ERKENNTNIS UND DIALEKTIK ERKENNTNIS UND DIALEKTIK ZUR EINFOHRUNG IN EINE PHILOSOPHIE VON DER SPRACHE HER AUFSATZE AUS DEN JAHREN 1949 BIS 1971 von BRUNO LIEBRUCKS I I MARTINUS NIJHOFF / DEN HAAG / 1972 o I972 by Martinus Nijhofl. The Hague, Netherlands Softcover reprint oft he hardcover J st edition J9 72 All rights reserved, including 1M right to translate or to reproduce this book or parts thereof in any form ISBN 978-94-011-8377-2 ISBN 978-94-011-9065-7 (eBook) DOl 10.1007/978-94-011-9065-7 VORWORT Das Verhaltnis von Sprache und Bewusstsein wird als das Verhaltnis der Verhaltnisse angesehen. Das erste Verhaltnis fungiert nicht tech nisch-praktisch oder mathematisch, nicht als Prinzip von Verhalt nissen. Es wird als Bedingung der Moglichkeit und Wirklichkeit eines logischen Ganges von der Substanz iiber die Stadien der Funktion, Reflexion bis zum Begriff angesehen. Der Funktionsbegriff lost nicht den Substanzbegriff ab, wie noch bei Ernst Cassirer. Substanz, Funk tion und Reflexion sind als Momente innerhalb des logischen Begriffs zu denken. Die Frage nach dem Sein tritt nicht in den Vordergrund, obwohl sie das potenzierte Verhaltnis als Frage streift. Entgegen standlichung und Vergegenstandlichung treten innerhalb der Erkennt nis mit dem gleichen Anspruch auf. Die mich seit I949 beschaftigende Frage nach einer Obersetzung von Hegels Philosophie des Absoluten in die ihr eigene Dialektik war immer zugleich an die einzelnen Disziplinen der Philosophie gerichtet. Bald wurde klar, dass das zu allen Zeiten geiibte Umschreiben bestimmter philosophischer Disziplinen im Zeitalter des Nihilismus, das das Zeit alter der absoluten Herrschaft der exakten Wissenschaften ist, nur noch mit vorgespielter N aivitat vorgenommen werden konnte. Es dient weder der Stunde noch entspricht es ihrer Not. Philosophische Distanz ist heute im Anblick der Wissenschaften schwer durchzuhal ten. Sie scheint nicht in erster Linie durch Wissenschaftstheorien er reich bar, obwohl diese zur erwiinschten Klarung von Satzen beitragen und deshalb bei dem Versuch der Gewinnung einer Logik von der Sprache her herangezogen werden miissen. Die Stichworter "Logik von der Sprache her" und "Logik unter Hintergehung der Sprache" seien als Hinweise genannt. Urn zu verstehen, was sich in ihnen verbirgt, ist die Auseinander setzung Plato s mit dem Eleatismus seiner Tradition immer noch als VI VORWORT guter, weil mitgegangener Anfang anzusehen. Der Weg unserer philo sophischen Tradition von Plato bis Hegel kann als Fortsetzung und Durchfuhrung dieses Themas angesehen werden. Die sich als nach philosophisch verstehenden Versuche, in denen die Vollendung der Philosophie mit ihrer Liquidierung zusammenfiel, nahmen die zur Durchfuhrung eines solchen Untemehmens zweckmassige adaequatio von Philosophie und Platonismus vor. Der planetarische Charakter dieser Gleichsetzung steht heute von der Philosophie der Mathematik bis zur Philosophie der Kunst unter der Agide der Technik. Zur adae quatio rerum ad intellectum ist noch nicht die adaequatio intellectus ad res getreten. Wenn die Meduse unseres Alltagsgesichtes den Menschen durch ihren Anblick nicht in einem Masse versteinem solI, das jede weitere Reflexion seiner Vergegenstandlichung verbietet, muss die Frage nach einer Philosophie von der Sprache her im Anblick dieses Todes geleistet werden. Die hier gestellte Frage kann erst nach der Auffacherung des VerhaItnisses von Sprache und Bewusstsein in der Spannweite vom Mythos bis zur analytischen Philosophie behandelt werden. Damit sind die Schritte angedeutet, die der Verfasser tun musste, urn in die Gegend zu gelangen, in der nach dem logischen Urgestein des philoso phischen Gedankens gegraben werden konnte. Diese Arbeit findet nicht unter Tage statt, sondem unter dem freien Himmel des Begriffs. Das Logische liegt nicht in unergriindlichen Tiefen, sondem unmittelbar unter dem Mehltau, unter dem der Drang zur Positivitat die Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit zu einem Wegweiser machte, dessen Schwanken mit den Korrektheitsforderungen der formalen Logik allein nicht beseitigt werden kann. Die Frage nach dem Verhaltnis der philosophischen Disziplinen zur Logik ist auf die nach den jeweiligen Sprachstufen zUrUckzufiihren, aus denen jene stammten. AIle miinden in die Logik, die mit ihren Richtstrahlem auf sie zuriickdeutet. Die Logik steht bis heute als stumme Kunst im Zentrum der Philo sophie. Die Reflexion auf ihre Mittel ist in vollem Gange. Bis zum menschlichen Begriff, der von der Sprache her auffindbar ist, gelangen diese Versuche ihrer eigenen Intention nach nicht. Die Oberschriften der hier vorgelegten Aufsatze lei ten in die angedeu tete Problemsituation ein. Die letzten nahern sich logischen Problemen. Frankfurt am Main, im November 1970. BRUNO LIEBRUCKS INHALTSVERZEICHNIS VORWORT v UBER DAS WESEN DER SPRACHE. VORBEREITENDE BETRACHTUN- GEN I ZUR THEORIE DES WELTGEISTES IN THEODOR LITTS HEGELBUCH 21 IDEE UND ONTOLOGISCHE DIFFERENZ 68 Heideggers Auseinandersetzung mit Hegel. Die Subjektitat 70 Zum Verhaltnis von Logik und Realphilosophie bei Hegel 83 Das Problem der Metaphysik und die Frage nach dem Sein 88 Das Problem der Wahrheit 92 Das Problem der Zeit 99 Widerstreit und Widerspruch 106 SPRACHE UND MYTHOS 110 Einleitung 110 I. Mythos und Wahrheitsbegriff 112 II. Mythos und Wirklichkeit 135 REFLEXIONEN UBER DEN SATZ HEGELS "DAS W AHRE 1ST DAS GANZE" 152 WILHELM VON HUMBOLDTS EINSICHT IN DIE SPRACHLICHKEIT DES MENSCHEN 196 ZWEI SPRACHSTUFEN 219 I. Sprache und Bewusstsein 220 II. Die Dialektik in Kants objektiver Deduktion der Kategorien 237 UBER DEN LOGISCHEN ORT DES GELDES. VORBEREITENDE BEMER- KUNGEN 265 I. Geld und Wert 275 2. Der geschichtliche und soziale Ort des Geldes. Tauschverkehr und Geldverkehr 283 3. Sprache und Geld 288 4. Der philosophische Ort des Geldes und die gegenwartige Situation 290 5. Trennung von Haben und Sein 293 6. Zweck und Mittel 296 VIII INHALTSVERZEICHNIS DER DIALEKTISCHE CHARAKTER DER TRANSZENDENTALEN SPRACH- BETRACHTUNG 302 WAS 1ST TRANSZENDENTALE LOGIK 317 ZUM VERHALTNIS VON TRANSZENDENZ UND IMMANENZ BEl HEGEL 328 DIE ROLLE DES MENSCHEN ALS PERSON IN DER GESELLSCHAFT 350 IMPERATIVISCHE ETHIK, WERTETHIK UND SITTLICHKEIT 362 "OBER DAS WESEN DER SPRACHE V orbereitende Betrachtungen 1 Niemand wird heute der leichtfertigen Ansicht sein, dass das Wesen der Sprache mit einem Schlage ausgesagt werden konnte. Dennoch ist man weitgehend der Meinung, ihre Wesensbeschreibung konnte so vorgenommen werden wie die von anderen Gegenstanden und Sach verhalten. Dem entgegenzusetzen sind solche Wirklichkeiten, die sich nicht einer direkten, wenn auch anhaltenden und langwierigen Unter suchung erschliessen, sondern erst in Stufen ausgesagt sein wollen, die weit entfernt sind, das Wesen des Gesuchten sogleich zu treffen und von vornherein den Charakter des Ungeniigens an sich tragen. Den noch sind solche vorlaufigen Stufen des Verstandnisses in dem Sinne notwendige, als ohne sie das weitere Eindringen in das Wesen der ge suchten Wirklichkeit des Zuganges entbehrte, durch den der Mensch zwar irgendwie und irgendwann hineingekommen, dann aber den Ariadnefaden aus der Hand verloren und auf diese Weise mit dem Ver lust der Kenntnis des zuriickgelegten Weges das Ziel auch dann nicht zu erblicken vermochte, wenn er davorsteht. In der Meinung, dass die Sprache eine Wirklichkeit solcher Art sei, wird hier die Frage des Zuganges zu ihrem Wesen behandelt, ohne dass schon eine erschopfende Beschreibung versucht wiirde. Dabei konnte sich in einer spateren Betrachtung herausstellen, dass alles Herbei getragene in einer allerdings durch dieses geschaffenen Dimension der Fragestellung eine Umwandlung erfiihre. Obwohl die Rechtfertigung der ersten Stufe der Betrachtung nur in einer "Oberschau des Ganzen liegen konnte, soIl die Frage des Zuganges zum Wesen der Sprache - und nur diese - hier zunachst behandelt werden. Warum beschaftigt sich die Philosophie heute vordringlich mit der 1 Der bier veroffentIicbte Aufsatz ist entstanden aus Ausfiibrungen, die Vf. in Tbesenform auf dem Pbilosopbenkongress 1950 in Bremen vorgetragen bat. Zeitschrift fur philosophische Forschung Bd. v, Heft 4. S. 465-484. 2 UBER DAS WESEN DER SPRACHE Sprache? SolI die Reihe der Disziplinen urn eine neue vermehrl werden, wo doch Stimmen laut geworden sind, die in der Mehrzahl der Diszi plinen nicht das Wesen sondem das Unwesen der Philosophie er blicken? Wird die Frage nach dem Gegenstande der Sprachphilosophie gestellt, so erscheint die schnelle Antworl, dass dieser nichts anderes als die Sprache sei. Aber als Gegenstand ist sie Hi.ngst unter die Einzel wissenschaften aufgeteilt, und zwar so prazis, dass es sich kaum in deutscher Sprache ausdnicken lasst. Das Englische kennt den Unter schied von Sprache und Rede (language und speech). 1m Franzosischen gibt es sogar eine Dreiteilung in der WOrlbezeichnung des hier gesuch ten Gegenstandes, Ie langage als ein Besitz, der den Menschen vor allen Wesen, die wir kennen, besonders vor den Tieren, auszeichnet, la langue im Sinne von deutscher, franzosischer und englischer Sprache und la parole im Sinne eines Satzes, den Kainz in seiner "Sprachpsycho logie" (S. 7) anfiihrt: "Mein Freund hat zufolge eines Schlaganfalls die Sprache verloren". Hier werden unterschieden: Sprache schlecht hin, Einzelsprache und der Sprechakt, die Sprachhandlung des Men schen. AIle drei Gegenstande haben ihre Wissenschaften gefunden: die Sprache als objektives Gebilde die Linguistik, die Einzelsprachen diese und die Philologien, und die Sprachhandlung die Sprachpsycho logie. Trennt man an der Sprache, wie Kainz tut, den objektiven, den Gebildefaktor yom subjektiven, dem Prozess- und Funktionsfaktor, so scheint der subjektive Faktor der Psychologie zu gehoren, wahrend der objektive der Linguistik und den Philologien zugeschrieben werden muss. Die Philosophie geht leer aus. Aber nicht nur, dass sie hier nichts ihrem Weltblick Begegnendes findet - der philosophischen Beschaftigung mit der Sprache droht ein anderer schwerer wiegender Vorwurf. Der Philosoph soIl sich der Wirklichkeit zuwenden. Es scheint vom Wesen der Philosophie abzu fiihren, wenn wir, statt uns in direktem Weltblick "den Sachen selbst" zuzuwenden, den Blick auf ihre Vermittlung in der menschlichen Kommunikation richten. Nicht nur, dass der Philosoph hier keinen ihm eigentiimlichen Gegenstand findet - er soIl hier gar keinen suchen. Wie die Beobachtung des Herzschlages diesen stort, so der Blick auf den Logos als Sprache den Herzschlag der Philosoph ie, den Logos als Denken. Dieser Vergleich lasst vermuten, dass die Sprache dem Den ken nicht so fern ist. Dennoch scheint es dem eigenen Sprechen wie der Erkenntnis nicht forderlich zu sein, sich der Sprache zuzuwenden. Ent zieht sich der Logos selbst dem direkten Ansturm auf die Logoi? Indem die Philosophie so bei dem Ausblick nach ihrem Gegenstand UBER DAS WESEN DER SPRACHE 3 die Warnung erfahrt, dass sie hier keinen zu suchen hatte, entdeckt sie, dass in dieser Warnung von Sprache in einem Sinne die Rede ist, den Humboldt als die Ansicht gekennzeichnet hat, die in der Verschieden heit der Sprachen nur eine "Verschiedenheit von Schallen" sieht, die der Mensch "gerichtet auf Sachen, bloss als Mittel behandelt, zu diesen zu gelangen." (Wilhelm von Humboldt: "Gesammelte Schriften" herausgegeben von der Kg!. Preussischen Akademie der Wissenschaf ten. Bd. VI S. II9.) Damit ist nach Humboldt eine Ansicht gekenn zeichnet, die dem Sprachstudium verderblich ist. Gibt es ein anderes Studium der Sprache, das weder in der bisher skizzierten Gegen standseinteilung aufgeht noch die Sprache nur als ein Mittel ansieht, sei es der Kommunikation unter den Menschen oder des Hingelangens zu den Sachen? Und sollte hier die Gegend sein, in der der Philosoph schliesslich auch noch etwas an der Sprache fan de ? In diesem Stadium stellt er dem Warner die Gegenfrage: Warum gehst du nicht direkt auf die Sachen zu, im rein en Denken, das sich vielleicht exakterer Zeichensysteme bedient, als des nun allmahlich zu Alter und Wurde gekommenen Mittels der Sprache? Wir nehmen an, dass der Warner, mit Plato zu sprechen, "sanft" ist und noch nicht den ernsthaften Versuch gemacht hat, der Sprache den Rucken zu kehren, da er sich nun doch in ein Gesprach uber sie einlasst. Er wird antworten, man k6nne vorlaufig des Mittels nicht entraten. Hieraus entsteht die weitere Frage, ob es zum Wesen unserer Weltbegegnung geh6rt, dieses "Mittels" nicht entraten zu k6nnen, oder ob es sich urn ein zwar so Gewordenes handelt, das aber eines Tages durch andere Mittel ersetzt werden k6nnte. Dabei uberh6ren wir nicht die unheim liche Zukunftsmusik, die sich in so harmlos klingender Rede ankundigt, ohne ihr jedoch weiter zu lauschen, da wir von der Sprache handeln. Solange der Mensch spricht - und wir wissen weder, wie lange er das schon tut, noch, wie lange er es tun wird -, begegnet ihm die Wirklich keit nicht abgel6st von der Sprache, eine direkte "unmittelbare" Weltbegegnung gab es bisher nicht. Vielleicht durfen wir sogar an nehmen, dass mit ihrem Erscheinen der Untergang dessen gesetzt ware, was wir bisher als menschliches Wesen zu bezeichnen uns ge w6hnt haben. Was ist der Gegenstand der Philosophie, wenn sie nach dem Wesen der Sprache fragt? Wenn Stefan George im "Neuen Reich" den Drud zum Menschen sagen lasst: "Unvermittelt sind sie euch nie genaht" und Hegel in der Logik sagt, "dass es Nichts giebt, nichts im Himmel oder in der Natur