Sammlung Metzler Band 217 Jürgen Schutte Einführung in die Literaturinterpretation J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart Korrigierter Nachdruck der 1. Auflage CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schutte, Jü rgen: Einführung in die Literaturinterpretation / Jürgen Schutte.- korrigierter Nachdr. d. 1. Auf!. - Stuttgart : Metzler, 1990 (Sammlung Metzler; Bd. 217) ISBN 978-3-476-12217-9 NE:GT SM217 ISBN 978-3-476-12217-9 ISBN 978-3-476-04104-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-04104-3 ISSN 3 476102173 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe sondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und earl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1990 INHALT EINLEITUNG ........................................ . 1. LITERATURANEIGNUNGALSKOMMUNIKATIVEPRAXIS..... 5 1.1. Lektüre - Kritik - Interpretation: Formen der Aneignung . . . 5 1.2. Methodische Praxis derInterpretation ................. 13 1.2.1. Textauswahl und Textkritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2.2. Lesarten ................................... 18 1.2.3.Hermeneutischer Exkurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.4. Arbeitsschritte einer methodischen Interpretation .... 29 1.3. Modell derliterarischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. WIRKLICHKEIT - AUTOR - TEXT: PRODUKTIONSÄSTHETISCHE ANALYSE 44 2.1. Der Text als Botschaft des Autors und Zeugnis seiner Entstehungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2. Modell der Textproduktion ......................... 53 2.3. ZugängezurproduktionsästhetischenAnalyse . . . . . . . . . . . 61 2.4. Text und Kontext (1) .............................. 75 3. KATEGORIEN UND VERFAHREN DER STRUKTURANALYSE . . . 94 3.1. Der Text als Struktur .............................. 94 3.2. Kategorien derInhaitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.3. Strukturanalyse narrativer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.3.1.Fabelanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.3.2. Erzählsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.4. Strukturanalyse lyrischer Texte 137 4. TEXT - LESER - WIRKLICHKEIT: REZEPTIONSÄSTHETISCHEANALYSE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.1. Derliterarische Text als Rezeptionsvorgabe ............. 156 4.2. Modell der Textrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.3. Zugänge zur rezeptionsästhetischen Analyse. . . . . . . . . . . . . 175 4.4. Text und Kontext (2) .............................. 190 ANHANG: Hinweise zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens .................................. 198 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 SACHREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 V VORBEMERKUNG Die Verhältnisse an den Hochschulen der Bundesrepublik und West-Berlins, ganz besonders im >Massenfach< Germanistik, sind nicht so, daß größere Forschungsarbeiten ohne fast unzumutbare zusätzliche Belastungen durchgeführt und abgeschlossen werden könnten. Die seit Jahren andauernde >Überlast<-Situation, der Stel lenabbau im wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Per sonal und die drohende Zerstörung aller beruflichen und sozialen Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Studie renden überhaupt zwingen einen mehr, als das gut wäre, zur Impro visation. Um so nachdrücklicher möchte ich allen danken, die mir bei der Ausarbeitung des hier vorgelegten Versuchs mit Rat und Freundlichkeit geholfen haben. Das betrifft vor allem die Studentin nen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich ein zelne Teile und Aspekte diskutieren konnte, besonders Helmut Peitsch, Peer Ball und Hans Jürgen Bachorski. Marlene Stukowske hat mit großer Sorgfalt und Geduld das Typoskript angefertigt, Ulrike Faber den größten Teil der persönlichen Belastungen aufge fangen. Der Abschluß der Arbeit wurde durch einen Forschungszu schuß der Freien Universität Berlin wesentlich erleichtert; in diesem Rahmen hat Joachim Wohlfeil an der Fertigstellung des Textes mitgearbeitet. West-Berlin, November 1984 J.S. ZUR ZITIERWEISE Zitate und Verweise im Text werden mit dem Erscheinungsjahr und der Seite der Quelle genannt; die Angaben beziehen sich durch gehend auf das Literaturverzeichnis S. 212ff. VII EINLEITUNG »Genuß bietet die Sinngebung der Erscheinungen« Benolt Brecht Interpretation ist in den letzten Jahren wieder in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher Reflexion gerückt. Das hängt u. a. damit zusammen, daß die Frage nach dem »Nutzen der Literatur«, die von den revoltierenden Studenten und Intellektuellen um 1968 in äußerst fruchtbarer Weise aufgeworfen wurde, bis heute nicht verstummt, geschweige denn gelöst ist. Nicht nur zahlreiche Schriftsteller, auch Literaturwissenschaftler machen sich systematisch Gedanken über den Gebrauchswert der Literatur, über die Bedeutung von Lesen und Schreiben für das gesellschaftliche Leben überhaupt, für die individuelle Entwicklung der einzelnen Menschen. Die literaturwis senschaftliche Entwicklung in dem hier Zur Debatte stehenden Zeit raum - etwa der letzten fünfzehn Jahre - ließe sich unter diesem Blickwinkel als eine Entwicklung von der »Kunst der Interpreta tion« ZUr Theorie und methodischen Praxis der Interpretation resü mieren. Es handelt sich - wenigstens der Möglichkeit nach - um eine begrüßenswerte Verwissenschaftlichung der Interpretationspraxis, die ja den Kern literaturwissenschaftlicher Tätigkeit bildet. Die literaturwissenschaftliche Landschaft hat in den vergangenen Jahren in der Tat bedeutsame Veränderungen erfahren. Mit der entschiedenen Ausweitung des Literaturbegriffs, der Wiederent deckung pragmatischer und sozialhistorischer Dimensionen, der Entwicklung bzw. Aneignung neuer Methoden (Rezeptionsästhe tik, Strukturalismus, Texttheorie u. a.) und Wissenschaftsdiszipli nen (Linguistik, Kommunikationstheorie, Psychoanalyse u.a.) wurden ganz neue oder lange verschüttete Fragestellungen (wieder) aktuell und bisher unbegangene oder lange vergessene Wege (von neuem) gebahnt. Die in den Auseinandersetzungen nicht immer im Interesse der Sache beklagte »Methodologisierung« der Literatur wissenschaft hat neben einer bemerkenswerten Vertiefung des lite raturgeschichtlichen Bewußtseins u. a. die Perspektiven und Mög lichkeiten der exakten Texterfassung sowie der literarischen und historischen Wertung erweitert. Es hat sich herausgestellt, daß sehr vieles von dem, was die bis in die 60er Jahre dominierende immanen te Interpretation als unhinterfragbaren Ausdruck »dichterischen Schöpfertums« bezeichnete, sehr wohl bestimmten sprachlichen, semiotischen, literaturgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten entspricht und daher rational beschrieben und erklärt werden kann. Es ist - so scheint es - an der Zeit, die seinerzeit notwendigerweise polemisch abgebrochene Diskussion ein Stück weit wieder aufzunehmen. Anlaß und Grundlage dazu kann die literaturwissenschaftliche (und z. T. literarische) Entwicklung seit Ende der 60er Jahre sein. Denn das Entscheidende an dem schon früh konstatierten (wohl eher postulierten) ,.Paradigmawechsel« der Literaturwissenschaft war ja doch wohl die Entdeckung des wirkli chen Lesers. War es auch kaum zu rechtfertigen, wenn die Produk tionsästhetik durch eine Rezeptionsästhetik >abgelöst< wurde, so hat doch das verstärkte Augenmerk auf letztere in erheblichem Maße produktive Kräfte und Tendenzen innerhalb der westdeutschen Li teraturwissenschaft freigesetzt. Die von Harald Weinrich geforderte »Literaturgeschichte des Lesers« hat ebenso wie die Formel Hans Dieter Zimmermanns von der "Geschichte der gelesenen Literatur« die literarhistorische Forschung der letzten Jahre vom ästhetischen oder ideologiekritischen Vorurteil auf den Boden der Tatsachen gebracht; diese Ergebnisse sind freilich nicht überall fruchtbar ge macht worden. Zur Frage nach der historischen Funktion der Litera tur, die durch eine solche Hinwendung zu den wirklichen Rezep tionsprozessen weitergehend differenziert werden konnte, stellt sich die nach der Spezifik der ästhetischen Erfahrung als eine nach der spezifischen Funktionsweise literarischer Texte im System der gesellschaftlichen Kommunikation. Gerade dieser Zusammenhang von inhaltlichen, rezeptionsästhetischen und institutionellen Aspekten war es, der in der jüngeren fachdidaktischen Diskussion (u. a. angestoßen durch Ungenügen an und kontraproduktive Erfah rungen mit der ideologiekritischen Didaktik des »kritischen Le sens«) zu einer bemerkenswerten, wirklichkeitsorientierten Weiter entwicklung der literaturvermittelnden Praxis führte; analoge Ent wicklungstendenzen ließen sich für die Erforschung der sog. »Tri vialliteratur« aufzeigen. - Schien es auf der anderen Seite eine Zeit lang so, als werde durch die "Linguistisierung« der Literaturwissen schaft, durch die Rezeption der Arbeiten der russischen formalen Schule, des Prager und des französischen Strukturalismus das Pro blem der Hermeneutik zur Scheinfrage degradiert, so zeigt sich gerade in jüngster Zeit aus verschiedensten Richtungen eine bedeut same Zentrierung der Fragen auf das Problem der Textkonstitution und näher der Sinnkonstitution durch den literarischen Text und in seiner Rezeption. Die Frage: ,.Wie entsteht Bedeutung? Wie ent steht sie speziell im (und durch den) literarischen Text?« begegnet der hermeneutischen Frage: ,.Was heißt Verstehen?« und: "Wie vollzieht sich in der ästhetischen Erfahrung die Vermittlung ge- 2 schichtlichen Sinns - objektiv und subjektiv?« - Schließlich zeigt sich in dieser, wie ich meine, produktiven Entwicklung der Litera turwissenschaft auch noch ein bedeutsamer literarhistorischer Aspekt. Sofern der ästhetische Gebrauchswert, nach dem konkret und differenziert gefragt werden soll, immer ein aktueller ist - auch Werke der Vergangenheit werden nur im Horizont der jeweiligen Gegenwart bedeutsam -, wird das Verhältnis von literarischem Text und Wirklichkeit, literarischem und historischem Prozeß neu zur Diskussion gestellt. Die hier vorgelegte Einführung ist der Versuch, das Arbeitsfeld literaturwissenschaftlicher Interpretation zu strukturieren und We ge zu seiner Erkundung zu markieren. Von der »Sache selbst« her, dem literarischen Werk, seiner Produktion und Rezeption im Zu sammenhang der literarischen Kommunikation, soll ein Rahmen skizziert werden, der sowohl die methodische Praxis der Interpreta tion als auch die notwendige theoretische und hermeneutische Re flexion fördert und erleichtert. Ausgangspunkt ist die Frage nach dem praktischen Nutzen der Literatur und der Literaturinterpreta tion für diejenigen, welche sie lesend und schreibend - über Gelese nes und Geschriebenes redend - betreiben. Eigentlicher Gegenstand der Literaturwissenschaft ist nach der hier zugrundegelegten Auf fassung nicht eine Menge von Texten, sondern Literatur als »gesell schaftliches Verhältnis« und als eine spezifische kommunikative Tätigkeit der Menschen, die sich als ein komplexes Ensemble von Beziehungen in der Funktionsstellenreihe WIRKLICHKEIT - AUTOR - TEXT - VERMITTLER - LESER - WIRKLICHKEIT modellhaft fassen läßt. Diese Verhältnisse sind als solche noch ein mal im literarischen Text widergespiegelt und werden von ihm mitbegründet. Und sofern dieser das die literarische Kommunika tion vermittelnde und tragende Produkt ist, muß die literaturwis senschaftliche Arbeit von ihm ausgehen, wenn sie das »gesellschaft liche Verhältnis Literatur« als konkrete gesellschaftliche Praxis der Menschen erforschen und fördern will. Ist diese Formulierung scheinbar kompliziert, so entwirrt sie doch gerade die vielfältigen Beziehungen und Frageebenen der Lite raturwissenschaft zu einer methodisch nachvollziehbaren, das heißt auch: erlernbaren Folge von Untersuchungs-und Arbeitsaspekten, die von der Produktionsseite und von der Rezeptionsseite her gele sen werden kann. Beide Betrachtungsweisen sind in der Interpreta tionsarbeit prinzipiell gleichrangig, doch folge ich im Aufbau dieser Einführung der Auffassung, daß die Produktion logisch und histo risch den Vorrang haben soll. Es kommt mir darauf an, die einzelnen Stellen und Relationen in der unten noch auszufaltenden Funktions- 3 stellenreihe konkret mit Fragen, Hinweisen und Arbeitsvorschlägen zu »besetzen«. Es gibt nach meiner Auffassung eine zwar nie voll ständige, aber prinzipiell auch nicht unbegrenzte Zahl von Fragen in der literaturwissenschaftlichen Arbeit (was sich aus der »Logik der Sache« erklärt). Diese Untersuchungsaspekte nach dem Vorbild einer Topik, d.h. »einer beweglichen Ordnung handlungsorientie render Fragen« (Harth 1982, 7), zu entfalten, ist die Aufgabe der hier vorgelegten Einführung. Die Erörterung der methodischen Zugänge geht von der Prämisse aus, daß die literaturwissenschaftliche Arbeit Entschiedenheit der Aussagen über das jeweilige Werk - die ästhetische und historische Wertung als aktuelle Standpunktnahme - sehr wohl mit Methodik im Verfahren verbinden kann, ohne dogmatisch vorzuschreiben, wie interpretiert werden und was das Ergebnis der Interpretation sein solle. Ist sie doch darauf aus, nicht das Ergebnis, sondern den Zusammenhang von interpretierender Tätigkeit, Textstruktur und Textsinn methodisch zu fassen. Nicht die »Richtigkeit« der Text auslegung, sondern ihre Überprüfbarkeit und Kommunizierbarkeit sind das Zielliteraturwissenschaftlicher Reflexion. Hierzu und da durch strebt sie Aufklärung an über die Voraussetzungen und Fol gen von Lektüre sowie über die Eigenart und Leistung der ästheti schen Erfahrung und ihres Gegenstandes, des literarischen Textes - und schließlich über die tatsächlichen und denkbaren Formen unse res wissenschaftlichen Umgangs mit den Werken der Gegenwart und Vergangenheit. 4