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Eine Gesellschaft auf dem Lande PDF

240 Pages·2016·0.66 MB·German
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AL Aldous Huxley Eine Gesellschaft auf dem Lande ALDOUS HUXLEY - EINE GESELLSCHAFT AUF DEM LANDE ALDOUS HUXLEY EINE GESELLSCHAFT AUF DEM LANDE ROMAN Mit einem Nachwort von Herbert Schlüter R. PIPER & CO VERLAG MÜNCHEN ZÜRICH Aus dem Englischen übertragen von Herbert Schlüter Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crome Yellow« bei Chatto & Windus, London 1949 ISBN 3-492-02292-8 © Chatto & Windus 1949 Deutsche Ausgabe: © R. Piper & Co. Verlag, München 1977 Gesetzt aus der Linotype-Garamond Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Printed in Germany ERSTES KAPITEL Auf dieser Strecke hatte noch nie ein Schnellzug verkehrt. Hier hielten die Züge — viele waren es nicht — auf jeder Station. De- nis kannte die Namen auswendig: Bole, Tritton, Spavin Delawarr, Knipswich über Timpany, West Bowlby und endlich Camlet-on- the-Water. In Camlet pflegte er auszusteigen, während der Zug sich träge weiterschleppte, Gott mochte wissen, wohin, jedenfalls in das grüne Herz Englands. Der Zug verließ mit schnaufender Lokomotive West Bowlby. Gott sei Dank war es nur noch eine Station. Denis nahm das Ge- päck aus dem Netz und stapelte es ordentlich auf dem Eckplatz gegenüber auf. Ein müßiges Unterfangen. Aber man mußte etwas zu tun haben. Als er fertig war, ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen und schloß die Augen. Die Hitze war unerträglich. Oh, diese Reise! Es waren zwei verlorene Stunden seines Lebens, zwei Stunden, in denen er soviel hätte tun können — zum Bei- spiel das vollkommene Gedicht schreiben oder das Buch lesen, das der Schlüssel zu allem war. Statt dessen wurde ihm übel vom Ge- ruch der schmutzigen Polstersitze. Zwei Stunden. Hundertundzwanzig Minuten. Alles Mögliche ließe sich in dieser Zeitspanne tun. Alles. Und nichts. Hatte er nicht Hunderte solcher Stunden gehabt? Was hatte er mit ihnen getan? Er hatte sie vergeudet, die kostbaren Minuten verströmen lassen, als ob sein Vorrat unerschöpflich, sei. Denis stöhnte inner- lich auf, voll äußerster Mißachtung gegen sich und alle seine Wer- ke. Welches Recht hatte er, in der Sonne zu sitzen, auf einem Eck- platz in einem Dritter-Klasse-Abteil, ja, überhaupt zu leben? Kei- nes, gar keines. 7 Ein Gefühl der Qual, ein unsäglicher, wehmütiger Schmerz er- füllten ihn. Er war dreiundzwanzig und er war sich dieses Um- stands qualvoll bewußt. Mit einem kräftigen Ruck hielt der Zug. Endlich war man in Camlet. Denis sprang auf, stülpte sich den Hut bis über die Au- gen und brachte den Stapel seines Gepäcks wieder durcheinander, um sich dann aus dem Fenster zu lehnen und laut nach einem Ge- päckträger zu rufen. Er nahm in jede Hand eine Reisetasche, die er jedoch gleich wieder absetzen mußte, um die Abteiltür zu öff- nen. Als er mit seinem Gepäck glücklich auf dem Bahnsteig gelan- det war, lief er den Zug entlang bis zum Gepäckwagen. »Mein Fahrrad, mein Fahrrad!« erklärte er atemlos dem Zug- begleiter. Er fühlte sich ganz als Mann der Tat. Doch der Beam- te schenkte ihm keine Beachtung und fuhr fort, planmäßig eins nach dem andern die für Camlet bestimmten Frachtstücke auszu- laden. »Mein Fahrrad!« wiederholte Denis. »Ein grünes Herrenrad auf den Namen Stone. S-T-O-N-E.« »Immer der Reihe nach, Sir«, sagte der Beamte beschwichti- gend. Er war ein großer stattlicher Mann mit einem Seemanns- bart. Man konnte sich gut vorstellen, wie er zu Hause, inmitten seiner zahlreichen Familie seinen Tee trank. In diesem Ton sprach er gewiß mit seinen Kindern, sobald die lästig wurden. »Immer eins nach dem andern, Sir.« Der Mann der Tat platzte wie ein durchlöcherter Gummireifen. Er ließ sein Gepäck am Bahnhof, um es später abholen zu lassen, und fuhr auf seinem Fahrrad los. Wenn er aufs Land ging, nahm er immer sein Rad mit. Es gehörte zu seiner Theorie der körperlichen Ertüchtigung. Einmal wollte er um sechs Uhr früh aufstehen und nach Kenilworth oder nach Stratford-on-Avon oder sonstwohin radeln. Außerdem gab es im Umkreis von zwanzig Meilen immer 8 irgendeine normannische Kirche oder ein Tudor-Schloß, die auf einem Nachmittagsausflug besichtigt werden konnten. Irgendwie kam man zwar nie dazu, aber es war doch eine angenehme Vor- stellung, daß das Fahrrad da war und man eines schönen Morgens tatsächlich um sechs Uhr aufstehen könnte. Der Weg vom Bahnhof aus stieg allmählich an. Als Denis die Höhe erreicht hatte, fühlte er sich schon heiterer. Die Welt war gut, fand er. Die blauen Hügel in der Ferne, die bleichenden Gar- ben an den Hängen des Kammwegs und der baumlose Horizont, der sich änderte, während er weiterfuhr — ja, das alles war gut. Er war überwältigt von der Schönheit der engen Talmulden, die tief in die Hänge zu beiden Seiten unter ihm einschnitten. Kurven, Kurven: er wiederholte langsam das Wort, während er zugleich nach einem anderen suchte, das seinen Eindruck besser wiedergab. Kurven — nein, das traf es nicht ganz. Er machte eine Handbewe- gung, wie um den vollkommenen Ausdruck aus der Luft zu grei- fen, und fiel dabei beinahe vom Rad. Wo war das Wort, mit dem man die Kurven dieser kleinen Täler beschrieb? Sie waren schön wie die Formen eines menschlichen Körpers, sie waren subtil wie ein Kunstwerk … Galbe. Das war ein gutes Wort, aber es war französisch. Le gal- be évasé de ses hanches: Gab es einen französischen Roman, in dem sich diese Wendung nicht fand? Er würde einmal ein Wör- terbuch zum Gebrauch von Romanschriftstellern zusammenstel- len. Galbe, gonflé, goulu; parfum, peau, pervers, potelé, pudeur; vertu, volupté. Im Ernst, er mußte das Wort finden. Kurven, Kurven … Die- se kleinen Täler hatten die Umrisse einer Schale, die sich um ei- ne Frauenbrust schmiegte; sie waren wie der Abdruck eines ge- waltigen göttlichen Körpers, der auf diesen Hügeln geruht hatte. 9 Alles schwerfällige Wendungen, aber sie schienen ihm dem, was er suchte, näherzubringen. Sich schmiegend, schmeichelnd, sich wiegend — seine Gedanken irrten durch die hallenden Korridore der Assonanzen und Alliterationen immer weiter weg vom Ziel. Er war verliebt in die Schönheit der Worte. Als er sich der Außenwelt wieder bewußt wurde, befand er sich an einem Punkt, von wo aus der Weg steil und gerade in ein grö- ßeres Tal hinabführte. Drüben, am entgegengesetzten Hang, ein wenig oberhalb des Tals, lag sein Ziel: Crome. Er zog die Brem- sen an; es war hübsch, bei diesem Blick auf Crome ein wenig zu verweilen. Die Fassade mit den drei vorspringenden Türmen stieg steil aus dem Dunkel der Bäume hervor. Das Haus lag im hellen Sonnenschein; die alten Backsteinmauern leuchteten rosenfarbig. Wie vollkommen, wie kostbar es war, von welch prachtvoller Ab- geklärtheit! Und zugleich wie nüchtern-streng! Der Hügel fiel jetzt immer steiler ab; trotz seines Bremsens wurde seine Fahrt immer schneller. Er lockerte die Handbremse, und im Nu sauste er talab- wärts. Fünf Minuten später fuhr er durch das Tor des großen Hofs. Die Haustür war gastlich weit geöffnet. Er lehnte das Rad an die Mauer und ging hinein. Er wollte sie überraschen. ZWEITES KAPITEL Er überraschte niemanden; es war niemand da, den er hätte über- raschen können. Im Haus war alles still; Denis wanderte von ei- nem leeren Zimmer ins andere und sah mit Vergnügen wieder die vertrauten Bilder und Möbel, auch all die kleinen Lebenszeichen, die hier und da herumlagen. Es war ihm eigentlich ganz lieb, daß sie alle draußen waren; er genoß es, durch das Haus zu wandern, als wolle er ein totes, verlassenes Pompeji erforschen. Auf was für 10

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