Heidelberger Taschenbücher Band 4 Einführung in die Humangenetik L. S. Penrose Mit 32 Abbildungen Springer-Verlag Berlin Heidelberg N ew Y ork 1965 Titel der englischen Originalausgabe: Outline of Human Geneties. 2nd Edition. Heinemann Edueational Books Ltd., London W. I.!Great Britain. übersetzer: Johannes Köbberling, Göttingen ISBN 978-3-540-03324-0 ISBN 978-3-662-00199-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-00199-8 Alle Rechte, insbesondere das der übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne aus drückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photo kopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © by Springer Verlag Berlin • Heidelberg 1965. Library of Congress Catalog Card Number 65-17848. Titel-Nr. 7284 Vorwort Die Genetik des Menschen ist für jeden von Interesse. Man kann zufrieden leben, ohne je die Gelegenheit zu haben, sich mit der Zucht von Tieren und Pflanzen zu beschäftigen, aber fast jedermann wird gelegentlich über seine eigene Herkunft nachdenken. In den letzten Jahren wurde zudem viel über Erbveränderungen, d. h. Mutationen, spekuliert, die wahrscheinlich durch die wachsende Belastung mit ioni sierenden Strahlen verursacht werden, der die Menschheit jetzt im beginnenden Atomzeitalter ausgesetzt ist. Ohne eine gute Kenntnis der Humangenetik sind Auskünfte auf diese Fragen schwer zu erhalten und zu verstehen. Die Regeln der Vererbung, wie sie für große Populationen, wie die Gattung Mensch, gelten, sind zwar den Spezialisten in vieler Hinsicht gut bekannt, aber nicht leicht allgemeinverständlich dar zustellen. Sie bilden jedoch die notwendige Grundlage für die Be urteilung der zukünftigen Entwicklung. Das Ziel dieses Grundrisses ist, eine Einführung in die bekannten Tatsachen der Humangenetik zu geben, die für die meisten Leser ver ständlich sein soll, auch wenn sie keine Kenntnisse auf diesem Gebiet mitbringen. Infolge der schnellen Entwicklung dieser Wissenschaft im letzten halben Jahrhundert ist es fast so schwierig geworden, sie Nicht Spezialisten zu erklären, wie es etwa bei den Grundlagen der Physik der Fall wäre. Fachausdrücke, die dem Spezialisten ganz vertraut sind, lassen den Uneingeweihten unnötig zurückschrecken. Soweit wie mög lich werden diese Begriffe vermieden. Wenn sie unvermeidbar sind, was leider oft der Fall ist, werden sie erklärt. Einige technische Einzelheiten sind im Anhang tabellarisch aufgeführt. Das Thema dieses Buches ist so umfassend, daß es unmöglich bei so kleinem Umfang in allen Einzelheiten behandelt werden kann. Diese Darstellung soll nur als Grundriß und als Einführung für ein gründ licheres Studium dienen. In den meisten Kapiteln werden Anschauungen dargestellt, die mehr oder weniger von allen Spezialisten geteilt werden, aber der Leser sei schon jetzt darauf hingewiesen, daß im sechsten Kapitel die persönliche Auffassung des Autors vorherrscht. Bei der Materialsammlung für dieses Buch haben mir eine Reihe von Kollegen geholfen, und ich möchte diese Gelegenheit benutzen, den Herren Dr. N. A. BARNIKOT, Dr. J. BRONOWSKI, Dr. C. E. FORD, Dr. P. LEVINE, Dr. T. T. PUCK, Frau Dr. EDITH RÜDIN, sowie den Herren Dr. K. SHlZUME und Dr. J. H. TJIO zu danken. Besonderen Dank schulde VI Vorwort ich Herrn A. J. LEE für seine Zeichnungen und Fräulein HELEN LANG BRoWN für ihre Arbeit bei der Zusammenstellung und Durchsicht des Manuskriptes. L.S.P. Galton Laboratory, University College, London. März 1959 Vorwort zur zweiten Auflage Um den Inhalt dieses Buches auf den letzten Stand zu bringen und um einige Versäumnisse gutzumachen, wurden im Text kleine Ver änderungen vorgenommen und ein neues Kapitel (VII) angehängt. L. S. P. August 1962 Inhaltsverzeichnis I. Grundlegende Beobachtungen . . . . 1 Zunehmende Kenntnis über die grundlegenden Tatsachen: frühe Stamm baumaufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Prinzip der Mendelschen Aufspaltung, angewandt auf den Menschen 7 Genetische Erforschung der Bevölkerung . . . . . . . . . . . 9 Nicht aufspaltende Merkmale • • . . . . . . . . . 11 GALTONS Untersuchungen über die Körpergröße. . . . . 12 überholte Vererbungstheorien: Vermischung, Lamarckismus. 13 Die vererbbaren Einheiten: Die Gene 15 Die Chromosomen des Menschen . 16 II. Wirkungen einzelner Gene . 20 Die Funktion des Gens . . . . 20 Die Blutgruppenantigene . . . . . 22 Vererbungsmodus der ABO-Blutgruppen 23 Dominante und rezessive Merkmale. . . . 24 Seltene dominante Merkmale: Ektrodaktylie. 26 Seltene rezessive Merkmale: Alkaptonurie. . 29 Blutsverwandtschaft der Eltern . . . . . . . . 29 Statistische Besonderheiten des Eins-zu-Drei-Verhältnisses 31 Unvollständig rezessive Merkmale . 32 Anomalien des roten Blutfarbstoffes . 33 Das Beispiel Phenylketonurie . 34 Die Manifestation von Genen . 36 IH. Gene und Populationen 37 Das Prinzip der zufälligen Paarung und die Gen-Häufigkeiten . 37 Phänotypen und Gen-Häufigkeiten . . . . . . . 39 Anthropologische Genetik . . . . . . . . . . 41 Wirkungen der natürlichen Auslese auf Genhäufigkeiten 42 Mutationen und ihre Beziehung zur natürlichen Auslese 43 Beispiele von Neumutationen beim Menschen. . . . 44 Rezessive Mutationen und Inzucht . . . .. .... 45 Typen des Gleichgewichts von Genhäufigkeiten in der Bevölkerung 47 Strahlung als Ursache von Mutationen beim Menschen. . . . . 49 Das stabile genetische Gleichgewicht durch Heterozygoten-Vorteil . 50 Die Stabilität der Variation bei abgestuften Merkmalen . . . . 51 IV. Gemeinsames Vorkommen von Merkmalen und Kopplung 52 Zusammenhang mit dem Geschlecht. . . . . . 52 Das Prinzip der geschlechtsgebundenen Vererbung . . . . 53 Das Gesmlechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . 54 Untersuchung von Stammbäumen mit geschlechtsgebundenem Erbgang 55 Mutation geschlechtsgebundener Gene . . . . .. .. 57 Echte genetische Kopplung . . . . . . . . . . . . . 58 VIII Inhaltsverzeichnis Das Y-Chromosom . . . . . . . . 59 Geschlechtsbeeinflussung autosom al erblicher Merkmale 60 Autosomale Kopplung . . . . . . . . . . . 61 Das Rhesus-System .. . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Nicht auf Kopplung beruhendes gemeinsames Vorkommen von Merkmalen 65 Körperbautypen ............ . 66 V. Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Erbe 67 Zwillinge . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Die Unterscheidung erblimer und umweltbedingter Einflüsse 69 Das Geburtsgewicht 72 Mißbildungen . 73 Anenzephalie .... 74 Mongolismus. . . . . . . . . . 76 Experimentelle Untersuchungen von Mißbildungen. 77 Infektionen des Feten. . . . . . . . . . . 78 Geisteskrankheiten • . . . . 78 Genetische Voraussagungen . . 79 Besondere Bedeutung des Vaters 81 VI. Eugenik . . . . . . 82 Das allgemeine Problem. . . . . . . . . 82 Eugenisch ungünstige Wirkungen der Zivilisation 84 UnterschiedlidIe FrudItbarkeit und Intelligenz 84 Veränderungen durch die Umwelt . . . . . . . . . 85 Genetische Grundlagen der Intelligenz: zu erwartende Folgen 87 Eine theoretische Population . . . . . . . . . . . 88 Künstliche Besamung . . . . . . . 90 Negative Eugenik . . . . . . . . 91 MisdIlinge und gemisdIte Populationen . 92 über den Wert eugenischer Maßnahmen 94 Die Zukunft der Humangenetik 95 VII. Ergänzungen . . . . 98 Einführung . . . . . . . . . . . . 98 Der normale Chromosomensatz des Menschen. 100 Variationen in der Zahl der Chromosomen 101 Abweichungen durch Chromosomenbrüche . 105 Genetik und Krebsforschung 106 Verborgene chemische Unterschiede 107 Bluteiweißstoffe . . . . . 109 Die Zukunft der Menschheit 110 Anhang A. Mathematischer Beweis des Hardy-Weinbergschen Gleichgewichts 112 B. Blutgruppen-Genhäufigkeiten in England . . . . . . . . 112 C. Stabiles genetisches Gleichgewicht bei "random mating" . . . . . 113 D. Prozentuale Häufigkeit der Genotypen von Elternpaaren bei Pan- mixie in bezug auf die allelen Gene am Rhesus Locus, D und d. . 113 Literatur. . . . 114 Namen verzeichnis 117 Sachverzeichnis 119 I. Grundlegende Beobachtungen Zunehmende Kenntnis über die grundlegenden Tatsachen: frühe Stammbaumaufzeichnungen Die Erforschung der Genetik des Menschen beginnt nirgendwo plötzlich. Seit dem Erwachen der Kultur interessierte man sich für die Weitergabe gewisser körperlicher und geistiger Merkmale von den Eltern auf die Kinder. Ursprünglich wurden die Beweise, auf denen die Vorstellungen beruhten, nicht systematisch zusammengetragen. Anekdoten und Aberglauben hatten einen großen Einfluß auf die An schauungen. Geordnete wissenschaftliche Erkenntnis ist das Produkt einer relativ späten Entwicklung, die oft erst in das 17. Jahrhundert datiert wird. Die wissenschaftliche Erforschung der Vererbung beim Menschen beginnt sogar noch später. Verglichen mit den Untersuchun gen über die Vorgänge bei der Vererbung niederer Tiere und Pflanzen, hinkten die Untersuchungen beim Menschen jedoch keineswegs nach. Einige der frühesten genetischen Beobachtungen wurden sogar am Men schen angestellt. In wissenschaftlichen Aufzeichnungen des 18. Jahrhunderts finden sich schon ab und zu Hinweise auf die Wiederholung von Besonder heiten bei verschiedenen Mitgliedern derselben Familie. Einige der frühen Beobachter erkannten schon, daß man zwei wichtige Punkte beachten mußte, wollte man zeigen, daß das Auftreten eines Merkmales, z. B. bei Vater und Sohn, eine biologische Bedeutung hat. Erstens mußte wahrscheinlich sein, daß das Merkmal angeboren und nicht erworben war. Es konnte eine Deformität oder eine Besonderheit sein, die schon früh im Leben auftrat, aber es durfte keine Infektionskrankheit sein. Zum anderen mußte dieses Merkmal genügend selten sein, um zufäl liges Auftreten in einer Familie unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. 1752 berichtete P. L. M. de MAUPERTUIS, der Mathematiker, Natur kundler und Entdecker, von einer Familie, in der Träger von zusätz lichen Fingern und Zehen durch vier Generationen gefunden wurden. Er schätzte, daß die Anomalie zusätzlicher Finger in Berlin, wo die Familie lebte, in einer Häufigkeit von eins auf 20 000 vorkam. So konnte er zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß zwei oder drei Mit glieder einer Familie rein zufällig diese Anomalie aufwiesen, ganz verschwindend gering war. Einige Jahre später berichtete der englische Naturforscher HENRY BAKER über den Fall des sogenannten Stachel- Penrose, Humangenetik 1 2 Grundlegende Beobachtungen schweinmenschen Eduard Lambert, dessen sechs Kinder ähnlich be fallen waren. Er betonte, daß eine so ungewöhnliche Hautkrankheit nur dann in zwei Generationen auftreten könne, wenn sie wirklich vererbt sei. Diese Ansicht wurde über ein Jahrhundert später auch von CHARLES DARWIN ausgesprochen. Er machte auf dieselbe Familie auf merksam, die zu seiner Zeit auf mindestens drei Generationen mit be fallenen Personen angewachsen war (s. Abb. 19). Nach unserer heutigen Auffassung reicht es jedoch nicht aus, ein fach festzustellen, daß eine Besonderheit auf irgendeine biologische Weise vererbt wird. Wir möchten etwas über den Mechanismus der Vererbung wissen. Dazu muß man die Regeln der Weitergabe in den Familien ermitteln. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der geneti schen Forschung. Präzise Beobachtung ist eine Voraussetzung. Ob gleich die genaue Aufzeichnung genetisch bedeutsamer Informationen über Familien erst in jüngerer Zeit zur allgemeinen Gewohnheit wurde, reichten einige frühere Beobachtungen aus, den Weg für die Zukunft abzustecken. Das kann ich nicht besser erläutern, als mit einem Teil des bemer kenswerten Briefes über die Farbenblindheit, der in den Philosophical Transactions 0/ the Royal Society veröffentlicht ist. Mr. J. SCOTT schrieb am 26. Mai 1777 folgendes an den Rev. Mr. WHISSON vom Trinity College, Cambridge: "Es ist ein Familienleiden: mein Vater hat genau dieselbe Schwäche: meine Mutter und eine meiner Schwestern konnten alle Farben fehlerfrei sehen: meine andere Schwester und ich in der gleichen Weise unvollkommen: diese letzte Schwester hat zwei Söhne, beide unvollkommen, aber sie hat eine Toch ter, die ganz normal ist; ich habe einen Sohn und eine Tochter, und beide sehen alle Farben ohne Ausnahme; so ging es auch ihrer Mutter; meiner Mutter Bruder hatte denselben Fehler wie ich, obgleich meine Mutter, wie schon erwähnt, alle Farben gut erkannte. Ich kenne kein Grün in der Welt; eine rosa Farbe und ein blasses Blau sehen gleich aus, ich kann sie nicht unterscheiden. Ein kräftiges Rot und ein kräftiges Grün ebenfalls, ich habe sie oft verwechselt; aber gelb (hell, dunkel und mittel) und alle Abstufungen von Blau, außer dem ganz blassen, ge wöhnlich Himmelblau genannten, erkenne ich a-bsolut richtig und kann Unter schiede bis zu einem erheblichen Grad von Feinheit erkennen: ein kräftiges Purpur und ein tiefes Blau verwirren mich manchmal. Ich habe meine Tochter vor einigen Jahren einem vornehmen und würdigen Mann vermählt; am Tage vor der Hochzeit kam er in einem neuen Mantel aus bestem Stoff in mein Haus. Ich war sehr gekränkt, daß er (wie ich glaubte) in Schwarz kam und sagte, er solle gehen und die Farbe wechseln. Aber meine Tochter sagte: Nein, nein; die Farbe ist sehr vornehm; es seien meine Augen, die mich trögen. Er war ein Rechtskundiger und trug einen feinen weinroten Anzug, der für mein Auge so schwarz ist, wie alles Schwarz, das je gefärbt wurde." Diese Besonderheit des Farbensehens übrigens, die beim Menschen so leicht zu demonstrieren ist, könnte man nur unter größten Schwie- Begründer der Humangenetik A. E. GARROD (1858-1936)