Ullstein Buch Nr. 3191 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien Titel der französischen Originalausgabe: Introduction à la littérature fantastique übersetzt von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur Aus der Schriftenreihe »Literatur als Kunst« Herausgegeben von Walter Höllerer Umschlagentwurf: Kurt Weidemann Alle Rechte Vorbehalten Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag, München © Editions du Seuil, Paris, 1970 Deutsche Ausgabe © 1972 by Carl Hanser Verlag, München Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03191 9 Tzvetan Todorov Einführung in die fantastische Literatur ein Ullstein Buch Inhalt Die literarischen Gattungen 7 Definition des Fantastischen 25 Das Unheimliche und das Wunderbare 40 Die Poesie und die Allegorie 55 Der fantastische Diskurs 69 Die Themen des Fantastischen: Einleitung 83 Die ich-Themen 97 Die du-Themen 112 Die Themen des Fantastischen: Schluß 126 Literatur und Fantastisches 140 Bibliographie 157 Die literarischen Gattungen Die Beschäftigung mit der fantastischen Literatur verlangt, daß man weiß, was eine »literarische Gattung« ist. – Allgemeine Betrachtung über die Gat tungen. – Eine zeitgenössische Gattungstheorie: Northrop Fryes Literatur theorie. – Seine Gattungsklassifikationen. – Kritik an Frye. – Frye und die strukturalistischen Prinzipien. – Bilanz der positiven Ergebnisse. – Melancho lische Schlußbemerkung. Der Ausdruck »fantastische Literatur« bezieht sich auf eine Variante der Literatur oder, wie man gewöhnlich sagt, auf eine literarische Gattung. Literarische Werke auf ihre Gattung hin zu untersuchen, ist ein Unternehmen für sich. Es kann uns nicht um das Spezifische einzel ner Werke gehen, sondern wir müssen die Regel aufdecken, die in mehreren Texten zugleich wirksam ist und uns erlaubt, ihnen die Be zeichnung »fantastische Werke« beizulegen. Es ist etwas ganz anderes, La Peau de Chagrin unter dem Gesichtspunkt der fantastischen Gattung zu betrachten, als das Buch für sich oder im Zusammenhang des Balzac- schen Gesamtwerks oder im Kontext der zeitgenössischen Literatur zu untersuchen. Der Gattungsbegriff ist also grundlegend für die nach folgende Diskussion. Deshalb müssen wir damit beginnen, diesen Begriff klarer zu machen und zu präzisieren, auch wenn dieser Schritt uns scheinbar vom Fantastischen selbst entfernt. Die Vorstellung von der Gattung wirft mehrere Fragen auf; glück licherweise erübrigen sich einige davon sofort, wenn man sie ausdrück lich formuliert. Hier die erste: ist es legitim, über eine Gattung zu diskutieren, ohne daß man alle Werke, aus denen sie sich konstituiert, untersucht (oder doch wenigstens gelesen) hat? Der akademische For scher, der uns diese Frage stellt, könnte hinzufügen, daß das Verzeichnis der fantastischen Literatur Tausende von Titeln zählt. Es fehlt nicht viel, und man hat das Bild des emsigen Studenten vor Augen, der, begraben unter den Büchern, die er lesen muß – täglich etwa drei – von der Vorstellung geplagt wird, daß unablässig neue Texte geschrieben werden und daß es ihm zweifellos nie gelingen wird, sie alle zu bewälti gen. Es ist jedoch eines der Hauptmerkmale wissenschaftlichen Vor gehens, daß die Beschreibung eines Phänomens nicht die Beobachtung sämtlicher Einzelmomente voraussetzt; es ist vielmehr ein deduktives Verfahren: man stellt eine verhältnismäßig begrenzte Anzahl von Fällen zusammen, leitet davon eine allgemeine Hypothese ab und veri 7 fiziert diese an anderen Werken. Dabei wird sie korrigiert (oder ver worfen). Auch wenn die Anzahl der untersuchten Phänomene groß wäre, dürften wir keine allgemeinen Gesetze aus ihnen ableiten; nicht die Quantität der Beobachtungen ist ausschlaggebend, sondern einzig und allein die logische Kohärenz der Theorie. Karl Popper schreibt: »Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele, auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobach tungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind« (p. 3).* Dagegen wäre eine Hypothese, die sich auf die Beobachtung einer beschränkten Anzahl von Schwänen gründete, die uns aber sagte, daß ihre Weiße die Folge einer organischen Besonder heit sei, vollkommen legitim. Um von den Schwänen auf die Romane zurückzukommen: diese allgemein verbindliche wissenschaftliche Wahr heit hat nicht nur für die Erforschung der Gattungen Gültigkeit, son dern ebenso für die Untersuchung des Gesamtwerks eines Autors oder auch für die Erforschung einer Epoche usw. Überlassen wir also den Vorsatz, erschöpfend sein zu wollen, denen, die sich damit begnügen. Im Zusammenhang mit dem Abstraktionsniveau, das diese oder jene Gattung erreicht, ergibt sich eine zweite Frage: gibt es nur einige Gattungen (z.B. die lyrische, die epische, die dramatische) oder sehr viele? Ist die Zahl der Gattungen begrenzt oder unbegrenzt? Die russi schen Formalisten neigten zu einer relativistischen Lösung; Tomaschew ski schrieb: »Die Werke verteilen sich auf umfangreiche Klassen, die sich dann ihrerseits wieder in Typen und Arten gliedern. Wenn wir auf der Stufenleiter der Gattungen nach unten gehen, kommen wir folge richtig von den abstrakten Klassen zu den konkreten historischen Unterscheidungen (Byrons Gedicht, Tschechows Novelle, Balzacs Ro man, die geistliche Ode, die proletarische Lyrik) und sogar zu den ein zelnen Werken« (p. 306-307). Dieser Satz stellt eigentlich mehr Pro bleme, als er löst, und wir werden bald darauf zurüchkommen müssen; die Vorstellung jedoch, daß die Gattungen auf unterschiedlichen Ab straktionsniveaus existieren und daß sich dieser Begriff inhaltlich von dem Standpunkt her bestimmt, den man gewählt hat, kann man schon jetzt akzeptieren. Ein drittes Problem gehört zur Ästhetik. Von diesem Standpunkt aus * Die vollständigen Angaben zu den zitierten Werken finden sich am Ende des Buches. Sie sind alphabetisch angeordnet. Sind mehrere Werke vom selben Autor auf geführt, so erscheint im Text, bisweilen in abgekürzter Form, der Hinweis auf den Titel des zitierten Werkes. 8 sagt man: es ist sinnlos, von Gattungen (Tragödie, Komödie usw.) zu sprechen, denn das Werk ist seinem Wesen nach einmalig, einzigartig, sein Wert liegt in dem, worin es unnachahmbar, von allen anderen Werken verschieden ist und nicht in dem, worin es ihnen gleicht. Wenn ich La Chartreuse de Parme liebe, so nicht, weil es ein Roman (Gattung) ist, sondern weil es ein Roman ist, der sich von allen anderen unter scheidet (individuelles Werk). Dieser Einwand läßt eine romantische Haltung gegenüber dem zu behandelnden Gegenstand durchscheinen. Ein derartiger Standpunkt ist nicht eigentlich falsch; er ist nur un angemessen. Man kann sehr wohl ein Werk aus diesem oder jenem Grund mögen, aber dadurch wird es noch nicht als Gegenstand einer Untersuchung definiert. Das Motiv für eine wissenschaftliche Arbeit darf nicht die Form bestimmen, die diese in der Folge annimmt. Das Problem des Ästhetischen im allgemeinen werden wir hier nicht er örtern; nicht, daß es nicht bestünde, aber komplex, wie es ist, über schreitet es bei weitem unsere gegenwärtigen Möglichkeiten. Nun kann allerdings der zuletzt angeführte Einwand in anderen Termini formuliert werden, und dann ist er sehr viel schwieriger von der Hand zu weisen. Der Begriff der Gattung (oder der Spezies) ist den Naturwissenschaften entlehnt. Nicht zufällig hat übrigens Propp, der Pionier der Strukturanalyse der Erzählung, Analogien aus der Botanik oder der Zoologie verwendet. Es besteht allerdings ein qualita tiver Unterschied hinsichtlich der Bedeutung der Termini »Gattung« und »Exemplar«, je nachdem, ob sie auf natürliche Lebewesen oder auf Werke des Geistes angewendet werden. Im ersten Fall modifiziert das Erscheinen eines neuen Exemplars nicht unmittelbar die Charakteristika der Spezies; folglich lassen sich die Eigenarten jenes Exemplars gänzlich von der Formel der Spezies ableiten. Kennt man die Spezies Tiger, kann man von ihr die Eigenarten jedes einzelnen Tigers deduzieren; die Geburt eines neuen Tigers ändert die Spezies in ihrer Definition nicht. Die Einwirkung des individuellen Organismus auf die Entwicklung der Spezies geht so langsam vonstatten, daß man in praxi davon absehen kann. Dasselbe gilt (wenn auch in geringerem Maße) für die Aussagen einer bestimmten Sprache: ein individueller Satz ändert die Grammatik nicht, und es muß möglich sein, aus ihr seine Eigenarten abzuleiten. Auf dem Gebiet der Kunst und auch der Wissenschaft verhält es sich anders. Hier folg: die Entwicklung einem ganz anderen Rhythmus: jedes Werk ändert die Gesamtheit der möglichen Werke, jedes neue Beispiel ändert die Spezies. Man könnte sagen, daß wir uns einer Sprache gegenüber sehen, deren Aussagen im Moment des Aussagens 9 sämtlich agrammatisch sind. Genauer gesagt: wir erkennen einem Text nur das Recht zu, einen Platz in der Geschichte der Literatur oder der Wissenschaft einzunehmen, sofern er eine Veränderung der Vorstellung erbringt, die man sich bis zu diesem Zeitpunkt von dem einen oder dem anderen dieser beiden Bereiche gemacht hat. Die Texte, die diese Be dingung nicht erfüllen, gehen automatisch in eine andere Kategorie über: die einen in die der sogenannten Trivial- oder Massenliteratur, die anderen in die der Lehrbücher. (Hier drängt sich ein Vergleich auf, der zwischen dem handwerklichen Produkt, dem einmaligen Exemplar einerseits und der Fließbandarbeit, der mechanisch gefertigten Stereo type andererseits). Um auf unseren Gegenstand zurückzukommen, allein die Massenliteratur (Kriminalromane, Fortsetzungsromane, Science-Fiction usw.) sollte den Begriff Gattung für sich in Anspruch nehmen; auf die im eigentlichen Sinne literarischen Texte wäre er unanwendbar. Ein solcher Standpunkt verpflichtet uns, unsere eigenen theoretischen Grundlagen darzulegen. Gegenüber jedem Text, der der »Literatur« angehört, muß man eine doppelte Forderung berücksichtigen. Erstens darf man nicht übersehen, daß er Eigenarten manifestiert, die ihm mit der Gruppe der literarischen Texte oder mit einer der Untergruppen der Literatur (die man genauer als Gattung bezeichnen würde) gemein sam sind. Es ist heute schwer vorstellbar, die These zu verteidigen, nach der an einem Werk alles individuell sein soll, es ein noch nie dagewe senes Produkt einer persönlichen Inspiration sein muß, verfaßt ohne jeden Bezug zu den Werken der Vergangenheit. Zweitens ist ein Text nicht nur das Produkt einer vorgegebenen Kombinatorik (einer Kom binatorik, die sich aus den virtuellen literarischen Eigenarten konsti tuiert); er ist auch eine Transformation dieser Kombinatorik. Man kann also jetzt schon sagen, daß jede literarische Untersuchung, ob man es will oder nicht, an einer doppelten Bewegung teilhat: der des Werks in Richtung auf die Literatur (oder die Gattung), der der Literatur (der Gattung) in Richtung auf das Werk. Dabei ist es ein vollkommen legitimes Verfahren, sich vorübergehend bevorzugt der einen oder anderen Richtung, d. h. der Differenz oder der Ähnlichkeit, zu widmen. Aber da ist noch mehr zu bedenken. Es liegt in der Natur der Sprache selbst, sich in der Abstraktion, im »Gattungshaften«, zu bewegen. Das Individuelle kann nicht in der Sprache existieren, und unsere Formulierung der Besonderheit eines Textes wird automatisch zur Beschreibung einer Gattung, deren einzige Eigentümlichkeit darin besteht, daß das betreffende Werk ihr erstes und einziges Beispiel ist. Einfach aufgrund der Tatsache, daß sie mit Hilfe von Wörtern vor 10