blutsverwandtschaft ist, Pithecanthropus, der Affenmensch (HAECKEL welches sämmtliche Glieder eines jeden 1866b: CLX), der aber nach den Internationa- Stammes vereint umschlingt" (HAECKEL len Nomenklaturregeln ungültig ist, weil er 1866b: 393). „Aus der kritischen Verknüpfung hypothetisch errichtet worden war (1CZN der drei großen, sich gegenseitig ergänzenden 1985). Schöpfungs-Urkunden (Paläontologie, Ver- gleichende Anatomie und Ontogenie) ent- springt die neue Wissenschaft der Stammesge- schichte (Phylogenie, 1866). Sie sucht die Radiolarien-, Schwamm- und Abstammungsverhältnisse der größeren und Medusenforschung bis Ende des kleineren organischen Formengruppen hypo- 19. Jahrhunderts thetisch zu erkennen und gründet auf deren Ordnung das natürliche System der Stämme, 5.1 Klassen und Arten. Die hypothetischen Die Strahlentierchen Stammbäume (Phylema; Abb. 1), die deren (Radiolarien) einfachster Ausdruck darstellen, haben hohen heuristischen und praktischen Wert" „Die Classe der Radiolarien steht einzig in der organischen Welt da (HAECKEL 1905: 6f.). „Die ganze Kunst der durch zwei morphologische Auszeich- vergleichenden Morphologie (die man nur nungen: sie übertrifft alle anderen künstlich in vergleichende Anatomie und Organismen-Classen einerseits durch Systematik trennt) beruht also darauf, zu die Mannichfaltigkeit [sie!], ander- erkennen, ob die Aehnlichkeit, welche zwei seits durch die mathematische Regelmässigkeit aller denkbaren .verwandte' Organismen verbindet, eine geometrischen Qrundformen, welche Homologie oder eine Analogie ist. Je mehr in dem zierlichen Kieselskelet dieser zwei verwandte Organismen gemeinsame wunderbaren Protisten ihre reale Homologieen besitzen, desto enger sind sie Verkörperung finden." verwandt..." (HAECKEL 1866b: 225). Noch (HAECKEL 1884b: W4f.) 1906 betont HAECKEL, daß er von der „...kon- tinuierlichen Umbildung der organischen For- Mitte des 19. Jahrhunderts waren vor men (- nicht der .sprungweisen Mutation'! -) allem durch Johannes MÜLLER 50 rezente und von der .progressiven Vererbung' (- der Arten in 20 Gattungen bekannt (MÜLLER erblichen Übertragung erworbender Eigen- 1855, 1858). Die Mannigfaltigkeit und Bedeu- schaften -) ... fest überzeugt [ist]..." (HAECKEL tung der fossilen Formen für die Gesteinbil- 1906: 410). dung hatte bereits Christian G. EHRENBERG (1838, 1839, 1847, 1854) erkannt. HAECKEL HAECKEL hat - außer den im folgenden war durch seinen Lehrer MÜLLER für diese näher erläuterten Hauptgruppen - auch Tiergruppe, die „Orchideen des Meeres" Ruderfußkrebse (HAECKEL 1864a), Amöben (CACHON & CACHON 1978b), begeistert wor- und Wimpertierchen unter den tierischen den und versuchte nach dessen Tod (1858) die Einzellern (HAECKEL 1865a, 1868, 1870c, Kenntnisse darüber zu erweitern. Sein For- 1871a, b, 1873, 1894) und Stachelhäuter scherdrang und Enthusiasmus kommen bereits (HAECKEL 1896a, b) untersucht und viele in wenigen Briefstellen zum Ausdruck (s. auch auch heute noch gebräuchliche Namen für Beitrag LöTSCH in diesem Band): „Denke Dir, höhere Kategorien verschiedenster Tiergrup- heute habe ich bereits mein fünfzigstes neues 27 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Tierchen entdeckt, ein reizendes Geschöpf- schen Lebens eröffnet hat. Während die Bar- chen mit zierlich gegittertem und mit 100 ke durch schwachen Ruderschlag langsam Strahlen besetzten Kieselpanzer, niedlich und fortbewegt wird, hält man das Netz beständig fein wie alle die 49 anderen, die alle auch halb eingetaucht und filtert so gleichsam eine schon bereits getauft sind und den Namen große Menge Seewasser durch. Von Zeit zu Deines Schatzes, wenn auch nur auf der nie- Zeit wird dann das Netz herausgenommen, dersten Stufe der Tierwelt, verewigen werden. umgekehrt und der nach außen gewendete Du kannst denken, daß das auch meiner Eitel- Innenteil ausgespült in dem mit Seewasser keit nicht wenig schmeichelt!" (Messina, 28. gefüllten Glas und Eimer, wo dann die in den 1. 1860; HAECKEL 1921: 148). Maschen hängengebliebenen feinsten Ein weiteres Briefzitat soll sein methodi- Geschöpfchen wieder frei werden und zu sches Vorgehen veran- Boden fallen. Dieser Bodensatz in den schaulichen: „Die Tier- Gefäßen, von dem das überstehende geklärte DIE chen sind sämtlich fast Wasser nachher zu Hause abgegossen wird, ist Ji A ]> I 0 L A R I E N. (mit nur wenigen Aus- nun eine ganz unerschöpfliche Quelle der nahmen) mikroskopisch reichsten und merkwürdigsten Naturgenüs- (BIHZOPODA RADIAItlA.) klein, also dem unbe- se... waffneten Auge unsicht- Zum Zeichnen bediene ich mich durch- bar oder höchstens als gängig der Camera lucida6, da die Formen alle feinstes Pünktchen genau mathematisch bestimmt sind und also KINK MONOGJtAPllIK wahrnehmbar. An einen auch mit mathematischer Treue wiedergege- Fang derselben durch ben werden müssen, besonders was die Größe die Fischerknaben, die der Winkel und das relative Verhältnis der sonst die deutschen Zoo- einzelnen Teile betrifft. Viele Strukturverhält- I)-. EIINST IIAKCKKI., tomen immer mit dem nisse sind so fein, daß sie nur mit Hilfe der reichsten Material ver- stärksten Vergrößerungen und des schief sorgen, ist also nicht zu ' durchfallenden Lichts erkannt werden kön- denken; will der Natur- nen" (Messina, 29. 2. 1860; HAECKEL 1921: forscher die süße Beute 160ff). .HIT KI.VEH ATLAS erobern, so muß er selbst Methodisch bedeutsam war auch, daß FI'RF I'ffD HBEIÜ5 aufs Meer hinaus und HAECKEL ab 1859 ein Mikroskop des itali- sich von den holden enischen Physikers Giovani Battista AMICI Meergöttinnen die verwendete, das mit einem Wasserimmer- ersehnten Geschenke sionsobjektiv ausgerüstet war und somit eine • EI1II. rauben. ... 'SP VEHLAU VU* rXU wesentlich bessere Auflösung (Unterscheid- Die Radiolarien sind barkeit) der feinen Strukturen erlaubte sämtlich ausschließlich (HAECKEL 1921: 135ff.). Eine nachahmens- pelagische Tiere, d. h. sie leben nur schwim- werte Neuerung betrifft in seinen Veröffent- Abb. 2: Titelblatt der Radiolarien-Monogra- mend auf der Oberfläche des tiefen Meeres, lichungen der „Phaulographischen Anhang", phie (HAECKEL 1862). von der sie nur auf kurze Zeit schwinden, nach HAECKEL (1887C: 149) ein „Verzeichniss wenn heftige Wellenbewegungen und Sturm der völlig werthlosen Litteratur, welche ent- sie nötigt, sich in einige Tiefe herabzulassen. weder nur längst bekannte Thatsachen, oder Dieser Umstand erleichtert ihren Fang sehr, ja falsche Angaben enthält, und welche daher macht ihn eigentlich allein möglich. Man am besten gam zu eliminieren ist". Jeder fischt sie nämlich von der Oberfläche, von der Taxonom wünscht sich wohl zuweilen eine sie jeden Quadratfuß zu Hunderten bedeck- soiche Etnrichnmg. ten, mittels des feinen Mullnetzes weg, eine 1S61 gibt HAECKEL in den „Monatsberich- Methode, die zuerst von Johannes MCLLER3 ten der Königlich Preussischen Akademie der mit dem größten Glück zum Fang aller pelagi- Wissenschaften zu Berlin" erstmals Diagnosen schen Tiere in weitestem Umfang angewandt von 188 Arten (HAECKEL 1861a, b), wobei die wurde und welche die überraschendsten Beschreibungen jeweils sehr kurz ausfallen Blicke in eine ganz neue Welt reichsten tieri- und die Unterschiede zwischen den Species 28

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.