DIE GRUNDLEHREN DER MATHEMATISCHEN WISSENSCHAFTEN IN EINZELDARSTELLUNGEN MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER ANWENDUNGSGEBIETE GEMEINSAM MIT W.BLASCHKE · F.K.SCHMIDT · B.L. VAN DER WAERDEN HERAUSGEGEBEN VON R. COURANT BAND XLVI EINDEUTIGE ANALYTISCHE FUNKTIONEN VON ROLF NEVANLINNA Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1936 EINDEUTIGE ANALYTISCHE FUNKTIONEN VON DR. ROLF NEVANLINNA PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HELSINKI MIT 24 ABBILDUNGEN Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1936 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN. COPYRIGHT 1936 BY Springer-Verlag Berlin Heidelberg UrsprOnglich erschienen bei Julius Springer in Berlin 1936 ISBN 978-3-662-41664-8 ISBN 978-3-662-41799-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-41799-7 Vorwort. In den wenigen Jahren, die seit dem Erscheinen meiner zusammen fassenden Darstellung der neueren Theorie der ganzen und meromorphen Funktionen (Gauthier-Villars, Paris 1929) verflossen sind, hat sich die Lehre von der Wertverteilung der analytischen Funktionen durch die Arbeiten verschiedener Forscher wesentlich weiter entwickelt. Die Forschungen auf diesem funktionentheoretischen Gebiete sind keineswegs zu einem Abschluß gebracht; die erzielten Fortschritte haben im Gegen teil den Weg zu neuen ungelösten Fragen angebahnt. Andererseits findet man unter den neueren Ergebnissen eine Menge von solchen, die definitiven Charakters sind und die zu einer größeren Einheitlichkeit in verschiedenen funktionentheoretischen Gebieten beigetragen haben. Eine Darstellung der Hauptzüge der Theorie in dieser Sammlung erscheint deshalb berechtigt. Bei der Darstellung einer Lehre, die sich in steter Entwicklung befindet, bietet eine zweckmäßige Abgrenzung gewisse Schwierig keiten. Einige Bemerkungen über die Gesichtspunkte, welche bei der Auswahl des Stoffes bestimmend gewesen sind, findet der Leser in der nachstehenden Einleitung. Der Verfasser hat insofern Vollständigkeit angestrebt, als die zur Anwendung kommenden Hilfsmittel, welche außerhalb der Elemente der Funktionen- und Potentialtheorie, der nichteuklidischen Geometrie oder der Topologie liegen, soweit als möglich begründet werden. In vielen Fällen gelang dies im Zusammenhang mit der Darstellung gewisser allgemeiner Prinzipien, die wegen ihrer Bedeutung für verschiedene Fragen der Wertverteilung vollständig dar gestellt werden. Eine Ausnahme bilden die fundamentalen Existenz sätze der Theorie der konformen Abbildung, sowie die klassischen Sätze über die Ränderzuordnung bei konformer Abbildung schlichter Gebiete; diese Sätze mußten als bekannt vorausgesetzt werden. Überhaupt hätte eine systematische Darstellung der Lehre von der Uniformisierung, von den automorphen Funktionen und den diesen Funktionen zugeordneten, regulär verzweigten RIEMANNschen Flächen der vorliegenden Arbeit, die sich zum ganz wesentlichen Teil mit gewissen höheren Stufen jenes Lehrgebäudes beschäftigt, vorausgehen müssen. VI Vorwort. Herrn Professor Dr. R. CoURANT, der mich zur Veröffentlichung dieser Darstellung aufgefordert und meine Arbeit mit freundlichem Interesse verfolgt hat, spreche ich hiermit meinen aufrichtigen Dank aus. Mein Dank gilt auch der Verlagsbuchhandlung, die meinen Wünschen mit Bereitwilligkeit entgegengekommen ist und die mit Präzision und Schnelligkeit für die technische Herstellung der Arbeit Sorge getragen hat. Herrn Professor Dr. L. AHLFORS bin ich für seinen wertvollen Beistand bei der Abfassung des XII. Abschnittes zu Dank verpflichtet. Verschiedene wichtige sachliche Bemerkungen verdanke ich Herrn Dr. E. ULLRICH, der mir auch beim Lesen der Korrektur behilflich gewesen ist. Helsinki, im März 1936. ROLF NEVANLINNA, Inhaltsverzeichnis. Seite Einleitung . . . . . I. Konforme Abbildung ein- und mehrfach zusammenhängender Gebiete. 4 § 1. Konforme Abbildung durch lineare Transformationen. . 4 § 2. Hauptsatz der konformen Abbildung. Abbildung der universellen Überlagerungsfläche eines mehrfach zusammenhängenden Gebietes 8 § 3. Fall der p-fach punktierten Ebene . . . . . . . . . . . . . 14 § 4. Der allgemeine Fall eines p-fach zusammenhängenden Gebietes 20 II. Lösung des DIRICHLETschen Problems für ein schlichtes Gebiet 21 § 1. Das PorssoNsche Integral . . . . . . . . . . . . . . . 21 § 2. Lösung der allgemeinen Randwertaufgabe . . . . . . . . 23 § 3. Integraldarstellung der Lösung der Randwertaufgabe mittels des harmonischen Maßes . . . . . . . . . . . . . 26 § 4. GREENsehe Funktion und harmonisches Maß. . . . . . 28 § 5. Über die Niveaulinien des harmonischen Maßes . . . . 33 111. Prinzip über das harmonische Maß und seine Anwendungen . 37 § 1. Aufstellung und Begründung des Prinzips . . . . . . . 37 § 2. Anwendungen auf den absoluten Betrag einer analytischen Funktion 41 § 3. Prinzip vom hyperbolischen Maß . 45 § 4. Sätze über Kreisgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 § 5. Sätze von LANDAU und ScHOTTKY . . . . . . . . . . . . . . 55 § 6. Anwendungen zur Untersuchung der Grenz- und Häufungswerte beschränkter Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV. Beziehungen zwischen nichteuklidischen und euklidischen Maßbestim- mungen ............... . 62 § 1. Allgemeine Bemerkungen. . . . . . . . . . 62 § 2. CARLEMANs Prinzip der Gebietserweiterung . 63 § 3. Abschätzung des hyperbolischen Maßes durch Gebietserweiterung 80 § 4. Verzerrungssätze von AHLFORS . . . . 87 § 5. Das Problem von CARLEMAN-MILLOUX 94 V. Punktmengen vom harmonischen Maß Null 106 § 1. Definition der Punktmengen vom harmonischen Maß Null 106 § 2. Punktmengen von der Kapazität Null. . . . . . . . . . 114 § 3. GREENsehe Funktion und logarithmisches Potential. . . . 122 § 4. Verhalten einer analytischen Funktion in der Umgebung einer Punktmenge vom harmonischen Maß Null . . . . . . . . . . . 130 § 5. Hmssätze über additive Mengenfunktionen. . . . . . . . . . . 136 § 6. Metrische Eigenschaften einer Punktmenge vom harmonischen Maß Null. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 VI. Erster Hauptsatz der Theorie der meromorphen Funktionen 153 § 1. PorssoN-JENSENsehe Formel . . . . . . . . . . . . 153 § 2. Die charakteristische Funktion . . . . . . . . . . . 156 § 3. Geometrische Deutung der charakteristischen Funktion . 163 § 4. Verallgemeinerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 VIII Inhaltsverzeichnis. Seite VII. Beschränktartige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 1. Quotientendarstellung einer Funktion von beschränkter Charak- teristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 74 § 2. PmssoN-STIELTJESsche Integraldarstellung einer beschränktartigen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 § 3. Satz von FATOU ...................... 190 § 4. Über die Randwertmenge einer beschränktartigen Funktion .. 197 § 5. Anwendung auf die konforme Abbildung der universellen Über- lagerungsfläche eines schlichten Gebietes. 201 VIII. Meromorphe Funktionen endlicher Ordnung . 206 § 1. Ordnung einer meromorphen Funktion . 206 § 2. Kanonische Darstellung einer meromorphen Funktion endlicher Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 3. Einige Eigenschaften der kanonischen Produkte . . . . 214 § 4. Das Geschlecht einer meromorphen Funktion . . . . . 222 IX. Zweiter Hauptsatz der Theorie der meromorphen Funktionen 226 § 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . 226 § 2. Die Fundamentalbeziehung. . . . . . . . . . . . . . 233 § 3. Hilfssatz über die logarithmische Ableitung. Zweiter Hauptsatz 237 § 4. Direkter Beweis des zweiten Hauptsatzes mit Hilfe der Fundamental- beziehung. . . . . . . . . . . . 242 X. Anwendungen des zweiten Hauptsatzes 249 § 1. Der Satz von PICARD-BOREL. 249 § 2. Die Defektrelationen. . . . . . . 254 § 3. Sätze über verzweigte Werte. . . 265 XI. Die RIEMANNsche Fläche einer einwertigen Funktion 269 § 1. Über die Singularitäten einwertiger Funktionen 269 § 2. RIEMANNsche Flächen, deren Windungspunkte über endlich vielen Punkten liegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 § 3. RIEMANNsche Flächen mit endlich vielen Windungspunkten . . . 287 § 4. Über den Zusammenhang zwischen der Ordnung einer meromorphen Funktion und der . kritischen Stellen der Umkehrfunktion . 292 XII. Der Typus einer RIEMANNschen Fläche . . . . 296 § 1 . V erzweigtheit einer RIEMANNschen Fläche . . . . . . 296 § 2. Defektrelationen und Verzweigtheit . . . . . . . . . 301 § 3. Hinreichende Bedingungen für den parabolischen Fall 305 XIII. Die AHLFORSsche Theorie der Überlagerungsflächen 312 § 1. Topologische Grundbegriffe. . . . . . . . . . 312 § 2. Einführung einer Metrik . . . . . . . . . . 315 § 3. Metrische Eigenschaften der Überlagerungsflächen 318 § 4. Hauptsatz über endliche Überlagerungsflächen . . 323 § 5. Umkehrung des Hauptsatzes . . . . . . . . . . 330 § 6. Sätze über regulär ausschöpfbare offene Überlagerungsflächen 331 § 7. Anwendungen auf die konforme Abbildung einfach zusammen- hängender RIEMANNscher Flächen. . . . . . . . . . . . . . . 338 § 8. Erweiterungen auf Abbildungen von beschränkter Exzentrizität 343 Literaturverzeichnis 346 Sachverzeichnis . . 351 Einleitung. Die eindeutigen analytischen Funktionen können von verschiedenen Gesichtspunkten aus untersucht werden. Die in der vorliegenden Arbeit zur Darstellung gelangenden Fragen gruppieren sich um ein großes Hauptproblem. Einige allgemeine Bemerkungen über diese zentrale Frage stellung sollen hier vorausgeschickt werden. Wir denken uns ein gegebenes analytisches Funktionselement unbe schränkt fortgesetzt. Angenommen, daß die so entstehende analytische Funktion w = w (z) eindeutig ist, existiert ein schlichtes Gebiet G. mit nachstehenden Eigenschaften. 1. Jedem inneren Punkt z von G. entspricht ein und nur ein Element von rationalem Charakter der Funktion w (z). 2. Jeder Randpunkt z* von G. ist eine wesentliche Singularität von w(z). Falls G. die ganze geschlossene Ebene umfaßt (elliptischer Fall), so ist w (z) eine rationale Funktion. Schließt man diesen einfachsten Sonderfall aus, so hat man zwei Fälle zu unterscheiden, je nachdem G. einfach oder mehrfach zusammenhängend ist. Wir beschränken uns auf den erstgenannten Fall und haben dann weitere zwei Möglichkeiten zu berücksichtigen: die Berandung Tz von G. ist entweder ein Punkt (parabolischer Fall) oder ein Kontinuum (hyperbolischer Fall). Das Gebiet G. wird durch die Funktion w = w (z) auf eine über der w-Ebene ausgebreitete RIEMANNsche Fläche Gw konform abgebildet. Die Umkehrfunktion Z=z(w) von w(z) ist eine auf dieser Fläche Gw eindeutige und wegen der Eindeutigkeit von w (z) einwertige Funktion, d. h. den Mittelpunkten von zwei verschiedenen Elementen von z (w) sind stets zwei verschiedene Punkte z zugeordnet. Umgekehrt gilt nach dem Hauptsatz der Theorie der konformen Abbildung, daß eine beliebige, über der w-Ebene liegende, einfach zu sammenhängende RIEMANNsche Fläche stets auf eins der folgenden drei schlichten Normalgebiete G. eineindeutig und konform bezogen werden kann: 1. die Vo llebene (elliptischer Fall) ; 2. die punktierte Ebene (parabolischer Fall); 3- den Einheitskreis oder, allgemeiner, ein beliebiges, von einem Randkontinuum Tz begrenztes Gebiet (hyper bolischer Fall). Die Wertverteilungslehre der eindeutigen analytischen Funktionen beschäftigt sich mit der Untersuchung des Systems (za) derjenigen Nevanlinna, Analytische Funktionen. 2 Einleitung. Punkte in Gz, wo die Funktion w(z) einen vorgegebenen Wert w=a annimmt; sämtliche Werte a werden hierbei in Betracht gezogen. Das klassische Resultat auf diesem Gebiet ist der berühmte Satz von PICARD, nach welchem eine in der punktierten Ebene meromorphe, transzendente Funktion sämtliche Werte a, mit Ausnahme von höchstens zwei Werten, unendlich oft annimmt. Hieran schloß sich die Wertverteilungslehre von HADAMARD, BoREL, JuuA u. a. Bei diesen weitgehenden Ver allgemeinerungen und Verfeinerungen des PICARDschen Satzes spielten die Gesichtspunkte der konformen Abbildung eine untergeordnete Rolle. Aufstellung und Behandlung der Probleme geschah ohne Rücksicht auf die RIEMANNsche Fläche Gw, auf welche die meromorphe Funktion die punktierte Ebene Gz abbildet. Umgekehrt hatten die ersten Unter suchungen über die RIEMANNsche Fläche einer ganzen oder meromorphen Funktion (HURWITZ, BouTROUX, !VERSEN, GRoss u. a.) nur wenige Berührungspunkte mit den Ergebnissen der Wertverteilungslehre. Die Begründung der neueren Theorie der meromorphen Funktionen hat eine Brücke zwischen den beiden Forschungsrichtungen geschlagen. An Stelle der WEIERSTRASSschen kanonischen Darstellung einer ganzen oder meromorphen Funktion treten funktionen-und potentialtheoretische Hilfsmittel von größerer Tragweite. Auf der neuen Grundlage läßt sich die HADAMARD-BORELsche Theorie einfach darstellen und verschärfen. Allein der wichtigste Fortschritt besteht darin, daß die neuen ana lytischen Begriffsbildungen zugleich eine geometrische Bedeutung be sitzen. Die Fundamentalgrößen (Charakteristik, Defekte, Verzweigungs indizes) setzen das asymptotische Verhalten einer eindeutigen ana lytischen Funktion w (z) in Beziehung zu den Eigenschaften der RIEMANN schen Fläche Gw, auf welche das schlichte Existenzgebiet Gz konform abgebildet wird. Der PICARDsche Satz und seine Verallgemeinerungen können auf diese Weise als Aussagen über den Verzweigungscharakter der Überlagerungsfläche Gw aufgeiaßt werden. Diese neue Wendung verlegt den Schwerpunkt der Wertverteilungslehre auf die Untersuchung der Verzerrung der Abbildung Gz--+Gw im Innern und vor allem in der Umgebung der Ränder dieser Flächen; es handelt sich also um eine weitgehende Verallgemeinerung der klassischen Sätze über die Ver zerrung und die Ränderzuordnung bei konformer Abbildung von schlichten Gebieten. Die Wertverteilungslehre ordnet sich so in die allgemeine Theorie der konformen Abbildung ein. Als zentrale Frage jener Lehre erscheint nach dieser Auffassung das Typenproblem, eine interessante und kompli zierte Aufgabe, welche von der klassischen Uniformisierungstheorie offen gelassen wird. Auf Grund der topalogisch-metrischen Eigenschaften einer offenen Überlagerungsfläche gilt es zu entscheiden, ob der parabolische oder der hyperbolische Fall vorliegt, d. h. ob die Fläche auf die punktierte Ebene oder auf das Innere des Einheitskreises konform abbildbar ist.