DES BUNDESINSTITUTS FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN ENTWICKLUNGEN IN DER SOWJETISCHEN FÜHRUNG IM JAHRE 1974 Teil II Astrid von Borcke KÖLN LINDENBORNSTRASSE 22 I N H A LT TEIL II Seite 3. Die Debatte über "mehr Konsum oder mehr Ideologie" 25 4. Die Machtkonstellation im Politbüro 41 5. Schlußbetiachtung 48 Abkürzungen 54 Anmerkungen 55 Zusammenfassung 61 Dezember 1974 Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OST WISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Berichten geäußert werden, geben ausschließ lich die Auffassung des Autors wieder. Abdruck - auch auszugsweise - nur mit Quellenangabe und vor heriger Genehmigung des Bundesinstituts gestattet. - 25 - T E IL II 3. Die Debatte in der Führung über "mehr Konsum oder mehr Ideologie" Der XXIV. Parteitag, noch frisch unter dem Eindruck der Gescheh nisse in Polen vom Dezember 1970, hatte als die "Hauptaufgabe" des 9* Fünfjahrplanes "die bedeutende Zunahme des materiellen und kulturellen Lebensstandards" genannt. Allerdings wurde so fort eine Hintertür offengelassen, mit der Einschränkung, dieses Ziel sei zu erreichen "aufgrund hoher Wachstumsraten der sozia listischen Produktion" mittels der "Hebung der Effektivität und Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes". Mit anderen Worten, erhöhte Verbraucherwohlfahrt sollte erst die Folge erhöhter Produktivität sein, welche erst noch zu erzielen sei. Insofern könnte man versucht sein zu sagen, daß diese Ziel setzung in dieser Form praktisch so alt wie die Fünfjahrpläne selber war. De facto aber ist der Anteil der Konsumgüter an der gesamten sowjetischen Industrieproduktion der niedrigste sogar unter den Ländern des C0MEC0N. Die für 1971-75 in diesem Be reich geplanten Investitionen waren in Wirklichkeit sogar gerin ger als das, was tatsächlich in den Jahren 1966-70 zugunsten des Verbrauchers investiert worden war. - 2b - Als im April 1974 die Ergebnisse des Planes für das laufende Vier teljahr bekanntgemacht wurden, stellte sich heraus, daß die Leicht industrie statt der geplanten Wachstumsrate von 7,4% nur ein Wachs tum von 4% erzielt hatte und das bei weiterhin schlechten Qualitä- 94 ten. Auf der Sitzung des Obersten Sowjets im Dezember 1974 sagte Pla nungschef Bajbaxov T*ie gewöhnlich nichts darüber, ob die Gruppe "B", wie geplant, schneller als die Gruppe "A" gewachsen sei. Man konnte aber sogleich vermuten, daß auch 1974 die Zunahme der Konsumgüterpro duktion hinter d*r des "A"-Sektor<: zurückgeblieben war.^ Der Planungschef selber gestand: Infolge der unvollständigen Erfüllung der Planziele bei der Inbetriebnahme von Kapazitäten in Zweigen, die Massenbedarfs artikel herstellen, und in Zweigen, die das Rohmaterial und die Materialien zu deren Produktion liefern, und auch wegen des Ausfalls in der landwirtschaftlichen Produktion war es nicht möglich, die ganze Höhe der Direktiven des XXIV. Partei tages zur Konsumgüterproduktion zu erreichen.9° Diese Situation war noch ernster, als die offiziellen Daten nahe legen,die wagsn derGepl'jqgenheAaibeiderT HIA^ der GrcßhaideJspreise den Anteil der Produktionsgüter am Nationaleinkommen niedriger und den der Konsumgüter höher erscheinen lassen als das aufgrund der tatsäch lichen Endpreise der Fall ist. Wenn also der 9. Fünfjahrplan keines wegs besonders "konsumfreundlich" zu nennen ist, so ist aber doch zu bemerken, daß inzwischen in der Sowjetunion die Grundlagen für eine in Zukunft bedeutend stärkere Verbraucheroritntierung gelegt worden sind, sollte sich die politische Führung hierzu entschei- 97 den. Das ist die allgemeine Sachlage, vor deren Hintergrund im letzten Jahr eine bemerkenswerte Diskussion stattfand, ob man dem Verbraucher mehr Zugeständnisse machen sollte oder aber (bei Wah rung der traditionellen Prioritäten der Wirtschaft) künftig die Ideologie wieder stärker betonen sollte. Die Debatten um den Perspektivplan für die Jahre 1976-90 und den vom bevorstehenden XXV. Parteitag zu verabschiedenden 10. Fünf jahrplan haben der alten Problematik der Aufteilung der Ressour cen offenbar seit Anfang 1974 erneute Aktualität verliehen. In dieser Diskussion ging es, in ^cerbickijs etwas nebulöser Formu lierung, um die "weitere Ausarbeitung von Fragen der Wirtschafts- - 27 - Wissenschaft und Wirtschaftspolitik der Partei", vor allem um die Frage "der konkreten Wege zur Hebung der Effektivität der gesell- 98 schaftlichen Produktion". Diskutiert wurde die Frage, ob man mehr Gewicht auf den Konsum le gen, also gemäß Kosygins Forderung den "Bedürfnissen der Gesell schaft" entgegenkommen sollte, um durch erhöhte "materielle Anreize" sowie den Ausbau der Infrastruktur die Produktivität zu heben, oder aber ob man weiterhin sich primär auf "ideologische Anreize" stützen und dabei (implizite) das traditionelle Schwergewicht auf Schwerindustrie und Rüstung belassen sollte. Denn, so schrieb zu Recht ein sowjetischer Kommentator, die von den verschiedenen Ressorts im Interesse der optimalen Erfüllung ihrer Aufgaben vorgebrachten Be dürfnisse "sind bedeutend größer als die Möglichkeit der Gesellschaft, 99 diese zu befriedigen". ^ Man muß also die Priorität festlegen. Im März 1974 forderte das Regierungsorgan Izvestija, die Planung müs se "die sozialen Bedürfnisse der Produktion und der Bevölkerung" mehr berücksichtigen. Analog erklärte die Pravda — deren Chefredakteur Zimjanin in wirtschaftlichen Fragen eher progressiv denkt —, die "weitere Hebung der Volkswohlfahrt" sei eine "notwendige Bedingung 101 für die Beschleunigung der Entwicklung unserer Gesellschaft". v Parteichef Breznev war bislang in der Öffentlichkeit um ein verbrau cherfreundliches Image bemüht gewesen bzw. hatte, wie so oft, ver sucht, es allen recht zu machen. So erklärte er auf Cuba, die Partei sähe ihre Hauptaufgabe in der Verbesserung des Lebens des Volkesu nd 102 in der "Sorge um die Armee". Doch es war nicht zu übersehen, daß y gerade Leute aus Breznevs Anhang sich durch wirtschaftlichen Konser vatismus und Verbraucherfeindlichkeit hervortaten. Zu nennen wären z.B. V.G. Afanas'ev, der bisherige Stellvertretende Chefredakteur der Pravda (und seit dem Sommer neuer Chefredakteur des theoretischen Organs des ZK, des Kommunist), sowie der Ukrainer Scerbickij, der wie y Breznev seine Laufbahn in Dnepropetrovsk, einem Zentrum der Schwer- und Rüstungsindustrie, begonnen hat und seinen heutigen Posten als ukrainischer Parteichef dem Generalsekretär verdankt. Scerbickij - 23 - bemühte sich auf dem Höhepunkt der Debatten um die von Kosygin eingeleitete Wirtschaftsreform im Oktober-November 1964, die 103 Argumente der Reformgegner zu unterstützen. Auf dem Plenum des ukrainischen ZK im Mai 1974 hielt er eine ideologiebewußte Rede. Ende April 1974 schien die konsumfeindliche Tendenz die Oberhand y zu gewinnen. Auf dem 17. Komsomolkongreß solidarisierte sich Brez nev allem Anschein nach offen mit den Konsumgegnern, als er vor einer "Konsumentenhaltung" zum Leben warnte. Wenn das wie eine Standardformel klingen mag — vor dem Hintergrund der laufenden Debatte dürfte diese Äußerung des Parteichefs mehr als eine facon de parier gewesen sein. Es war nicht zu übersehen, daß die Aufrufe des ZK zum 1. Mai einen betont "restaurativen" Charakter trugen und bezeichnenderweise ge rade der Aufruf, der den Verbraucher betraf, zu dessen Ungunsten 105 modifiziert worden war. "'Doch am 1. Mai konnte man in derP ravda lesen, daß der Sozialismus mit der Herstellung des "vollständigen Wohlstands" gleichbedeutend sei. In dem Aufruf des ZK an die Bevöl kerung vom 18. Mai wurde nichts von einer "weiteren Erhöhung" des Wehrpotentials gesagt. Im Juniheft des Kommunist —- gerade als das theoretische Organ nach der Beförderung von A.G. Egorov zum Direk tor des Instituts für Marxismus-Leninismus (im Mai) ohne Chefredak teur war — erschien ein bemerkenswerter Artikel von V. Mejer, der rundheraus erklärte, daß sich heute das Problem "der Struktur der Nachfrage und der Ausgeglichenheit der Struktur von Nachfrage und Angebot" mit aller Macht stelle. Zwar solle man nicht "aus Dingen einen Fetisch machen" (preklonit'sja pered vescami), und "rückhaltlose Akkumuliererei" sei abzulehnen. Aber "wir dürfen nicht 107 Nihilismus gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung zulassen". (Einen derartigen Nihilismus aber hatte soeben der Verteidigungs minister in seinem Artikel in Heft 5 der Voprosy istorii KPSS zur Schau getragen.)Ministerpr&sident Kosygin erklärte in seiner Wahl rede im Juni! - 29 - Die Realisierung der Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes, die Hebung des materiellen und kulturellen Lebensstandards des Volkes, hat die Verwirklichung bedeutender wirtschaft licher Maßnahmen zur Expansion der Konsumgüterproduktion erfordert.108 y Zwei Tage nach dieser Rede vollzog auch Breznev scheinbar eine erstaunliche Kehrtwendung. Er räumte ein, daß der "Aufbau des So zialismus" in der Sowjetunion mit beträchtlichen Härten verbunden gewesen sei. Immer noch müßten große Ausgaben in die Wirtschaft und Rüstung abgezweigt werden. Aber unsere Ressourcen sind unermeßlich gewachsen, und das gibt uns die Möglichkeit, das zu tun, wonach wir schon immer gestrebt haben: das Wachstum des Wohlstands der so wjetischen Menschen in den Mittelpunkt der praktischen Po litik der Partei zu stellen. ^^ Diese Erklärung des Generalsekretärs ging weit über das anläßlich der Wahlen zum Obersten Sowjet übliche Bekenntnis zur Volkswohl- y fahrt hinaus. Das konnte nur heißen, daß Breznev entweder die Fron ten gewechselt hatte oder aber — was wahrscheinlicher war —, daß er inzwischen im Politbüro in der Debatte über mehr "Konsum oder Ideologie" überstimmt worden war. Er selber schien das anzu deuten, wenn er sagte, er teile die Einschätzung der wirtschaft- 110 liehen Entwicklung durch "seine Kollegen im Politbüro und ZK". Dann kam er sogleich auf das alte Rezept zurück, daß wachsende Verbraucherwohlfahrt nur das Ergebnis einer gewachsenen Arbeits- 111 Produktivität sein könnte. Im Oktober schien er wieder anzu deuten, daß erhöhte Verbraucherwohlfahrt doch eher Zukunftsmusik sei: einen "Überschuß" an "Qualitätsnahrungsmitteln, Konsumgütern und Dienstleistungen" gäbe es erst im Laufe der nächsten drei Fünf jahrp1äne. In Moldavien betonte er: um die Ziele des XXIV. 112 Parteitags zu erreichen, "müssen wir alle noch aktiver arbeiten". Das hieß doch wohl: erst mehr produzieren, dann mehr konsumieren. 115 Die Debatte über "Konsum oder Ideologie" ging überraschenderweise ^ auch nach den Wahlen zum Obersten Sowjet weiter. Ein großer uigezexhne- ter Leitartikel der Pravda vom 6. Juli sprach direkt von einer Um verteilung der öffentlichen Ressourcen und betonte, daß der Anteil des Konsumsektors am Nationaleinkommen ständig steige und bis 1975 50 - 75% erreicht haben werde. Ein derartiger podval (anonymer Leitar tikel im Innern) der Pravda hat praktisch das Gewicht einer Partei direktive. Der Leitartikel deutete also darauf hin, daß sich die Führung inzwischen über die Grundfragen des Perspektivplanes geei nigt hatte. Es schien daher, als ob im letzten Sommer die von Kosygin vertretene Tendenz gesiegt hätte. In seiner Rede zum Jahrestag der Oktoberre volution nannte Außenminister Gromyko die "Hebung des materiellen und kulturellen Lebens der Werktätigen" -- allerdings wieder auf grund hoher Wachstumsraten" — das "Hauptziel" des 9* Fünfjahrpla nes. Diese Linie werde "konsequent verwirklicht", und der "Kurs des XXIV. Parteitages", nämlich die "vollere /es handelt sich um ein relatives Zielj^ Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung", werde auch hinfort "konsequent ver wirklicht".^ Im Grunde sehen die sowjetischen Führer alle, daß man heute etwas für den Verbraucher tun muß, im Interesse der Wirtschaft selbst. In den Worten eines sowjetischen Kommentators: Sowohl unsere Ziele und Prinzipien als auch die Erfordernisse der Volkswirtschaft j/sic^y machen eine tiefere Wendung in Richtung auf die Lösung der mannig faltigen Aufgaben, die mit der Hebung der Volkswohlfahrt verknüpft sind, möglich und nötig.11° Theoretisch stimmen die Spitzenführer praktisch alle hierin über ein. Einer der Vorwürfe, den Suslov 1964 in seiner Anklagerede yy gegen den gestürzten Chruscev vorgebracht hatte, war, daß er es nicht vermocht hatte, eine ausreichende Wachstumsrate in der 117 Leichtindustrie zu erreichen. Im November 1973 (nach der Rekordernte) erklärte der Chefideologe: die erfolgreiche Entwick lung der sowjetischen Wirtschaft erlaube es, konsequent die Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes zu lösen — die wesentliche Erhöhung der materiellen Wohlfahrt und Kultur des Volkes. "8 Selbst der Altbolschewik Pei'se erklärte anläßlich der Wahlen zum Obersten Sowjet: