Gerhard Schlosser Einheit der Welt und Einhei tswissenschaft Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie Gegründet von Prof. Dr. Simon Moser, Karlsruhe Herausgegeben von Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt, Siegen H. Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie (lieferbar als Band 1 der Hans Reichenbach Gesammelten Werke) 2 R. Wohlgenannt: Was ist Wissenschaft? (vergriffen) 3 S. J. Schmidt: Bedeutung und Begriff (vergriffen) 4 A.-J. Greimas: Strukturale Semantik (vergriffen) 5 B. G. Kuznecov: Von Galilei bis Einstein (vergriffen) 6 B. d'Espagnat: Grundprobleme der gegenwärtigen Physik (vergriffen) 7 H. J. Hummell, K. D. Opp: Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie (vergriffen) 8 H. Lenk (Hrsg.): Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie (vergriffen) 9 I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt (vergriffen) 10 R. Haller, J. Götschl (Hrsg.): Philosophie und Physik 11 A. Schreiber: Theorie und Rechtfertigung 12 H. F. Spinner: Begründung, Kritik und Rationalität 13 P. K. Feyerabend: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften 14 I. Lakatos: Beweise und Widerlegungen (vergriffen) 15 P. Finke: Grundlagen einer linguistischen Theorie 16 W. Balzer, A. Kamlah (Hrsg.): Aspekte der physikalischen Begriffsbildung 17 P. K. Feyerabend: Probleme des Empirismus 18 W. Diederich: Strukturalistische Rekonstruktionen 19 H. R. Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verköperung von Wirklichkeit 20 W. Balzer: Empirische Theorien: Modelle - Strukturen - Beispiele 21 H. von Forster: Sicht und Einsicht 22 P. Finke, S. J. Schmidt (Hrsg.): Analytische Literaturwissenschaft 23 J. F. Ihwe: Konversationen über Literatur 24 E. von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit 25 J. Klüver: Die Konstruktion der sozialen Realität Wissenschaft: Alltag und System 26 eh. Lumer: Praktische Argumentationstheorie 27 P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns 28 W. Stangl: Das neue Paradigma der Psychologie 29 W. Krohn, G. Küppers (Hrsg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution 30 E. Matthies, J. Baecker, M. Wiesner: Erkenntniskonstruktion am Beispiel der Tastwahrnehmung 31 M. Borg-Laufs, L. Duda: Zur sozialen Konstruktion von Geschmackswahrnehmung 32 R. Pas lack: Urgeschichte der Selbstorganisation 33 G. Schiepek: Systemtheorie der Klinischen Psychologie 34 A. Kertesz: Die Modularität der Wissenschaft 35 H.-M. Zippelius: Die vermessene Theorie 36 A. Ziemke: System und Subjekt 37 G. Schlosser: Einheit der Welt und Einheitswissenschaft Gerhard Schlosser Einheit der Welt und Einheitswissenschaft Grundlegung einer Allgemeinen Systemtheorie 11 vleweg Die DeutKhe Bibliothek -CIP-Einheituufnahme Sehlouer, Gerhard: Einheit der Weh und Einheitswissensehaft: Grundlegung einer allgemeinen System theorie , Gerhard Schlosser. - BraunKhweig; Wiesbaden: Vieweg, 1993 (Wissensehafutheorie, Wissensehaft und Philosophie; 37) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1990 ISBN 978-3-322-90911-4 IS8N 978-3-322-90910-7 (eBook) 00110.1007/978-3-322-90910-7 NE:GT Alle Rechte vorbehalten C Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesdlschaft mbH, Braunschweig/Wiesbaden, 1993 Softoover reprini of the hardcover 1s i edition 1993 Der Verlag Vieweg ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt_ Jede Verwertung außerhalb der engen Gren~en des UrheberrechlSgeset~es ist ohne Zustimmung des Verlags untulässig und strafbar. Das gill insbesondere für Vcrvidfälligungen, Obcnct~ungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeilung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem Papier ISSN 0939-6268 Meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet Vorwort Eine tiefe Unzufriedenheit bereitete den fruchtbaren Boden, in dem die Überle gungen des vorliegenden Buches wurzeln und gedeihen konnten. Eine Unzufrieden heit, die ich seit Jahren immer dann empfinde, wenn in den Wissenschaften von "Reduktion" die Rede ist, wenn etwa behauptet wird, die Biologie sei auf die Physik oder Geisteswissenschaften seien auf Naturwissenschaften zu reduzieren. Je mehr ich mich mit diesem Thema beschäftigte, desto größer wurde mein Unbehagen gegenüber reduktionistischen Thesen. Zweifelsohne gibt es eine Einheit der Welt, es sollte daher "irgendwie" auch eine Einheit der Wissenschaft geben. Eine solche Position könnte man -schreckt man vor "ismen" nicht zurück -ganz allgemein als "Unifikationismus" bezeichnen. Der Weg jedoch, den viele "Reduktionisten" einschlugen, um zur Einheit zu gelangen, schien mir auf großen Strecken nicht gangbar, schien von allzuvielen materialistischen Vorurteilen und Widersprüchlichkeiten verstellt zu sein. Einige die ser Vorurteile aus dem Weg zu räumen, einige dieser Widersprüchlichkeiten aufzu zeigen und zu beseitigen ist das Ziel dieses Buches. Systemtheoretische Überlegungen gelangen derzeit in den verschiedensten Wissen schaften zu fruchtbarer Anwendung (vgl. etwa Haken (1976, 1981, 1985), Schmidt (1987» und könnten daher zum Ausgangspunkt für ein interdisziplinäres Gespräch werden, ohne die Existenzberechtigung verschiedener Disziplinen nach reduktionisti scher Manier in Frage stellen zu müssen. Die neuere systemtheoretische Diskussion krankt aber daran, daß sie keinen präzisen und konsistenten Systembegriff anzubieten hat, der interdisziplinär anwendbar wäre und sich somit eignete, Brücken zwischen den Disziplinen zu schlagen. Diesem Mangel möchte ich mit dem vorliegenden Buch abhelfen. Der hier entwickelte Ansatz einer Allgemeinen Systemtheorie, in der Sy steme als Mengen von Relationengefügen in einem relationalen universalen Wirkungs zusammenhang konzipiert werden, knüpft an Whiteheadsche Überlegungen an. So trivial dieser mengentheoretische Ansatz auf den ersten Blick auch scheinen mag: Er hat weitreichende Konsequenzen für die verschiedensten Wissenschaften, wie ich im zweiten Teil dieses Buches erläutern werde. Er vermag beispielsweise viele der vagen und oft nur intuitiv begründeten Aussagen der "Holisten" zum ganzheitlichen Charak ter komplexer Systeme ("Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile") von ihrer mystischen Aura zu befreien und zu rechtfertigen. Ich werde außerdem andeuten, welche Konsequenzen die Allgemeine Systemtheorie für Evolutions-, Kognitions-und Kommunikationstheorie hat (Kap. 7), ohne in diesem Zusammenhang aber die Fülle der meist kontroversen Ansätze in jenen Disziplinen gebührend würdi)2,en zu können. Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete Version meiner Dissertation "Die Einheit der Welt und ihre wissenschaftliche Deutung" (Schlosser (1990» dar, in dem einige terminologische Änderungen vorgenommen (vgl. Kap. 5, Fußnoten 3, 18 und 25), inhaltliche und sprachliche Mängel beseitigt und zusätzliche Quellen berücksich tigt wurden. Der Anhang zu meiner Dissertation, in dem ich eine formalisierte Dar- VIII Vorwort stellung der Allgemeinen Systemtheorie skizziert habe, wurde weggelassen. Er wird in stark überarbeiteter und erweiterter Form Gegenstand einer eigenständigen Publika tion sein. Ich habe mich bemüht, einen Großteil der Literaturdiskussion sowie weit schweifige Randbemerkungen in die Fußnoten zu verlegen, um den Text flüssiger les bar zu machen. Meine eigenen Überlegungen, vor allem meine Bemühungen, mit einer "Allgemeinen Systemtheorie" Licht in das Dunkel herrschender reduktionistischer Vorurteile zu tragen, sind nicht aus Nichts geboren. Sehr viel verdanke ich A.N. Whiteheads Philosophie mit ihrer radikalen Kritik am Substantialismus. Whiteheads Versuch, die Welt relational und prozessual umzudeuten, liegt meiner Systemtheorie zugrunde. Die Idee einer "Allgemeinen Systemtheorie" geht auf L. v. Bertalanffy zurück und wurde von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt. Es wäre sicher interessant, Gemeinsamkeiten und Unterschiede all dieser System theorien näher zu beleuchten, was den Rahmen dieses Buches aber sprengen würde. Das Werk 1 v. Uexkülls hat mein Augenmerk auf die Umweltbeziehungen von Syste men und ihre semantischen Aspekte gelenkt. H. Maturanas Schriften haben mir das Prinzip der dynamischen Selbsterhaltung von Systemen durch zyklische Re-Produk tion nahegebracht. W. V. o. Quine und R. Rorty trugen dazu bei, den Dogmatismus in der Philosophie zu entthronen. Ihren toleranten Gedanken, die der Philosophie zu Recht den Nimbus nehmen, Unbezweifelbares zu verkünden, fühle ich mich beson ders verpflichtet; sie stellen den Leitfaden dar, an dem sich meine philosophische Argumentation orientiert. Meinen Blick dem undogmatischen Horizont von Philosophie erstmals geöffnet zu haben, verdanke ich aber einigen erfrischend "ketzerischen" Vorträgen von Rainer Marten. Helmut Schwegler und Gerhard Roth schulde ich besonderen Dank. Ihre kritischen Kommentare waren mir Anlaß für manche Präzisierung und Modifikation meiner systemtheoretischen Überlegungen. Jann Holl danke ich für die Betreuung meiner Dissertation an der Universität Freiburg, Erhard Scheibe, Christiane Schmitz und Albert Newen für einige anregende Diskussionen. Viele interessante Einsichten in das hier behandelte Thema kamen mir erst im Laufe der Niederschrift meiner Gedanken. Wären diese Ausgangspunkt meines Bu ches gewesen, so hätte dieses vielleicht in einigem anders ausgesehen; andere Denker, andere Schriften hätten dann wahrscheinlich mehr Gewicht erhalten. Doch liegt es wohl im Wesen des Verstehens selbst, daß Vollständigkeit, so sehr man auch bemüht sein mag, sie zu erreichen, sich einem immer entzieht: "- Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen -anfing. Das ewige lei dige "Zu spät!" -Die Melancholie alles Fertigen!" -Friedrich Nietzsche (1886), S. 169 Inhalt Einleitung 1 Erster Teil: Wissenschaftstheoretische Überlegungen zu Reduktionismus und Unifikationismus 1 Reduktion und Unifikation wissenschaftlicher Theorien 9 1.1 Übersetzungsreduktionismus - der Physikalismus des Wiener Kreises 9 1.2 Kommensurabilität und Kompatibilität von Theorien 14 1.2.1 Ist wissenschaftlicher Fortschritt rational? - Reduktionismus und Rationalismus 15 1.2.2 Gibt es eine Einheit der Wissenschaft? - Reduktionismus und Unifikationismus 23 2 Der mißverstandene Unifikationismus 31 2.1 Erklärung und Interesse -eine Kritik des Kausalismus 31 2.1.1 Wissenschaftliche Erklärung 32 2.1.2 Systemanalytische und gesetzesanalytische Wissenschaft 39 2.2 Das Ganze und seine Teile -eine Kritik des Partitionismus 45 Zweiter Teil: Systemtheoretische Konsequenzen des Unifikationismus Eine Allgemeine Systemtheorie 3 Philosophische Vorbemerkungen 51 3.1 Wider den Transzendentalismus 52 3.2 Wahrheit und Konsens 57 3.3 Systemtheorie und Philosophie 62 4 Relation und Prozeß -die unterschiedene Einheit der werdenden Welt 67 4.1 Abschied vom Substantialismus 68 4.2 Wege zum Elementaren 81 4.3 Der universale Wirkungszusammenhang 87 4.4 Mögliche Einwände 94 x Inhalt 5 Aufbau einer Allgemeinen Systemtheorie 99 5.1 Elementarprozesse, Momentansysteme, Prozeßsysteme 101 5.2 System und Umgebung. 113 5.3 Autogenetische und heterogenetische Systeme 120 5.3.1 Autogenetische Systeme 121 5.3.2 Heterogenetische Systeme 123 6 Komplexe heterogenetische Systeme • ihre zeitliche und räumliche Organisation 138 6.1 Komplexität und Antizipation 138 6.2 Integrative Hierarchien 147 6.3 Bedeutung und Funktion 156 6.4 Ganzheit und Emergenz 167 7 Geschichte und Evolution dauerhafter Prozeßsysteme 175 7.1 Die Geschichtlichkeit des Dauerhaften 175 7.2 Die Geschichtsbestimmtheit der Geschichte 178 7.3 Kritische Anmerkungen zum Neodarwinismus aus systemtheoretischer Perspektive 188 7.4 Kopplung und Koevolution von Prozeßsystemen 195 7.4.1 Konkurrenz und Koevolution 196 7.4.2 Kognition und Kommunikation 197 7.5 Historischer Integrationismus 207 8 Die Deutung der Welt 209 8.1 Systemanalyse 211 8.1.1 Bedeutungszusammenhänge 211 8.1.2 Logik der Funktionalanalyse 217 8.1.3 Historische Zusammenhänge 226 8.2 Allgemeine Systemtheorie und Einheitswissenschaft 228 Literatur 239 Nachweis der einleitenden Zitate 251 Abbildungen 252 Einleitung Wievie~ 0 wieviel Welt. Wieviel Wege. -Paul Celan (1963) Wir haben entdeckt, daß der Dialog mit der Natur nicht mehr bedeutet, von außen einen entzauberten Blick auf eine mondar tige Wüste zu werfen, sondern vielmehr, eine komplexe und vielfältige Natur an Ort und Stelle nach ausgewählten Gesichts punkten zu erforschen. -lIya Prigogine und Isabelle Stengers (1980) Wir leben gemeinsam in unserer einen Welt. Auf einer Bühne spielt sich das ganze Welttheater ab. Wir selbst sind die Akteure -und Zuschauer zugleich, und die Kulisse nennen wir Natur. Wir können unsere Welt nicht eintauschen gegen eine andere. Wir können sie nicht von außen betrachten. Da es für uns nur diese eine Welt gibt, können wir sie auch nicht mit anderen vergleichen. Doch ist uns unsere eine Welt ganz zu gänglich. Was uns nicht zugänglich ist, gehört nicht zu unserer Welt. Unsere eine Welt steckt voller Überraschungen und ungeahnter Möglichkeiten. Nur einen winzigen Teil kennen wir schon, vieles ist uns noch verborgen. Wir machen uns auf, die Welt zu er forschen, weil wir glauben, sie sei verstehbar, weil wir hoffen, die Geheimnisse unse rer Welt ließen sich - teilweise zumindest - lüften, selbst wenn uns vieles für immer rätselhaft bleiben wird. Die Wissenschaft hat sich zur Aufgabe gesetzt, unsere Welt auf eine Art und Weise zu erforschen, die für uns alle nachvollziehbar, die intersubjektiv gültig ist. Nur über die eine Welt, in der wir gemeinsam leben und uns verständigen, können wir in der Wissenschaft reden. Dennoch gibt es verschiedene wissenschaftliche Disziplinen -ver schiedene "Wissenschaften" -, die verschiedene Ausschnitte dieser Welt auf verschie dene Art und Weise erforschen. Alle diese Wissenschaften sollten aber zusammen hängen, so wie die Welt eine zusammenhängende Einheit bildet. In unserer Welt kann alles mit allem wechselwirken, es gibt keine isolierten Tatsachen. Blitze mögen zwar "Sache" der Meteorologie sein, so wie Tiere eine "Sache" der Zoologie sind, und doch kann ein Blitz ein Tier töten. Der menschliche "Geist" mag "Sache" der Geistes wissenschaften sein, und doch können wir mit seiner Hilfe Maschinen aus Eisen und Stahl bauen und in unsere Dienste nehmen. Stünden die verschiedenen Wissenschaf ten vollkommen beziehungslos nebeneinander, so könnten wir diesen einheitlichen Wirkungszusammenhang nicht verstehen. Viele Philosophen und Wissenschaftler he gen daher seit langem die Überzeugung, daß die Wissenschaft im Prinzip eine Einheit bildet, daß alle wissenschaftlichen Disziplinen "irgendwie" zusammenhängen. Diese Position läßt sich ganz allgemein als unifikationistisch kennzeichnen. Eine solche Position vertreten heißt, jegliche prinzipielle, unversöhnliche Spaltung der Wissenschaften abzulehnen, heißt insbesondere, zu leugnen, daß durch die Welt