S t e f a n Weidner*Erlesener Orient Stefan We i d n e r E R L E S E N E R O R I E N T Ein Führer d u rch die Literaturen Stefan Weidner: Erlesener Orient der islamischen We l t Erstausgabe © 2004 by edition selene, Wien Umschlagfoto: © 2004 by Firkrun wa Fann (Der Kalif Ali predigt zu den Gläubigen. Miniatur. Isfahan, Iran, vermutlich 16. Jahrhundert) Alle Rechte vorbehalten Printed in Austria ISBN: 3-85266-239-7 Homepage: www.selene.at E-mail: [email protected] e d i t i o n s e l e n e INHALT Denen, die lesen! VORWORT 7 K L A S S I K E R 2 3 K I N D H E I T 6 1 L I E B E 8 9 TRADITION – MODERNE 1 1 7 OST – WEST 1 5 1 P O L I T I K 1 8 3 MÄRCHEN 2 1 9 EXPERIMENTE 2 4 1 DICHTER 2 7 1 AUTORENREGISTER UND QUELLENANGABE 3 6 5 Vo rw o rt Die Geschichte der orientalischen Literatur beginnt vor rund 4000 Jahren in Mesopotamien, dem Gebiet des heutigen Irak. Hier entstand das erste Epos der Menschheit, das Gilgamesch- Epos (S. 34), hier emanzipierte sich die Literatur von bloßen Gebrauchstexten. Dennoch wäre es aus heutiger Sicht unsin- nig, von einer ununterbrochenen Tradition orientalischer Lite- ratur zu reden. Zwar ist seit dem Gilgamesch-Epos in dieser Region der Welt immer wieder bedeutende Literatur entstan- den – die Bibel könnte man ebenso dazu zählen wie die ägypti- schen Totenbücher, Homer, der nach manchen Überlieferun- gen aus dem Gebiet der heutigen Türkei stammt, ebenso wie den mittelalterlichen arabischen Mystiker Ibn Arabi (S. 15), der sein Wirken in Andalusien begonnen hat. Doch Unterschiede und Diskontinuitäten überwiegen trotz auffälligen Gemein- samkeiten wie etwa dem Motiv der Jenseitsreise, das sich von Gilgamesch über die Odyssee bis zu Al-Ma‘arri (S. 9) zieht, dem wiederum ein Einfluß auf Dantes „Divina Commedia“ zu- geschrieben wurde. Zu einem potentiell homogenen Gebilde wird die Literatur des Orients erst mit den Eroberungen des Islam, der aus einem disparaten, kaum als Einheit wahrzunehmenden geographi- schen Gebiet einen kulturgeschichtlichen Raum mit einem be- stimmenden gemeinsamen Element macht, der vom Propheten Mohammed gestifteten Religion. Wie groß der Unterschied zwischen der persischen, der arabischen und der osmanisch- türkischen Literatur auch ist, sie alle sind in vielerlei Hinsicht vom Islam geprägt worden und haben sich mit ihm auseinan- dergesetzt wie die europäischen Literaturen seit dem Mittelal- ter mit dem Christentum. Und sie rezipierten und beeinflußten sich im Zuge dieser Auseinandersetzung gegenseitig. Die Sprachbarrieren zwischen Arabisch, Persisch und Osma- nisch-Türkisch, den großen Idiomen des mittelalterlichen Is- lam, sind trotz größerer linguistischer Unterschiede so uner- 7 heblich gewesen wie im neuzeitlichen Europa, wo sie für die ersten, die Nietzsche für die Araber entdeckten) ist kaum zu Gebildeten ebenfalls keine Hürde darstellten. Unsinnig wäre es überschätzen, abgesehen davon, daß seine spezifische Spiritua- auch, im islamischen Mittelalter von Ländergrenzen zu reden, lität im Westen so gar nicht hätte entstehen können. Ist ein sogar weit unsinniger noch als in Europa. So haben zum Bei- Iraker, der Grass, Musil, Rilke und viele andere ins Arabische spiel einige der wichtigsten Autoren der klassischen persischen übersetzt hat und den Großteil seiner Werke auf arabisch Literatur im Gebiet des heutigen Aserbaidschan (z. B. Nizami, schrieb, plötzlich kein arabischer Autor mehr, wenn er sich, wie vgl. S. 12) oder der Türkei (z. B. Rumi, vgl. S. 26) gelebt, und der bereits erwähnte Hussain al-Mozany, plötzlich entschließt, einige der schönsten Werke der arabischen Literatur wurden in auf deutsch zu schreiben? Was tun, wenn die bedeutendste af- Ländern produziert, die wir heute Spanien und Italien nennen, ghanische Literatur der Gegenwart auf englisch erscheint wie und von Autoren, die christlicher, jüdischer oder persischer im Fall von Khaled Hosseinis „Drachenläufer“ (S. 57) oder Herkunft waren. Ein bißchen ist es heute noch so, wie der Blick zwar noch in Dari geschrieben, aber zuerst in Paris publiziert auf die Werke etwa Mona Yahias (S. 53) oder Dschabra Ibra- und vor allem im Westen rezipiert wird wie bei Atiq Rahimi (S. him Dschabras (S. 41) lehrt. 79 und S. 178)? In Anbetracht dieser Historie, die klar umrissene Staaten vor Daß die Grenzen nicht mehr klar gezogen werden können, dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmani- ist geradezu ein Charakteristikum dieser Literatur, und so sinn- schen Reiches nicht kennt, nimmt es nicht wunder, daß die ori- voll es aus didaktischen Gründen zuweilen sein mag, als arabi- entalischen Autoren auch heute noch die Ländergrenzen mit sche Literatur wirklich nur die auf arabisch geschriebene Lite- einer Leichtigkeit überschreiten, die man bei ihren westlichen ratur zu verstehen, die Literatur der Araber umfaßt mehr, und Kollegen vergeblich sucht. Diese Autoren sind, um den schö- dasselbe gilt, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, für die ande- nen Titel des Romans von Hussain al-Mozany (S. 130) aufzu- ren Sprachen der islamisch geprägten Welt. Das vorliegende greifen, „Marschländer“, und so scheint es, als ob die wirklich Buch versucht diese Spannweite transparent zu machen. Ein im polyglotte, auf Augenhöhe mit der Globalisierung sich befinden- deutschen Literaturbetrieb so verwurzelter Autor wie Selim de Literatur heute vor allem von den Menschen hervorgebracht Özdogan (S. 71) kann folglich hier ebenso Platz finden wie das wird, die man früher abschätzig Orientalen genannt hätte. arabische Urgestein Nagib Machfus; die über die griechisch- Sadeq Hedayat (1903–1950; S. 208), der Begründer der mo- osmanisch-ägyptischen Verwicklungen nachsinnende Griechin dernen persischen Prosa, veröffentlichte sein Hauptwerk „Die Rhea Galanaki (S. 141) ebenso wie der auf französisch über die blinde Eule“ in den dreißiger Jahren in Bombay, übersetzte in osmanische Zeit schreibende Libanese Amin Maalouf (S. 135), den vierziger Jahren in Teheran Kafkas „Die Verwandlung“ der übrigens auch in arabischer Übersetzung ein Bestseller ist – aus dem Französischen ins Persische und beging in Paris ganz so wie der Türke Orhan Pamuk (S. 138), von dessen Selbstmord. Das bis heute meistgelesene Werk der arabischen Büchern in der arabischen Welt etliche illegale Übersetzungen Literatur, Gibran Khalil Gibrans „Der Prophet“, wurde in den kursieren. zwanziger Jahren von einem libanesischen Christen auf eng- Angesichts dieser Durchlässigkeit der orientalischen Litera- lisch in New York verfaßt. Ihn deshalb nicht zur arabischen Li- turen auf Vollständigkeit in der Darstellung zu pochen wäre teratur zu zählen wäre gleichwohl unsinnig. Er hat nämlich ein von vorneherein paradoxes Unterfangen und sei gar nicht ebensoviel auf arabisch geschrieben wie auf englisch, und sein erst versucht. Die hier besprochenen Bücher sind daher immer Einfluß auf die moderne arabische Literatur (er war einer der nur als Beispiele oder Stichproben aus einem um ein vielfaches 8 9 weiteren literarischen Kosmos zu verstehen. Der größte Ehr- Schließlich ist der Islam selbst ein ausgesprochen diffuses, geiz des vorliegenden Werks wäre damit bezeichnet, ein Koor- vielgestaltiges Phänomen, zumal was seinen Einfluß auf die Li- dinatensystem aufzuspannen, mit dessen Hilfe die Leser auch teratur betrifft. Die einzige unbestrittene, dafür um so wirk- die hier ausgesparten oder erst noch erscheinenden Bücher aus mächtigere Bezugsgröße ist der Koran. Nach traditioneller der orientalischen Literatur ungefähr verorten und besser ein- muslimischer Vorstellung gilt er als absolutes, unübertreffliches schätzen können. Nicht zuletzt soll dadurch der Mut zu einem Sprachkunstwerk, das von Gott mit Hilfe des Erzengels Gabri- eigenen Urteil in der Auseinandersetzung mit diesen Werken el dem Propheten eingegeben wurde. An der Erforschung des geweckt werden, mag es noch so subjektiv sein. Jeder Leser hat Korans waren daher nicht nur Religionsgelehrte interessiert, seine eigene Wahrheit, gleich ob er Bücher aus seinem oder aus auch die islamischen Sprachwissenschaftler übten seit frühster einem völlig fremden Kulturkreis liest. Der Lektüre nicht wert Zeit ihr Instrumentarium an diesem heiligen Text. Auf den ist immer nur das Buch, das gar keine Reaktion hervorruft. berühmtesten unter ihnen, al-Djurjani (gest. 1078; auch er Gesteht man die Undefinierbarkeit von „orientalischer“ Lite- übrigens persischer Herkunft), berufen sich noch heutige arabi- ratur erst einmal zu, lassen sich gleichwohl einige gemeinsame sche Linguisten. Die arabischen Dichter hingegen verstanden geschichtliche Wurzeln benennen, die diese Literaturen ge- das Dogma von der Unübertrefflichkeit des Korans als Auffor- prägt haben und die man kennen sollte. Der Islam, Anfang des derung, es ebenso gut oder besser zu machen, zum Beispiel Al- 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel entstanden, ist Ma‘arri (S. 7). Einer der berühmtesten klassischen arabischen die wichtigste dieser Wurzeln, und zwar sowohl für die sprach- Dichter verdankt sogar seinen Namen seinen (freilich nicht liche Entwicklung als auch für die religiöse Prägung. Die Reli- überlieferten) Versuchen, den Koran nachzuahmen, al-Mutan- gion hat die orientalischen Literaturen nicht allein inhaltlich abbi, „der, der wie ein Prophet sein will“ (915–965). beeinflußt wie etwa das Christentum die europäischen, sondern Anspielungen, offene und verdeckte Koranzitate und andere vor allem auch auf der sprachlichen Ebene. Die persische und intertextuelle Bezüge prägen die arabische Dichtung bis in die osmanisch-türkische Literatur bedienen sich beide der ara- jüngste Zeit (vgl. die Beiträge über Adonis, S. 233, und bischen Schrift, obwohl diese dafür nur unzureichend geeignet Mahmoud Darwish, S. 263). Dasselbe gilt für die klassische ist – was dazu geführt hat, daß die Türkei das lateinische persische und osmanische Dichtung, wobei hier direkte arabi- Schriftsystem eingeführt und damit die moderne türkische Li- sche Zitate deutlich schwieriger zu integrieren sind und ihre teratur von ihrer Geschichte abgeschnitten hat. Und beide Fremdheit in dem anderssprachigen Textkörper nicht verleug- Sprachen, Persisch und Osmanisch, sind mehr oder weniger nen können. Besonders die moderne persische und türkische von arabischem Vokabular durchsetzt, wenn auch nicht zu allen Dichtung ist daher vom Koran viel weiter entfernt als die arabi- Zeiten und in allen Textgattungen gleichermaßen. Andererseits sche und arbeitet eher mit Anspielungen auf die eigenen dich- steht das Türkische vom Wortschatz her dem Persischen näher terischen Traditionen, mögen sie auch so alt sein wie die als dem Arabischen und ist die arabische Literatur ohne den Gedichte von Hafis (1320–1389), die in Iran trotz der islami- Einfluß persischstämmiger Autoren kaum denkbar. Eine der schen Ideologie der herrschenden Mullahs heutzutage immer großen Streitfragen der klassischen arabischen Literatur im 9. noch genausoviel gelten als der Koran. Jahrhundert handelte bezeichnenderweise davon, ob die nicht- Abgesehen vom gemeinsamen islamischen Bezugsrahmen arabischen Völker den Arabern gleichwertig seien und in glei- sind die orientalischen Literaturen in klassischer Zeit jedoch chem Maße zur arabischen Literatur beitragen können. sehr verschieden – weitaus verschiedener jedenfalls als heutzu- 10 11 tage. Den Persern war es gelungen, die altiranische Gattung Der Dichter ist der Sprecher für die Nation, das Volk, gegen des Epos in die islamische Zeit hinüberzuretten, mit islami- die Kolonialisten und Okkupanten. Auch heute gibt es von schem Gedankengut anzureichern und zur großartigen Synthe- ernstzunehmenden Lyrikern Gedichte gegen die amerikanische se in den Versepen Nizamis (S. 12) und Attars (S. 29) zu Besatzung des Irak. Das große Vorbild für diese Strömung ist führen. Und heutzutage hat wiederum Attar den zeitgenössi- der gegen die britische Besatzung kämpfende ägyptische Dich- schen arabischen Dichter Mahmoud Darwish beeinflußt (vgl. S. terfürst Ahmad Shauqi (1868–1932). Selbst bei Adonis (S. 233) 275). Bei den Arabern hat sich die Epik nur in der mündlichen und Mahmoud Darwish (S. 263) läßt sich diese Rolle in Ge- Überlieferung gehalten, und leider liegt nichts davon in deut- dichten nachweisen, wenngleich vielfach gebrochen und hinter- scher Übersetzung vor. Überhaupt wird man der klassischen fragt – und dadurch auf einmal wieder innovativ. deutschen Orientalistik ein überproportionales Interesse an der Moderne Literatur in dem Sinne, daß auch Leser einer eu- persischen Literatur vorwerfen dürfen, wie es sich in der Über- ropäischen Sprache diese Texte noch als zeitgenössisch empfin- setzungstätigkeit spiegelt. Kaum mehr zählbar sind die deut- den würden, entsteht im Orient, von sehr wenigen Ausnahmen schen Übersetzung von Hafis und Rumi (S. 26), während man abgesehen, erst im 20. Jahrhundert. Die frühen arabischen Ro- die Gedichte der vorislamischen Araber oder der Klassiker Abu mane und Dramen beispielsweise waren oft nichts als sehr freie Nuwas und al-Mutanabbi, um nur die wichtigsten zu nennen, übersetzerische Adaptionen europäischer Vorlagen. Die Ent- heute auf dem Buchmarkt und sogar in Bibliotheken vergeblich wicklung der modernen Literatur im Nahen Osten vollzog sich sucht. Dem aber, was von Al-Ma‘arri, einem weiteren dieser dabei zunächst nur in bestimmten Zentren, wie Beirut und Klassiker, glücklicherweise neuerdings auf deutsch vorliegt (S. Kairo für die arabische Welt, oder im amerikanischen und eu- 7), merkt man deutlich an, daß es keine übersetzerische Tradi- ropäischen Exil, was besonders auch für die persische Literatur tion gibt, auf die der Übersetzer hat aufbauen können. Ein sich gilt. Für den Muttersprachler hat diese frühe moderne Litera- vom 18. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit an den deut- tur zumindest aus sprachlichen Gründen ihren Reiz bewahrt, schen Lehrstühlen für Orientalistik manifestierender Rassis- denn die besseren Schriftsteller dieser Zeit waren häufig groß- mus, der die Perser, deren Sprache indogermanisch ist, zu den artige, innovative Stilisten – was in der Übersetzung natürlich Ariern zählte, die Araber jedoch als semitisch minderwertig ab- verlorengeht. Einige wenige Autoren, deren Schaffen noch in tat, setzt sich in Gestalt fehlender Übersetzungen aus der klas- die erste Jahrhunderthälfte fällt, ragen gleichwohl heraus: Für sischen arabischen Literatur unbeabsichtigt, aber für unser Bild die Türkei die hier besprochenen Nâzım Hikmet (vgl. S. 306) von den Arabern nicht folgenlos bis in unsere Gegenwart fort. und Fazıl Hüsnü Daglarca (vgl. S. 304. Für Iran vor allen ande- Die modernen Literaturen des islamischen Orients, der zwi- ren natürlich Sadeq Hedayat (vgl. S. 208), aber auch ein Er- schen dem 16. und dem 19. Jahrhundert nur wenige herausra- zähler wie Mohammed-Ali Dschamalsadeh (1892–1997). Aus gende literarische Zeugnisse hervorgebracht hat weisen in der arabischen Literatur ist vor allem Taha Hussain (1889– ihren groben Zügen eine ähnliche Entwicklung auf. Diese 1973) mit seiner Autobiographie „Kindheitstage“ (1929) zu beginnt im 19. Jahrhundert in der Begegnung mit der europäi- nennen oder Yahia Hakkis (1905–1993) Novelle „Die Öllampe schen Literatur und in der Auseinandersetzung mit der eu- der Umm Haschim“ aus dem Jahr 1944. Bemerkenswert, wenn ropäischen Machtpolitik im Orient. Literatur und aufkommen- auch eher in spiritueller als in literarischer Hinsicht, ist ferner der Nationalismus gehen eine Synthese ein, die zuweilen bis der erwähnte Gibran Khalil Gibran (1883–1931). heute noch fortwirkt – nicht immer zum Vorteil der Literatur. 12 13 Von diesen Einzelfällen abgesehen, wird, wer sich heute für staunlicher ist aber, daß es heute mehr arabische als türkische die moderne Literatur des islamisch geprägten Orients interes- Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt gibt, obwohl siert, eher zu den Werken greifen, die in der zweiten Hälfte des diese doch ungleich mehr potentielle Leser hätte. 20. Jahrhunderts erschienen sind. Diese Werke und ihre Auto- An dieser Stelle müssen die Verlage übrigens gegen den ren bilden den Schwerpunkt des vorliegenden Buches, nicht wohlfeilen, allzu häufig erhobenen Vorwurf geschützt werden, zuletzt deshalb, weil auch das meiste dessen, was heute aus die- sie würden sich für orientalische Literatur nicht interessieren. sen Literaturen auf deutsch vorliegt, aus dieser Epoche stammt. Daß dies so pauschal nicht stimmt, weiß jeder, der mit Verle- Allein für die moderne arabische Literatur sind dies fast 200 gern und Autoren einmal darüber gesprochen hat. Diejenigen, Titel, die teilweise in mehreren Auflagen und Ausgaben vorlie- die sich über die Verlage beschweren, machen sich in der Regel gen, und dabei sind Anthologien noch gar nicht mitgezählt. nicht klar, daß der Verlag praktisch das Glied in der Vermitt- Vor allem nach dem Nobelpreis für Nagib Machfus (1988) hat lungskette der Literatur ist, das das finanzielle Risiko trägt. die Zahl der Übersetzungen aus dem Arabischen stark zuge- Selbst die Übersetzer, obwohl sie sicherlich zuwenig Geld be- nommen; zuvor lag kaum ein Dutzend moderner arabischer kommen und dafür noch zahlreiche zusätzliche Funktionen er- Werke auf deutsch vor. Als deutschsprachiger Leser ist man füllen müssen, etwa die des Scouts oder Agenten, die in ande- heute in der Lage, allein aufgrund von Übersetzungen ein recht ren Sprachräumen von eigenen Spezialisten übernommen genaues Bild der arabischen Literatur in der zweiten Hälfte des werden, können ihre finanzielle Situation zumeist einiger- 20. Jahrhunderts zu bekommen. Gewiß ist keineswegs alles, was maßen kalkulieren. Ein Verlag hingegen, der das Werk eines eine Übersetzung verdiente, schon übersetzt. Aber was noch zu unbekannten orientalischen Autors publiziert (und die meisten übersetzen wäre, würde das Bild dieser Literatur nicht wesent- orientalischen Autoren sind hierzulande unbekannt, selbst die lich verändern. Bei der modernen persischsprachigen und über- vermeintlich bekannten und schon zuvor auf deutsch veröffent- raschenderweise auch türkischen Literatur sieht es leider viel lichten), muß zunächst einmal viel investieren. Die Wahr- schlechter aus. Hier besteht ein großer Nachholbedarf. Daß die scheinlichkeit, Gewinn zu machen oder auch nur die Unkosten türkische und persische Literatur in diesem Buch verglichen aufzufangen, ist gering. mit der arabischen unterrepräsentiert ist, spiegelt nicht zuletzt Die daraus resultierende Schwerfälligkeit der Verlage im die Zögerlichkeit der Verlage bezüglich dieser Literaturen in Umgang mit der orientalischen Literatur ist ohnedies nur ein den letzten Jahren. Anders als im Fall der klassischen orientali- Teil des Problems. Der andere Teil ist, freilich aus ebenso schen Literatur, wo wie gesagt ein Übergewicht der Überset- nachvollziehbaren Gründen, in den übrigen Gliedern der Ver- zungen aus dem Persischen festzustellen ist, geschieht die Ver- mittlungskette zu suchen – Übersetzern, Verlagsvertretern, mittlung der modernen Literaturen der islamischen Welt Buchhändlern, Redaktionen der Medien und Kritikern. Wäh- nahezu völlig unabhängig von der akademischen Orientalistik, rend Buchhändler dieselben finanziellen Vorbehalte geltend deren fragwürdige Präferenzen daher auf diesem Gebiet ihren machen können wie die Verlage, stehen die Übersetzer mit der Einfluß verloren haben. Sieht man von subjektiven Aspekten Fülle der Aufgaben, die sie zusätzlich zu ihrer eigentlichen Ar- wie dem zufälligen Geschmack eines Übersetzers oder Verle- beit zu leisten haben, alleine da. Zudem werden sie manches gers ab, gehorcht die Vermittlung der orientalischen Literatur Mal von einer Literaturkritik, die das Original nicht kennt, für ökonomischen Kriterien. Dies ist zumindest insofern be- stilistische Schwächen des Originals verantwortlich gemacht. grüßenswert, als diese ideologisch wertfrei sind. Um so er- Dabei sollte man wissen, daß zum Beispiel arabische Verlage 14 15 kein Lektorat in unserem Sinne kennen und auch die Schrift- Freilich ist eine Kritik, die sich, wie im vorliegenden Buch, steller selbst ihre eigenen Werke oft nur flüchtig überarbeiten, auf die orientalische Literatur kapriziert, auch mit Problemen, was zu Nachlässigkeiten führt, die man noch aus den Überset- die in der Sache selbst liegen, konfrontiert. Literaturkritik an zungen herausliest und für die der Übersetzer kaum haftbar ge- Werken aus einem zunächst scheinbar völlig fremden Kultur- macht werden kann. Ferner ist die Transpositionsleistung eines kreis zu üben ist ein oft willkürliches Unterfangen auf ungesi- Übersetzers aus einer orientalischen Sprache ungleich größer cherter Grundlage. Denn Literaturkritik ist herkömmlicher- und aufwendiger als die eines Übersetzers aus europäischen weise nur in einem sehr genau umgrenzten sprachlichen und Sprachen. Bis aus einem guten arabischen, persischen oder tür- historischen Zusammenhang sinnvoll denkbar. Ihre Anfänge kischen Text ein brauchbarer deutscher wird, sind wesentlich sind für jede Literatur linguistischer und formeller Natur, und mehr Zwischenschritte nötig. die frühen Kritiker einer Literatur operieren meist mit sehr Liegt ein guter Text in einer guten Übersetzung aber erst klaren Begriffen von richtig und falsch. Wie etwa die arabi- einmal vor, fehlen meistens die Kritiker, die das Werk bekannt schen (oft persischstämmigen) Sprachwissenschaftler die vor- machen können. Dabei ist es oft gar nicht nötig, daß der Kriti- islamische Dichtung und den Koran zur Norm erhoben und ker ein Spezialist ist; denn der Verlag publiziert das Buch auch daraus dann Kategorien für die Dichtung ihrer Zeit ableiteten, nicht für Spezialisten, und so ist ein erfahrener Rezensent, der zu denen sich bis auf den heutigen Tag alle späteren in einem genügend Offenheit mitbringt, aber ansonsten den gleichen Spannungsverhältnis befinden, ist ein Lehrstück für sich. Erst Wissensstand hat wie der Leser, oftmals ein ebenso geeigneter in einem späteren Entwicklungsstadium treten thematische und Testleser und Vermittler, vorausgesetzt er bringt Bereitschaft inhaltliche Aspekte bei der Kritik hinzu. Eine vergleichbare und Zeit mit, sich ein wenig in die Materie einzulesen, und er Entwicklung läßt sich bei den antiken und den späteren eu- bleibt sich seiner Grenzen bewußt. ropäischen Sprachen konstatieren. Erst in der Moderne treten Angesichts dieser Problematiken, des großen Aufklärungsbe- dann auch dezidiert ideologische Aspekte hinzu und überlagern darfs und der Neugier des Publikums verwundert es, daß in der oftmals alle anderen bis zur Unkenntlichkeit. deutschen Orientalistik, die sich in den letzten 20 Jahren für Unterzieht man Werke einer anderen Sprache, zumal eines die moderne Literatur ein wenig geöffnet hat, die Bereitschaft fremden Kulturraums, der literaturkritischen Betrachtung, fällt immer noch schwach ausgeprägt ist, an die Öffentlichkeit zu der sprachlich-formale Aspekt und damit die ursprünglichen gehen und ihre Stoffe zu vermitteln. Im Zweifelsfall schreibt Kriterien jeder Kritik an einem sprachlichen Werk natürlich man lieber einen langweiligen akademischen Artikel als eine weg. Das ist zunächst nicht schlimm, da man sich heutzutage spritzige Rezension, zumal man letzteres an der Universität nie ohnehin aufgrund der Vielzahl von Übersetzungen daran ge- gelernt, ersteres aber vom Grundstudium an eingetrichtert be- wöhnt hat, daß diese Aspekte kaum noch eine Rolle spielen; kommen hat und es zu den meisten Werken und Autoren, die aber auch weil die anderen Aspekte in der Regel spannender vorgestellt werden müßten, ja auch gar keine Sekundärliteratur sind als die bloß sprachliche Erörterung. Übrig bleiben also gibt. Einen Text aber eigenständig zu erarbeiten ist eine Tu- Faktoren wie thematische Relevanz, ideologische Aussage so- gend, die seit vielen Jahren nicht mehr gelehrt wird. Wozu wie Spannung oder Unterhaltungs- und Informationswert. selbst denken, wenn es Sekundärliteratur und neuerdings auch Was aber für die Erörterung eines amerikanischen oder italie- noch das Internet gibt? n i s c h e nRomans allemal ausreichen würde, gerät am Werk aus einem fremden Kulturkreis zu einem Akt der Willkür, denn 16 17 keine der genannten Kategorien, auf die man sich bezieht, bil- ist. Es erklärt aber, warum zum Beispiel ein arabischer Literat det automatisch den Horizont des Autors, über den man redet. mit gewissem Recht – und gleichzeitig natürlich ungerechter- So kann beispielweise ein Werk, das eine für arabische Verhält- weise – darüber klagt, daß der Westen nicht wirklich das liest nisse spektakuläre weibliche Emanzipationsgeschichte erzählt, und übersetzt, was doch gemäß allem, was er gelernt hat und wie Miral al-Tahawis (vgl. S. 64) zweiter Roman „Die blaue weiß, das objektiv Beste seiner Literatur ist. Aubergine“, auf deutsch wie eine Zementierung von Rollenkli- Zu guter Letzt sind bei den vorliegenden Artikeln natürlich schees und geschlechtlich geprägten Denkstrukturen erschei- auch Faktoren zur Geltung gekommen, die allein in der Subjek- nen, die man keiner deutschen oder westlichen Autorin ohne tivität des Rezensenten gründen. Der Ton jedes Kritikers wech- Spott durchgehen lassen würde. In solchen Fällen hilft dem selt je nachdem, wie inspiriert er von einem Werk ist, je nach- Kritiker nur, die Kluft, die sich zwischen seiner Reaktion als dem auch, für welchen wahrscheinlichen Leser er schreibt, für westlich geprägter Leser und seinem Wissen um die arabischen welches Medium, für welche Zeitung (Lokalzeitung oder über- Verhältnisse auftut, selber zu thematisieren. Andere Verzerrun- regionales Intelligenzblatt?), und sicher ein wenig nach Tages- gen treten hinzu. So kann man ein Werk empfehlenswert fin- laune. Bei der Einschätzung der im vorliegenden Buch gemach- den, weil es auf unterhaltsame Weise über ein unbekanntes Mi- ten Wertungen sollte man sich bewußtmachen, daß der Status lieu aufklärt, obwohl man ein ähnlich geschriebenes Werk eines Autors und der Stellenwert eines Werks im Literaturbe- eines deutschen Autors, dessen soziales Milieu einem vertraut trieb und im Buchmarkt beim Schreiben einer Literaturkritik in ist, womöglich langweilig fände. Oder man tut ein Werk als der Regel berücksichtigt werden. Einen ja keineswegs schlech- avantgardistisch prätentiös ab, weil man die entsprechenden li- ten, aber doch vielleicht zu hoch gehandelten Autor wie den Li- terarischen Darstellungsformen schon lange kennt, obwohl das banesen Elias Khoury (vgl. S. 225; 228) verreißt man leichter Original mit allem Recht experimentell ist. Hier wird man sich einmal als das Werk eines unbekannten Anfängers, bei dem als Kritiker entscheiden müssen, ob man eher seinen Ge- man, wenn es nicht völlig mißlungen ist, lieber die positiven An- schmack oder seine Kenntnis von den Hintergründen sprechen sätze betont. Annemarie Schimmels Übersetzungen und will- läßt. Und doch sollte der Geschmack im Zweifelsfall das letzte kürlich zusammengestückelte Klassikerauswahlen (S. 29), um Wort haben, da es paradox wäre, potentiellen Lesern ein Werk ein anderes Beispiel zu bringen, sind hochproblematisch. Aber zu empfehlen, das sie nur mit Kenntnissen genießen können, wenn Schimmel die einzige ist, die überhaupt diese Klassiker auf über die sie nicht verfügen. Wo dies geschieht – Akademikern, deutsch vorstellt, wird man dem kritischen Furor einen Maul- die sich dann doch ins kritische Metier trauen, unterläuft dies korb anlegen, den Hund zwar knurren, aber nicht beißen lassen. häufig –, wird es die Leser schon nach dem ersten gescheiterten Der aufrichtige Rezensent wird schließlich zugeben müssen, Leseversuch vor weiterer Lektüre abschrecken. Dies ist unnötig daß er selber ein Rädchen im Literaturbetrieb ist und nicht wie und um so bedauerlicher, als es genügend Werke gibt, die den mit dem Fernrohr auf einen entlegenen Planeten schaut. Be- verschiedenen Horizonten und ganz unterschiedlichen Kritieri- sonders der Bereich der orientalischen Literatur ist so klein, en von Autor und fremder Leserschaft gleichermaßen entspre- daß fast jeder jeden kennt, und so kann es passieren, daß man chen. Daß diese Werke womöglich nicht genügen, um die für Verlage übersetzt oder bei ihnen Bücher herausbringt, de- fremde Literatur in (ihrem eigenen Verständnis nach) ausrei- ren Produktion man in der nächsten Saison schon wieder re- chender Weise zu repräsentieren, steht auf einem anderen zensieren muß. Wer deswegen die Kritik pauschal für vorein- Blatt, ist aber irrelevant, solange man sich dessen nur bewußt genommen hält, überschätzt einerseits solche Bindungen und 18 19