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Eine taktische Waffe : Der sowjetische Panslawismus PDF

9 Pages·2009·0.1 MB·German
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Georg von Rauch • Eine taktische Waffe Der sowjetische Panslawismus Der sowjetischen Außenpolitik war die Frage nach einer slawischen Ge- meinsamkeit fremd. Panslawistische Tendenzen galten als reaktionäre Begleiterscheinungen des zaristischen Imperialismus. Im Zweiten Welt- krieg wurde der panslawistische Mythos reaktiviert. Hinter dem sowjeti- schen Panslawismus der Nachkriegszeit steht das Ziel, die nationale Eigenart der Völker zu demontieren, damit die Nationen im Schmelztie- gel der Sowjetunion aufgehen. Der Panslawismus ist somit zu einem tak- tischem Instrument geworden. Der Panslawismus des 19. Jahrhunderts, nach dem Ersten Weltkrieg totgesagt, hat im Zweiten Weltkrieg noch einmal sein Haupt erhoben, um der sowjetischen Führung zehn Jahre lang als taktische Waffe zu dienen. Was stellte der romantisch-idealistische Panslawismus der Frühzeit dar? War er Mythus oder Wirklichkeit, Schreckgespenst oder ernsthafte Bedrohung? Die notwendige Revi- sion unseres Geschichtsbildes hat mit Recht auch vor dem Problem des Panslawismus nicht Halt gemacht. Hier gilt es, den ganzen Komplex der damit verbundenen Vorstel- lungen aus der Sphäre der Phrase und des Schlagworts herauszulösen und gewissenhaft zu historisieren. Der Vergleich mit einem verwandten Schlagwort, dem Pangermanis- mus, deckt die Diskrepanz zwischen Realität und Wunschbild auf. Es geht nicht an, die Existenz pangermanistischer Tendenzen, zum mindesten im Hitlerreich, zu leugnen. Noch weniger geht es an, den Blick vor den panslawistischen Tendenzen vor dem Ers- ten Weltkrieg zu verschließen. Es kommt aber darauf an, die wahre Bedeutung dieser historischen Erscheinungen auf das jeweils notwendige Maß einzuschränken. Der „klassische“ Panslawismus, erstmals 1826 formuliert, war ursprünglich eine Konzeption tschechischer und slowakischer Lehrer, Dichter und Gelehrter, die auf Grundlage von Herders Volkstumsidee, angeregt durch das geistige Klima der Ro- ——— • Georg von Rauch (* 3.8.1904 in Pleskau/Pskov; † 17.10.1991), Osteuropahistoriker. Studi- um der Geschichte und Philosophie in Dorpat, Tübingen und Breslau. 1927 Promotion zum Mag. phil. in Dorpat, 1941 Habilitation in Greifswald. Von 1958 bis zu seiner Emeritierung Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Kiel, zuvor außerplanmäßiger Professor an der Universität Marburg. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die Dokumentation eines bislang unveröffent- lichten Vortrags, den Georg von Rauch im Januar 1955 auf einer Veranstaltung der Hambur- ger Zweigstelle der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) hielt. Für die Veröf- fentlichung wurden der Text mit Zwischenüberschriften versehen, die Orthographie aktuali- siert und die Schreibweise der Eigennamen an die OSTEUROPA-Norm angepasst. OSTEUROPA, 59. Jg., 12/2009, S. 115–123 116 Georg von Rauch• mantik, eine Pflege der kulturellen Verbundenheit und Gemeinsamkeit aller slawi- schen Völker forderten. Was sich zuerst auf Pflege von Volkskunde, Sammlung von Liedern und Erforschung der Sprachen beschränkte, trug mit der Zeit wesentlich zur Stärkung des Selbstbewusstseins bei. Von hier aus entwickelte sich mit der Zeit der politische Charakter des Panslawismus, der einer Befreiung der slawischen Völker von der Fremdherrschaft das Wort redete. So unleugbar die Gemeinsamkeit der slawischen Sprachen ist, so problematisch bleibt, ähnlich wie für den germanischen Bereich, die der Völker. Hier wurde Verbin- dendes allzu häufig zum Ansatzpunkt und Aushängeschild für die Hegemonialgelüste einzelner Großmächte. Wenn der Panslawismus im Zarenreich die staatliche Macht- basis für sein Wirken fand, so wurde damit zugleich doch die ganze Zwiespältigkeit dieser Verknüpfung deutlich. Der Vorstellung einer Gemeinschaft der slawischen Völker, die ihre gemeinsamen Interessen in gleichberechtigter Koordination gepflegt hätten, haftete etwas Revoluti- onäres an. In dieser Form, wie sie etwa vom Ukrainer Drahomanov und am glühends- ten vom russischen Anarchisten Bakunin vertreten wurde, musste sie zum Sprengmit- tel nicht nur für die Habsburger Monarchie, sondern auch für das Zarenreich werden. Nach dem Krimkrieg änderten sich jedoch in Russland die Voraussetzungen. Die slawophilen Ideen der [18]30er und [18]40er Jahre erfuhren eine Politisierung und Radikalisierung, die sich zunehmend steigerte, so dass der idealistisch-religiöse und an sich unpolitische Sendungsgedanke jener Tage nunmehr einer aggressiven, imperi- alistischen Politik die Wege ebnete. Der Panslawismus, bis dahin in Regierungskrei- sen verpönt, fand nun in einer veränderten Weise Eingang in diese Sphären. Er wan- delte sich im Zuge der nationalistischen und zentralistischen Tendenzen der zaristi- schen Innen- und Außenpolitik in einen Panrussismus, der keineswegs immer bemüht war, diese Wandlung zu verbergen, um das panslawistische Gesicht zu wahren. Deutlich decken vor allem die polnische und ukrainische Frage die Unaufrichtigkeit der angeblichen panslawistischen Solidarität auf. Von ukrainischen Autonomiewünschen war damals im allgemeinen nicht viel zu hören, da die Auseinandersetzungen sich hier im internen Rahmen des Russischen Reiches abspielten. Von einer echten Los-von Russland-Bewegung kann hier kaum die Rede sein, auch wenn eine nationalistische ukrainische Geschichtsschreibung die Dinge so sehen möchte. Wenn es auch zu weit geht, zu sagen: „das ukrainische Nati- onalgefühl sei ein Produkt der slawischen Romantik gewesen, das ohne Gegensatz Wien–Petersburg eines frühen Todes gestorben wäre“ (Just), so steht doch fest, dass ein ukrainischer Separatismus seinen Nährboden jenseits der Grenzen, im österreichi- schen Galizien, fand und in der russischen Ukraine an sich nur autonomistische For- derungen mit Überzeugung verflochten wurden. In gewissem Sinne war bei dem ukrainischen Volkstum ein sozialer und kultureller Aufstieg nur über ein Aufgehen im Großrussentum möglich, eine Entwicklung, die zumeist freiwillig beschritten wurde, zumal die kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten übermächtig waren und auch ukrainische Elemente auf diese Weise zu Mitträgern des russischen Reichsge- dankens wurden. Die bäuerlichen Massen waren politisch noch kaum erwacht. In die Arbeiterschaft sickerten viel nicht-ukrainische Elemente ein. Deutlicher noch deckt die polnische Frage die Brüchigkeit der panslawistischen Kon- struktion auf. Hier in Polen lag der eigentlich wunde Punkt der allslawischen Solidari- Eine taktische Waffe 117 tät. Die vielfachen Aufstandsversuche wurden von wechselvollen Sympathien des Westens getragen, aber sie scheiterten an der Übermacht des zaristischen Russland und seinem Zentralisationswillen. Ausschlaggebend bei dem russisch-polnischen Antagonismus der neueren Zeit war weniger der historische und konfessionelle Ge- gensatz früherer Tage als der unmissverständliche Unterdrückungswille der Peters- burger Politik. Erst 1908 versuchte Roman Dmowski mit seiner pro-russischen und anti-deutschen Konzeption den Riss zu überbrücken, so dass am Vorabend des Ersten Weltkrieges der Anschein einer slawischen Gemeinsamkeit auch auf diesem Sektor erweckt werden konnte. Aber die Einsicht ging in Petersburg nicht so weit, dass man sich zu wesentlichen Konzessionen in der Autonomiefrage, geschweige denn zu einer endgültigen Freigabe Polens entschließen konnte. Im Jahre 1916 kam Außenminister Sasonov über dieser Frage zu Fall. Erst die Provisorische Regierung fand nach dem Sturz der Monarchie den Entschluss, Polen die Unabhängigkeit zuzubilligen. Der Erste Weltkrieg steht im Bewusstsein der Nachwelt vielfach als eine Entladung da, die sich an einem Zusammenspiel zwischen dem französischen Revanchegedan- ken und dem Panslawismus entzündete. Man vergisst dabei, dass die slawische Welt keineswegs einmütig in den Krieg eintrat: Bulgaren und Kroaten standen auf Seiten der Mittelmächte und verhielten sich zunächst abwartend. Es gab auch unter den Tschechen und Slowaken kaisertreue Elemente, während die Polen, zunächst ohne Handlungsfreiheit, sich abwartend verhielten. Beim näheren Zusehen erscheinen die östlichen Antriebe des Krieges weniger als eine systematisch vorbereitete kriegerische Auseinandersetzung zwischen der germanischen und der slawischen der Welt als vielmehr als ein Zusammenprall russischer und österreichischer imperialistischer Bestrebungen, die sich unglücklicherweise mit den westeuropäischen Spannungen verquickten. Freilich standen die nationalen Wünsche der Tschechen und Serben mit ihren revolutionierenden Wirkungen dahinter. Sie konnten aber unter Fortfall der pathetisch-demagogischen Parolen von dem „Kampf zwischen den Germanen und Slawen“ sicherlich auch ohne die letzte Konsequenz eines Krieges und eines Zusam- menbruches der Donaumonarchie gelöst werden. Ohne panslawistische Agitation wäre der Konflikt vom Juli 1914 lokalisierbar gewesen. Ironie der Geschichte Für die panslawistischen Tendenzen bedeutete es eine bittere Ironie der Geschichte, dass die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges für die West- und Südslawen günstiger waren als im russisch-nationalistischen Sinne. Währen Russland als Reich zusam- menbrach und sich in seine nationalen Bestandteile aufzulösen schien, entstanden im Westen drei neue bzw. vergrößerte souveräne slawische Staaten auf bürgerlich- demokratischer Basis. Alle drei – Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien – standen in einem verschieden akzentuierten Gegensatz zum nunmehr bolschewisti- schen Russland. So war das Ergebnis des Krieges der Zusammenbruch der slawischen Solidarität, soweit sie Russland mit einbezog. Zu den tiefen Gegensätzen des sozial- wirtschaftlichen Systems trat bei Polen die jahrhundertealte anti-russische Tradition, neu entfacht durch den Krieg von 1920, in Jugoslawien war die russische Emigration 118 Georg von Rauch• zahlreich und maßgebend, in der Tschechoslowakei [waren] die westlichen Bindun- gen besonders stark. Wollte man aber vermuten, dass gerade wegen dieses gemeinsamen Gegensatzes zur Sowjetunion eine allslawische Solidarität innerhalb der west- und südslawischen Welt umso intensiver aufblühen musste, so wird man auch hier enttäuscht durch den Hin- weis auf die nicht unbeträchtlichen Spannungen zwischen Jugoslawien und Bulgarien sowie zwischen der Tschechoslowakei und Polen, so dass eigentlich nur zwischen Prag und Belgrad engere Fäden geknüpft werden konnten, die auch ohne die sprachli- che Gemeinsamkeit nahelagen. Der sowjetischen Außenpolitik ist zunächst für längere Zeit die Fragestellung nach einer slawischen Gemeinsamkeit fremd. Ihre Expansionstendenzen folgen anderen Gesetzen und Parolen. In dem berüchtigten Brief Stalins an Lenin vom Juni 1920 werden als nächste Ziele einer bolschewistischen Expansion Polen und Finnland, Deutschland und Ungarn genannt; der Faktor slawischer Gemeinsamkeiten spielte hierbei weder im an- feuernden noch im retardierenden Sinne eine Rolle.1 Panslawistische Tendenzen galten als reaktionäre Begleiterscheinungen des zaristischen Imperialismus. Sie wurden so- wohl von dem zunächst führenden sowjetischen Historiker M.N. Pokrovskij als auch noch in der großen Sowjetischen Enzyklopädie gegeißelt und u.a. für „das furchtbare Schicksal des polnischen Volkes“ verantwortlich gemacht. Erst durch den Ausbruch des deutsch-russischen Krieges im Jahre 1941 wurde der Panslawismus zu neuem Leben erweckt. Noch im März 1939 war die Tschechoslo- wakei ohne Beistand von Seiten der Sowjetunion geblieben, noch im September 1939 Polen gemeinsam von Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt, sein Offizierkorps im Frühjahr 1940 in Katyn massakriert worden. Die wachsenden Spannungen zwi- schen den beiden totalitären Bündnispartnern im Winter 1940/41, die vor allem durch die Intensität der deutschen Balkanpolitik verschärft wurden, lenkten erstmals wieder die Blicke Stalins auf die Verwendbarkeit allslawischer Parolen. Die erste Andeutung hiervon zeigte sich bei dem Widerhall, den der sowjetisch-jugoslawische Freund- schaftspakt, der nach dem Sturz des deutschfreundlichen Kabinetts Stojadinović ab- geschlossen wurde, im April 1941 in der Moskauer Presse auslöste. Auf dieser Grundlage basiert die Bildung des Komitees der slawischen Völker, die kurz vor dem Einfall Hitlers in Russland erfolgte. An seiner Spitze stand ein General der Roten Armee, A. Gundorov, ihm zur Seite trat der vor einigen Jahren aus der Emigration zurückgekehrte Schriftsteller Aleksej Tolstoj. In dem Moment, in dem der deutsche Vormarsch nächst den westrussischen Randge- bieten den großrussischen Kern zu gefährden begann, hielt Stalin einen großangeleg- ten Appell an die Gemeinsamkeit der slawischen Völker für notwendig. Jetzt, als sich die Truppen Hitlers im August 1941 Moskau näherten, erfolgte auf der Linie des seit 1934 entfachten Sowjetpatriotismus die Reaktivierung des panslawistischen Mythus. Hand in Hand damit ging die Wiederanerkennung der russischen Kirche und ihre erneute Verwendung zu politischen Zwecken sowie die bei den westlichen Alliierten propagandistisch besonders wirkungsvolle Auflösung der Komintern. Der I. Allslawische Kongress, der in Wiederaufnahme der Tradition des 19. Jahrhun- derts am 10. August 1941 in Moskau zusammentrat, richtete einen Appell an die sla- wischen Völker, sich gegen den gemeinsamen Feind zusammenzuschließen. Es konn- ——— 1 Lenin, Ges. Werke, II. Aufl. Bd. 25, S. 624. Eine taktische Waffe 119 te auffallen, dass in der Aufzählung der slawischen Völker die Karpathoruthenen, Mazedonier und Walachen (!) besonders angesprochen wurden. Ein zweiter Kongress im April 1942, noch ehe die Wende von Stalingrad die größte Gefahr für die Sowjet- union beseitigte, enthüllte mit seinem Aufruf zum Partisanenkrieg das eigentliche praktisch-militärische Ziel dieser Maßnahmen. Immerhin bemühte man sich auch um eine geistige Untermauerung der neuen Bewegung. Führende Vertreter des sowjeti- schen Geisteslebens – neben Tolstoj die Dichter Fadeev und Tichonov, der Historiker Grekov und der Komponist Šostakovič – stellten sich zur Verfügung; die slawistische Forschung, lange durch die wissenschaftliche Diktatur von Professor N.J. Marr in der sowjetischen Linguistik gehemmt, erhob sich zu neuer aggressiver Aktivität (Derža- vin), die Zeitschrift Slavjane wurde zum gemeinsamen Organ. Sehr bald erreichte die allslawische Propaganda die slawische Emigration verschie- denster Färbung in Westeuropa und Amerika. Auch die Nicht-Kommunisten unter ihnen sollten die Sowjetunion als Vorkämpferin der slawischen Sache ebenso aner- kennen, wie die Russen mit der Parole vom Großen Vaterländischen Krieg gewonnen werden sollten. Die ideologische Erweichung der marxistischen Substanz, die in der Verwendung der alten romantisch-nationalistischen Requisiten einer vergangenen Epoche vom bol- schewistischen Standpunkt aus gesehen werden konnte, war nur eine scheinbare. Als zeitbedingte, taktische Maßnahme bedeutete der allslawische Gedanke keine Schwä- chung, sondern ein zusätzliches psychologisches Kampfmittel, das seine Wirkung nicht verfehlte. Der Widerhall ging weit über kommunistische Elemente hinaus. Wäh- rend sich in London selbst Mitglieder des ehemaligen kaiserlichen Hauses um eine Audienz beim Sowjetbotschafter Maiskij bemühten, fanden in England und den USA Kongresse der slawischen Völker statt, die z.T. von anerkannten angelsächsischen Gelehrten vorbereitet und geleitet wurden. Dass für die bürgerlichen Politiker unter den Exilslawen, sich auf diese Plattform zu begeben, Konzessionen an die kommunis- tischen Parteien der entsprechenden Länder bedeutete, deckte der Besuch von Präsi- dent Beneš in Moskau im Jahre 1943 auf. Der tschechoslowakische Vertrag dieses Jahres wurde zum Muster ähnlicher Abmachungen mit anderen Staaten. Noch deutli- cher musste die polnische Exilregierung verspüren, dass sie von den moskauhörigen Landsleuten überspielt wurde. Der in England gebildeten Anders-Armee traten kom- munistische polnische Truppenteile in der Sowjetunion zur Seite, das Lubliner Komi- tee drängte die Londoner Exilregierung zunehmend in den Hintergrund. Schließlich hat dann das Verhalten der Roten Armee vor Warschau im Jahre 1944 mit brutaler Deutlichkeit die Diskrepanz zwischen den staatlich parteimäßigen Zielen der Sowjet- union und den Parolen des sogenannten „Volkspanslawismus“ aufgedeckt und alle Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der polnischen Freiheit zunichte gemacht. Sowjetische Hegemonialansprüche Wer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine gleichberechtigte Koordination der slawischen Staaten erwartet hatte, bei der die Sowjetunion etwa die Rolle eines Pri- mus inter pares gespielt hätte, musste natürlich bitter enttäuscht sein. Wohl wurde innerhalb der sowjetischen Grenzen dem Selbstgefühl der Ukrainer und Weißrussen von selbständiger Außenpolitik geschmeichelt. Schon im September 1939 war das 120 Georg von Rauch• Eingreifen der Roten Armee in den polnischen Krieg mit der Notwendigkeit einer Wiedervereinigung von weißrussischen und ukrainischen Volksteilen beiderseits der Grenzen motiviert worden. Wenn aber jetzt diesen beiden Sowjetrepubliken je ein Sitz in der UNO beschafft wurde, so stand dahinter in sehr unzweideutiger Weise die Gesamtstaatsraison der Union und ihrer Partei. Über ihre Grenzen hinaus war bald kein Zweifel an den Vormachtgelüsten der Mos- kauer Regierung und den Totalitätsansprüchen der KPdSU möglich. Die Tschecho- slowakei wurde durch die slawische Gemeinsamkeit nicht vor einer Preisgabe der Karpathenukraine an die Sowjetunion bewahrt, trotzdem Beneš sich lange dagegen sträubte. Sein Sturz und der gewaltsame Tod Masaryks d.J. im Februar 1948 legten die wahren Absichten Moskaus bloß. Derselbe Effekt wurde in Polen durch die Aus- schaltung der Agrarpartei Mikolajczyks und die Ernennung des sowjetischen Mar- schalls Rokossovskij zum Oberkommandierenden der Armee, in Bulgarien durch das Vorgehen gegen Petkov erzielt. Hier auf dem Balkan waren die Konsequenzen am tiefgreifendsten. Der IV. Allslawi- sche Kongress – der III. hatte im Mai 1943 in Moskau getagt – trat im Dezember 1946 in Belgrad zusammen. Es war die größte der bisherigen Kundgebungen dieser Art, sie wurde von den staatlichen Stellen offiziell aufgezogen und berücksichtigte auch die Auslandslawen im starken Maße. Die Repräsentation erfolgte allerdings nicht nach nationalen, sondern nach staatlichen Gesichtspunkten. Tito eröffnete die Tagung. Für kurze Zeit wurde Belgrad zum Sitz eines Allslawischen Komitees unter einem jugosla- wischen General, dem je ein Russe, Pole, Tscheche und Bulgare zur Seite traten. In den einzelnen Ländern wurden slawische Komitees auf Länderbasis konstituiert. Wie wenig man aber in Moskau bereit war, von seinen Hegemonialansprüchen abzu- gehen, zeigte der Zusammenbruch von Dimitrovs Balkanblockplänen, die gerade damals mit Tito erörtert wurden und in erster Linie auf der Zusammenarbeit zwischen Jugoslawien und Bulgarien basierten. Die Sowjetunion duldete keine Blockbildungen, ebensowenig außerhalb wie innerhalb ihres Machtsystems; hier konnten sie die so- wjetische Kontrolle gefährden. Dimitrov musste verzichten. Der Bruch zwischen Stalin und Tito im Juni 1948 bedeutete im Grunde schon das Ende des Versuchs einer überstaatlichen Zusammenfassung der slawischen Staaten. Wie einst Polen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts von der russischen nationalistischen Presse (Kat- kov!) als Verräter geschmäht worden war, so geschah es jetzt Jugoslawien. Der Riss schien unüberbrückbar. Hat der sowjetische „Volkspanslawismus“ die vielfachen Streitfragen innerhalb der slawischen Welt schlichten können? Weder die Teschener Frage noch die mazedoni- sche waren zur Zufriedenheit gelöst, weder die Autonomieforderungen der Slowaken noch der Ukrainer befriedigt worden. Auch diesmal glitt der Panslawismus in das unzweideutige Fahrwasser eines Panrussismus hinein. Nur war dieser diesmal in viel krasserer Weise Mittel zum Zweck einer totalen Unterwerfung des Menschen. Er schreckte äußerstenfalls auch nicht vor dem Völkermord zurück. Die Methoden und Ergebnisse der Gleichschaltung in den Satellitenländern sind be- kannt. Auch bei den slawischen Völkern kann die sprachliche Verwandtschaft die kommunistische Unifizierung nicht im geringsten abschwächen. Neben der Zerset- zung des überkommenen nationalen Geschichtsbildes und Selbstbewusstseins stehen Russifizierungsmaßnahmen als Schrittmacher der Bolschewisierung. Werden auf der Eine taktische Waffe 121 einen Seite die führenden Persönlichkeiten der jüngsten Vergangenheit, wie etwa Beneš und Masaryk in der Tschechoslowakei, schlechthin als Volksfeinde angepran- gert, so müssen auf den anderen die russische Einflüsse in Vergangenheit und Ge- genwart in jeder Weise als positiv und progressiv gewertet werden. Bei den slawi- schen Ländern wird ihre nationale Vergangenheit in ein moskauzentrisches Ge- schichtsbild eingeordnet, das ihre Akzente vollkommen anders setzt. Bei den nicht- slawischen oder nicht reinslawischen Ländern, wie bei Ungarn, Rumänien, Albanien oder Bulgarien, die übrigens schon ein N. Danilevskij in den 1860er Jahren für seine panslawistischen Konstruktionen beanspruchte, werden slawische Grundlagen oder Verbindungen konstruiert und aufgebauscht, nichtslawische Elemente und Einflüsse abgeschrieben oder bagatellisiert. Der Entromanisierung der rumänischen Geschichte steht die Entturanisierung der bulgarischen gegenüber und ähnliches mehr. Professor Deržavin nannte 1952 die Tatsache der turkotatarischen Herkunft der Bulgaren eine „niederträchtige Theorie“, und die Bukarester Akademie der Wissenschaften stellte 1951 fest, dass das rumänische Volk „eigentlich“ slawischen Ursprungs sei, Moldau- isch kein rumänischer Dialekt, sondern eine besondere Sprache sei. Dass dieser hypertrophierte Superslawismus jedoch weniger zum höheren Ruhme der slawischen Gesamtheit als vielmehr zur Vormachtstellung des großrussischen Volkes als des tragenden Elements der Sowjetunion beitragen soll, zeigen Fälle wie die Maß- regelung des polnischen Historikers Batowski im Jahre 1950, weil er die geschichtli- che Rolle Polens innerhalb der slawischen Welt allzu stark herausgestellt hatte. An sich könnte das Eindringen der russischen Sprache und Kultur in den Lebensbereich der Satellitenländer, zumal der slawischen unter ihnen, wie jede andere kulturelle Bereicherung begrüßt werden, wenn diese Erscheinungen nicht zugleich politisch und kulturell die Verkümmerung der europäischen Bindungen dieser Länder und die Schaffung von bequemen propagandistischen Kanälen für den Bolschewismus bedeu- ten würden. Zur Abrundung dieses Bildes sei noch ein Blick nach Ost- und Mitteldeutschland geworfen. Zog dort die Vertreibung der Deutschen eine Besiedlung mit polnischen und russischen Einwandern nach sich, so wird in Mitteldeutschland der Volkssplitter der Spreewaldwenden dazu missbraucht, den zeitweilig slawischen Charakter Ostel- biens in der Zeit zwischen 600 und 1000 zu aktualisieren – nicht ganz unähnlich den krampfhaften Versuchen Hitlers, aus der historischen Tatsache gotischer und warägi- scher Einflüsse der russischen Frühgeschichte politisches Kapital zu schlagen. Die Kehrseite einer derartigen Hervorhebung der slawischen Besiedlung Ostdeutschlands nach der Völkerwanderung ist die Kennzeichnung der ostdeutschen Kolonisation als einer „räuberischen Aggression des deutschen Feudalismus und Handelskapitals“. Die Herausarbeitung des Begriffs eines besonderen „ostdeutschen“ Volkes, das in enger Gemeinschaft mit seinen slawischen Nachbarn stehe, soll mit dazu beitragen, den Riss zwischen dem deutschen Osten und Westen, zwischen Deutschland und dem europäi- schen Westen, zu vertiefen. Widerstände gegen diesen komplexen Prozess werden mit den üblichen terroristischen Mitteln beseitigt; die äußerste Konsequenz ist die Deportation (Westukrainer aus Gali- zien, die polnische Intelligenz aus Ostpolen, die ukrainische Jugend aus der Altukraine nach Mittelasien usw.). Immer deutlicher müssen auch westslawische Enthusiasten des neuen „Volkspanslawismus“ erkennen, dass das Traumbild der slawischen Gemein- 122 Georg von Rauch• samkeit an sich nur dem Prioritäts- und Superioritätsstreben des „großen russischen Volkes“ zu dienen hat. Noch 1923 hatte Stalin auf dem XII., 1930 auf dem XIV. Partei- kongress aufs schärfste den „großrussischen Chauvinismus“ gegeißelt. Jetzt rühmte er in seinem berühmten Trinkspruch vom Mai 1945 das russische Volk als „die tragende Kraft des Sieges“ und prophezeite ihm in den Linguistikbriefen vom Sommer 1950, es werde als Siegerin aus dem Wettbewerb mit anderen Sprachen hervorgehen. Es ist eine Linie, die auf eine systematische Demontage der nationalen Eigenart der Völker und auf eine sukzessive Verschmelzung aller Nationen im Schmelztiegel der Sowjetunion hi- nausläuft, die sich nur zum Schein eine föderalistische Verfassung gegeben hat. Hinter der Maske des sowjetischen Panslawismus verbergen sich demnach nationalistische und imperialistische Tendenzen, die noch krasser und gefährlicher sind als zur Zarenzeit, weil sie die Verschmelzung zur unausweichlichen Konsequenz einer determinierten Entwicklung der Menschheitsgeschichte erheben. Sekundäres taktisches Mittel Ab 1950 kann von einem Panslawismus nur noch als einem sekundären taktischen Mit- tel die Rede sein. Die sowjetischen Machthaber bedienen sich seiner je nach Bedarf. Im Rahmen der Sowjetunion boten die Feiern anlässlich der 300-Jahrfeier des Vertrages von Perejaslavl’ 1954 dem Kreml eine willkommene Gelegenheit, die Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen im Sinne des Moskauer Zentralismus auszuschlach- ten. Die gleichzeitige Angliederung der bisher großrussischen Krim an die Ukrainische Sowjetrepublik konnte kaum die tiefgreifenden Bevölkerungsveränderungen auf ur- sprünglich ukrainischem Volksboden vergessen machen. Im übrigen wurden dem uk- rainischen Geistesleben nach einer vorübergehenden Lockerung im Frühjahr 1953 wie- der straffere Zügel angelegt, die sich auch in der Personalpolitik auswirken. Im Rahmen des Ostblocks lässt sich der Panslawismus von Fall zu Fall beschwören, wie etwa in der Ansprache von Chruščev auf dem polnischen Parteitag 1954, die sich auf die Freundschaft zwischen Puškin und Mickiewicz berief und F. Dzeržinskij, den ersten Leiter der Tscheka, wegen seiner polnischen Herkunft rühmte. Gerade Chruščev, der großrussisch-ukrainischen Mischzone im Gebiet Kursk entstammend, aber in der Ukraine aufgewachsen, führt oft panslawistische Parolen im Munde. Eine gewisse Rolle kommt dem Panslawismus in propagandistischer Hinsicht bei Versu- chen zu, die slawischen Volksgruppen in den westlichen Ländern, insbesondere in Amerika, im Sinne einer Fünften Kolonne zu missbrauchen. Über eine Tatsache wird man [sich] allerdings im Klaren sein müssen: Bei jeder eventu- ellen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen West und Ost würde der sowjetische Panslawismus genauso wie 1941 erneut zu einer hellen Flamme geschürt werden. Eine Frage für sich ist, wieweit sich neuerdings allslawische Gemeinsamkeiten mit antirussischen bzw. antistalinistischen Akzenten innerhalb der slawischen Völker regen. Wie der polnisch-ukrainische Professor Duchinski 1864 alle Slawen zum Kampf gegen das Zarenreich aufrief und die Großrussen aus der slawischen Gemein- schaft heraus nach Asien verwies, so hat auch Tito in den ersten Jahren nach dem Bruch mit Stalin gelegentlich an die slawische Solidarität gegenüber dem Moskauer Druck appelliert. In der slawischen Emigration haben Erfahrungen von Verschleppten Eine taktische Waffe 123 und Gefangenen viel zu einer klaren Vorstellung von der sowjetischen Wirklichkeit beigetragen. Hier sei vor allem auf die Erlebnisberichte des Polen G. Herling und des Kroaten A. Ciliga hingewiesen. In Exilkreisen der Weißrussen und Ukrainer wird gelegentlich der Gedanke einer slawischen Föderation mit Polen und der Tschecho- slowakei – unter Einschluss Litauens – als eines Gegengewichts gegen Moskau und als Barriere zwischen Deutschland und Russland erörtert: nicht ungefährliche Pläne, in die auch Ostdeutschland hineingezogen werden könnte. Ersichtlich ist, dass ein sowjetischer Panslawismus, wenn Europa nicht an der Elbe oder Oder enden soll, nicht durch teilslawische Zusammenschlüsse aus dem Felde geschlagen werden kann, sondern nur durch eine wahrhaft europäische Gemeinschaft der romanischen, germanischen und slawischen Völker. Wie das Mittelalter nicht ohne die vielfachen west-östlichen Wechselwirkungen zwischen Byzanz und dem Abendlande zu begreifen ist, so kann die Neuzeit nicht ohne ein wechselseitiges Nehmen und Geben zwischen der westlichen Welt und den slawischen Völkern ver- standen werden. Dass hierbei neben dem kulturellen Beitrag der west- und südslawi- schen Völker auch dem großen Erbe des russischen Geistes, vornehmlich des 19. Jahrhunderts, eine gebührende Rolle zukommt, versteht sich von selbst. Hierin liegen Mahnung und Auftrag für die Gegenwart und Zukunft.

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