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’Erinnerung ist unsere Aufgabe‘: Über Literatur, Moral und Politik 1945–1990 PDF

191 Pages·1991·5.798 MB·German
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Jochen Vogt . 'Erinnerung ist unsere Aufgabe' Jochen Vogt 'Erinnerung ist unsere Aufgabe' Ober Literatur, Moral und Politik 1945-1990 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vogt, Jochen 'Erinnerung ist unsere Aufgabe': über Literatur, Moral und Politik 1945-1990 / Jochen Vogt. - Opladen: Westdt. Verl., 1991 ISBN 978-3-531-12269-4 Alle Rechte vorbehalten © 1991 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen in 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt; Titelbild: Fotoagentur Sven Simon, Bonn Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12269-4 ISBN 978-3-663-14434-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-14434-2 Inhalt Vorbemerkung 7 Von der ersten zur zweiten Schuld Modelle literarischer Faschisrnusverarbeitung 9 Goethe in Triimmem Der Streit urn den Wiederaufbau des Goethehauses in Frankfurt (Von Bettina Meier) 28 Nicht mehr mitspielen, nie mehr vergessen ... Nonkonformistische Motive in Romanen der Adenauer-Zeit 41 Nur das Opfer kann die Tater verstehen Uber Zugehorigkeitsproblerne bei Peter Weiss 56 Gestorte Beziehung Beriihrungen und Beriihrungsangste zwischen Literatur und Studentenbewegung 71 Wir Kinder von Murks und Coca Cola Uber Bernward Vespers Lebens-und Todesbuch "Die Reise" 89 Der Erinnerungsarbeiter Zur Charakteristik des Publizisten BOll 105 GroBe Verweigerung, kleine Geniisse Heinrich Bolls Utopie des nicht entfrerndeten Alltags 123 Wie auf den Schultem eine Last von Scheitem Uber die "Asthetik des Widerstands" von Peter Weiss 143 Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur? Ein Kommentar zurn letzten westdeutschen Literaturstreit 173 N amenregister 188 Vorbemerkung Vom gespenstischen "Nachleben" des deutschen Faschismus "in der Demokratie", das heiBt konkret: in der westdeutschen Nachkriegs und Wohlstandsgesellschaft, hat Theodor W. Adorno sehr pointiert schon 1959 gesprochen. Bald danach umreiBen Margarete und Alex ander Mitscherlich in ihrer bis heute - und heute wieder besonders - aktuellen Studie Die Unftihigkeit zu trauern die sozialpsychologischen Verstrickungen, in denen allzuviele befangen waren, die Nationalso zialismus und Weltkrieg mit- und iiberlebt hatten. DaB die massive Abwehr der peinlichen und peinigenden Erinnerung, die Leugnung eigener Mitschuld nicht nur das Verhalten vieler Menschen, sondem auch das Klima von Offentlichkeit, Politik, Justiz dominiert hat, diirf te allen noch gegenwartig sein, die - gerade auch als junge Menschen - die fiinfziger Jahre bewuBt erlebt haben. Der Dichter Felix Pollak, von den Nazis aus seiner Heimatstadt Wi en vertrieben und in den USA zu Ansehen gelangt, hat 1987 in einem seiner letzten Texte* die Rhetorik der Abwehr und Selbstentlastung exemplarisch entfaltet und unter die poetische Chiffre vom Niemalsland gestellt: Wir haben es niemals gewuBt. Die Liigen glaubten wir niemals. Wir sind es niemals gewesen. Der Ausgang stand niemals in Zweifel. Das hat es niemals gegeben. Denn Frevellohnt sich doch niemals. Das ist uns niemals gelungen. Wir haben niemals gefrevelt. Das haben wir niemals versucht. Wir kriimmten niemals ein Haar. Das wurde uns niemals bewiesen. Des hat man uns niemals bezichtigt. Protestiert? Das haben wir niemals. Ja, im Niemalsland lebt sich's behaghch. Wir waren ja niemals dagegen. Man erinnert sich niemals an nichts. Wir waren auch niemals dafiir. Uns seIber hat's niemals gegeben. Trotzdem sind wir niemals ganz gliicklich. Wir konnen halt niemals vergessen All das, was hier niemals geschah. Es war, so wie in diesen Zeilen, tiber vier Jahrzehnte hinweg in erster Linie die Literatur, die die "zweite Schuld" der Deutschen, namlich das In: Felix Pollak: Yom Nutzen des Zweifels. Gedichte, Frankfurt/M. 1989,5.73 7 Verschweigen der ersten (Ralph Giordano), zum Thema gemacht hat. Das gilt fUr die Werke der Exilierten wie fur die Texte, die von der "jungen Generation" der sogenannten Trummerjahre verfa15t wurden. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit den epo chalen Verbrechen, die in seinem Namen - und den Verfehlungen, die alltaglich unter seiner Herrschaft begangen wurden, ist zu einem "roten Faden" der Literatur in der Bundesrepublik geworden. Klarer als die meisten, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung trugen, erkannten ihre Autoren den Doppelcharakter jener Vergangenheit, die - nach einem Wort 001£ Sternbergers - "vorbei ist und eben des wegen nicht wegzuwischen". Und stellvertretend fur eine meist un willige Gesellschaft haben sie eine schmerzhafte, aber auch befreiende "Erinnerungsarbeit" geleistet, haben Wege aus dem "Niemalsland" ge sucht - und das heHst zugleich: Moglichkeiten einer nicht- und nach faschistischen Identitat der Deutschen erkundet. Diesen Wegen gehen meine Beitriige nach, teils im Uberblick und Vergleich, teils anhand exemplarischer Werke und Autoren. Dabei wird es nicht nur urn die Erinnerungsleistung der Nachkriegsliteratur gehen, sondern auch urn die Grenzen, an die sie zwangslaufig stie15, urn die Aporien, in die sie sich verstrickte, auch urn die individuellen und kollektiven Beschiidigungen, von denen sie erzahlt. Und es geht mir nicht zuletzt urn die Frage, ob der mit der Erinnerungsarbeit ver kniipfte moralische SteIlvertretungsanspruch nicht auch eine perma nente Uberforderung der Literatur und ihrer Urheber bedeutet - und die Ausformung anderer literarischer Konzepte blockiert oder er schwert hat. Die Beitrage dieses Bandes sind in den achtziger Jahren aus unter schiedlichen Anlassen, als Vortrage, Radio-Essays oder Zeitschriften aufsatze entstanden. Da15 ich sie nun, erganzt urn einen Beitrag mei ner Schiilerin Bettina Meier, in geschlossener Form vorlegen kann, verdanke ich der unschatzbaren technischen Hilfe von Dagmar Spoo ren, M.A. Der innere Zusammenhang dieser Arbeiten - und damit ein Leitthema eigener Uberlegungen im letzten Jahrzehnt - ist mir selbst in aIler Deutlichkeit erst riickblickend, im Zuge dieser Uberarbeitung bewu15t geworden; wenn jemand dies als ein StUck personlicher Erin nerungsarbeit verstehen will, wiirde ich nicht widersprechen. Essen, im Marz 1991 J.V. 8 Von der ersten zur zweiten Schuld Modelle literarischer Faschismusverarbeitung "Es laufen zu viele Morder frei und frech in diesem Lande umher, vie le, denen man nie einen Mord wird nachweisen konnen. Schuld, Reue, BuBe, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien ge worden, erst recht nicht zu politis chen. Vor diesem Hintergrund bil dete sich etwas, das man inzwischen ... mit einem gewissen Abstand deutsche Nachkriegsliteratur nennen kann." So begann v~r einem Vierteljahrhundert Heinrich Boll einige Vortrage, die Bilanz und Pro gramm seiner Arbeit, Selbstdefinition seiner Autorengeneration und zeithistorische Analyse in einem waren. In komprimiertester Form be nennen diese Satze aus den Frankfurter Vorlesungen von 1963 eine ge schichtliche, sozialpsychologische und literarische Konstellation, die bis heute nicht vollig ausdiskutiert oder aufgelost ist.1 Was bei Boll anklingt, konnen wir nach funfundzwanzig Ja hren allerdings be stimmter fassen: die Tatsache, daB die "Nachkriegsliteratur" (und in einem gewissen Sinn sind Bucher von 1970 oder 1987 immer noch Nachkriegsliteratur> eben dies Ausbleiben von "Reue, BuBe, Einsicht" zu ihrem Leitthema iiber mehr als vier Jahrzehnte hinweg gemacht hat. Wie sie das tut: wo ihre Moglichkeiten, besonders im Blick auf die Klarung und Aufarbeitung individueller oder kollektiver Schuld liegen, und in welche Schwierigkeiten sie sich dabei - notwendiger weise - verstrickt, 5011 an einigen typischen Beispielen untersucht werden. Das setzt zunachst einige Bemerkungen "vorliterarischer" Art voraus. Die Grundthese lautet schlicht und einfach: Die vergleichsweise kurze Zeit nationalsozialistischer Herrschaft stellt nach wie vor, als ei ne Art nationales Trauma, eine Neuformulierung "deutscher Identi tat" starker in Frage als jeder andere Sachverhalt - etwa auch die aus ihr historisch resultierende und sehr viellanger dauemde deutsche Teilung. 1m Ruckblick erscheint sie als dichtes Gewebe zahlloser ver brecherischer, unrechtmaBiger, schuldhafter Handlungen. Es besteht nicht allein aus den spektakularen und zugleich unvorstellbaren Grenzfallen der Unmenschlichkeit: dem terroristischen Raubkrieg und dem industriell betriebenen Volkermord an den europaischen Ju- 9 den. Damit verflochten sind die weniger spektakuHiren Unrechtstaten der nationalsozialistischen Machthaber wie auch die alWiglichen Un rechtshandlungen, deren jeder und jede damals so leicht, oft aus Ge dankenlosigkeit, schuldig werden konnte: das unbedachte Wort, die unterlassene Hilfe, das unwillkiirliche Wegsehen ... Und wahrschein lich ist es gerade das Ineinander des unvorstellbar-epochalen und des alWiglich-banalen Schreckens, das eine Aufarbeitung dieses Schuld zusammenhanges bis heute so schwierig macht. Weiterhin ist daran zu erinnem, dag gleich nach Kriegsende, in Re aktion auf die Beschuldigungen von augen, eine breite Debatte ein setzte, die urn die Frage einer angeblich deutschen Kollektivschuld zen triert war. Jost Hermand hat darauf hingewiesen, wie sehr sie vom Streben nach Entlastung von bzw. nach Verschiebung der Schuld be stimmt war. Bis heute ragen aus dieser Diskussion Karl Jaspers' Vor lesungen Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands her aus, die im Wintersemester 1945/46 in Heidelberg gehalten wurden und inzwischen wieder leicht nachzulesen sind. Zur Versachlichung jener Debatte trifft er eine (in gewissem MaiSe heute noch oder wieder brauchbare) Unterscheidung von vier Kategorien: Zunachst die krimi nelle Schuld als je personliche Verantwortung fUr Verbrechen; sie kann und mug durch Strafe gesiihnt werden. Sodann die politische Schuld aller "Volksgenossen" fUr die von Staats wegen begangenen Untaten; sie rechtfertigen eine kollektive Haftung gegeniiber den Sie germachten. Weiterhin die moralische Schuld des einzelnen; sie mag in der Ausfiihrung eines als unrechtmaiSig erkannten Befehls, im Ge wahrenlassen, im "Mitlaufen" bestehen und kann letztlich nur vom ei genen Gewissen beurteilt werden. Schliemich die metaphysische Schuld, die in der Erfahrung griindet, das Unrecht und den Terror im Einzelfall wie im historischen Ma&tab auch bei bestem Willen nicht verhindem zu konnen. Sie ist, laut Jaspers, wesentlich Schuld vor Gott.2 Dag nun die Schulddebatte schnell, mit dem Beginn von Wirt schaftwunder, Westintegration und Wiederbewaffnung abgebrochen wurde, ist ein friihes Indiz jenes "globalen Riickzugs" der Nachkriegs deutschen "aus der eigenen Vergangenheit", den Alexander und Mar garete Mitscherlich in ihrem epochalen Buch von 1967 beschrieben und als die Unfiihigkeit zu trauern benannt haben. "Wo Schuld entstan den ist", heigt es dort, "erwarten wir Reue und das Bediirfnis der Wie dergutmachung. Wo Verlust erlitten wurde, ist Trauer, wo das Ideal 10 verletzt wurde, das Gesicht verloren wurde, ist Scham die natiirliche Konsequenz." Tatsachlich aber habe nach 1945 eine gigantische Ab wehr und Verleugnung des Geschehenen eingesetzt. "Die Verleug nungsarbeit erstreckt sich gleichermaBen auf die Anlasse fUr Schuld, Trauer und Scham."3 Von heute aus zeigt sieh, daB diese Abwehr, die als massenhafte individualpsychologische Reaktion begann, sieh in dem MaBe verhartete, wie die Nachkriegsgesellschaft und der neue Staat Gestalt annahmen. Aufarbeitung der Vergangenheit gelang im mer dort am allerwenigsten, wo sie Aufgabe staatlicher Institutionen gewesen ware: Sei es, daB Gruppeninteressen sie blockierten (beson ders eklatant im Fall der Justiz); sei es auch, weil die selbstkritische Riickwendung grundsatzlich als "Sand im Getriebe" des Wiederauf baus empfunden wurde, wie Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit schon 1959 geschrieben hat. Der Satz von der Wiederkehr des Verdrangten aber gilt fUr das kollektive BewuBtsein nieht weniger als fUr das individuelle. Die fa schistische Vergangenheit, als vielfach verwobener Schuldzusammen hang, ist bis heute eine "Vergangenheit, die nicht vergehen will", wie man im sogenannten Historikerstreit treffend gesagt hat. Und die fast regelmaBig aufbrechenden Diskussionen oder Skandale, wie dieser Streit selbst oder die Fragen nach der Mitschuld einzelner und ganzer Berufsgruppen, miissen wir wohl als die neurotischen Symptome ver stehen, die aus der kollektiven Verddingung resultieren. Immer klarer zeigt sich dabei, daB die uneingestandene Hoffnung auf eine "biologische Entsorgung" der Vergangenheit, also das Ver schwinden des Problems mit dem Aussterben der unmittelbar betrof fenen Generationen, triigerisch war. Eine Uberspringen der Schuld problematik auf die Kinder jener, die Hitler noch erlebt haben, ist vielfach zu belegen, nieht zuletzt literarisch. Ralph Giordano hat im Titel seines an Jaspers und Mitscherlich ankniipfenden Buches den Begriff Die zweite Schuld gepragt. Er definiert sie als "Verdrangung und Verleugnung der ersten (also des schuldhaften Handelns im Na tionalsozialismus) nach 1945", als "ein schweres Vergehen schuldig gewordener Alterer an den schuldlos beladenen SChnen, Tochtern und Enkeln - sie sind die eigentlichen Opfer der zweiten Schuld, denn was die GroBeltern und Eltern nieht abgetragen haben, kommt auf sie iiber.''4 An diesem Punkt sind ohne Zweifel zahllose Chancen vertan worden, privat oder offentlich-exemplarisch Aufklarung und Aufarbeitung zu leisten, - auch wenn es in allen gesellschaftlichen Be- 11

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