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Ein neues kulturelles Modell: Zum soziokulturellen Wandel in Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas PDF

191 Pages·1992·5.283 MB·German
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Rainer Zall (Hrsg.) Ein neues kulturelles Modell Rainer Zoll (Hrsg.) Ein neues kulturelles Modell Zum soziokulturellen Wandel in Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein neues kulturelles Modell: zum soziokulturellen Wandel in Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas / Rainer Zoll (Hrsg.). - Opladen: Westdt. VerI., 1992 ISBN 978-3-531-12419-3 ISBN 978-3-322-94230-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-94230-2 NE: Zoll, Rainer [Hrsg.] Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Aile Rechte vorbehalten © 1992 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschliefSlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung aufSerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Gedruckt auf saurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12419-3 Inhalt Vorwort .............................................................................................................. 7 Rainer Zoll Der soziokulturelle Wandel in der Bundesrepublik .......................................... 11 Daniel Yankelovich Expressivitat als neues kulturelles Modell ......................................................... 23 Michel Molitor Die Arbeitsorientierung von Jugendlichen in Belgien ....................................... 32 Alessandro Cavalli Der soziokulturelle Wandel in Italien ............................................................... 44 Manuela du Bois-Reymond Jugendkultureller Wandel in den Niederlanden ................................................ 51 Phil Brown, Lynne Chisholm "Nicht so wie manche Eltern fur manche Jugendliche" Uberlegungen zum neuen kulturellen Modell ................................................... 71 Paul Grell Identitat auGerhalb der Lohnarbeit: Ergebnisse einer Untersuchung uber Arbeitslosigkeit und soziale Uberlebenstechniken .................................... 85 Heiner Keupp Identitatsverlust oder neue Identitatsentwurfe? .............................................. 100 Thomas Ziehe Moralitat und Subjektivierung ........................................................................ 118 Burkhard Strumpet Das Wirtschaftswunder und kein Ende: Erfahrung und BewuGtsein .............. 130 Berichte aus den A rbeitsgruppen 1) Veranderungen von Arbeitsorientierungen Heinz Brauer ................................................................................................ 142 2) Selbstentwiirfe und Identitatsprobleme junger Frauen Mechthild Oechsel ......................................................................................... 145 3) Beinhaltet die kommunikative Kultur eine neue Ethik? Rainer Volz .................................................................................................. 148 4) Neuer Individualismus und Solidaritat Birgit Geissler ............................................................................................... 152 Jean Marie Vincent Krise der Arbeit und neue Sozialitat ............................................................... 154 Christian Lalive d 'Epinay Vom Ethos der Arbeit zum Ethos der Selbstverwirklichung .......................... 160 Rainer Zoll Perspektiven des soziokulturellen Wandels.. ................................................... 178 Uber die Autoren ............................................................................................ 189 Vorwort Das von der Stiftung Volkswagenwerk geforderte Projekt "Arbeitsorientierun gen von Jugendlichen" endete mit der empirisch begriindeten Hypothese eines neuen kulturellen Modells, das in seinen Konturen bei den untersuchten Ju gendlichen sichtbar ist1• Diese vorsichtige Hypothese fand eine uberraschende Bestatigung durch internationale Vergleiche mit sozialwissenschaftlichen For schungsprojekten in west europa is chen und nordamerikanischen Landern. Da lag es nahe, diesen Vergleich in einem internationalen Symposium, das wie derum von der Stiftung Volkswagenwerk wesentlich gefordert, aber auch von der Universitat Bremen unterstutzt wurde, zu vertiefen. Ausgangspunkt des Symposiums war die Hypothese eines neuen kulturellen Modells, wie sie von der Bremer Forschergruppe aus dem Projekt "Arbeits orientierungen von Jugendlichen" heraus formuliert wurde und wie sie als These einer "kulturellen Revolution" von Daniel Yankelovich fur die U.S.A. aufgestellt wurde.2 Die Bremer Forschergruppe hatte erst nach AbschluB der In terview- und Interpretationsarbeit und nach weitgehender Fertigstellung des AbschluBberichts Kenntnis der Studie von Yankelovich eriangt, so daB eine Be einflussung nicht mehr moglich war. Urn so frappierender sind die strukturel len Ahnlichkeiten der jeweiligen Forschungsergebnisse. Es muB auch hervorgehoben werden, daB beide Studien mit verschiedenen theoretischen und methodischen Ansatzen gearbeitet haben. Wahrend Yankelovichs Studie sich auf die gesamte Bevolkerung der USA bezieht und die unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Methoden benutzt - er verwendet eine Vielzahl quan titativer reprasentativer Umfrageergebnisse seines eigenen Forschungsinstituts sowie anderer amerikanischer Institute, setzt aber zur Illustrierung seiner Ergebnisse auch Soziobiographien ein, die eigens fur diese Studie erhoben wurden -arbeitete die Forschergruppe des Projekts "Arbeitsorientierungen von Jugendlichen" ausschlieBlich mit soziobiographischen freien Interviews und der Interpretationsmethode der objektiven Hermeneutik, die durch eine qualitative Inhaltsanalyse des nicht kollektiv hermeneutisch interpretierten Materials erganzt wurde. Yankelovich benutzt nicht den Ausdruck "kulturelles Modell", aber er spricht von "neuen Regeln" , mit denen er sozio-kulturelle Normen meint, und von einer "kulturellen Revolution", so daB die Hypothese eines neuen kulturellen Modells als geradezu zaghaft und vorsichtig erscheint. Fur Yankelovich steht die Suche nach Selbstverwirklichung im Kern einer "echten kulturellen Revolution". Das Neue ist nicht die Suche nach Selbstver wirklichung als solche, sondern daB Selbstverwirklichung nun nicht mehr in Pioniertaten, in geschaftlichen Erfolgen oder ahnlichem gesucht werde, daB die s. Rainer Zoll/Henri Bents/Heinz Brauer/Jutta Flieger/Enno Neumann/Mechtild Oechsle: Nicht so wie un sere Eltern! . Ein neues kulturelles Modell? Opladen 1989. 2 s. Daniel Yankelovich: New Rules -Searching for Self-fulfillment in a World Turned Upside Down. New York 1981. 8 Rainer Zoll Suche nach Selbstverwirklichung illl wesentlichen in einer Wende nach innen bestehe. Das Neue bestehe auch in der "Demokratisierung" der Suche, das heiBt ihrer massenhaften Verbreitung. Bei dem Versuch, die Strukturmerkmale des neuen kulturellen Modells im Gegensatz zum alten herauszuarbeiten, nennt Yankelo vich als erstes die geringere Bewertung der instrumentellen und die hahere Be wertung der expressiven, ja heiligen Werte des Lebens. Als nachstes Strukturmerkmal nennt Yankelovich die Veranderungen in den Regeln des Gebens und Nehmens in der Alltagspraxis der Menschen. Die alten Regeln des Gebens und Nehmens beschreibt er als "harte Arbeit, Loyalitat, Be standigkeit, Selbstverleugnung, Opferbereitschaft, Altruismus, wachsenden Le bensstandard, beruflichen Erfolg, intakte Familie", kurz er beschreibt das, was er selbst im weiteren als im wesentlichen ubereinstimmend mit der protestanti schen Ethik -wie sie Max Weber analysiert hatte -kennzeichnet. Dieses Ethos sei entscheidend dafur gewesen, daB die Mehrheit der amerikanischen Gesell schaft in der Nachkriegsperiode die Ziele unterstutzt hatte, die der "amerikani sche Traum" genannt wurden. Nun aber seien Millionen Amerikaner des Ethos der Selbstverleugnung, des Ethos der Opferbereitschaft mude; sie wunschen die Regeln des Gebens und Nehmens neu zu definieren. Die neuen Werte seien Kreativitat, Freizeitautonomie, Lebensfreude, Partizipation. Gemeinschaft, Abenteuer, Vitali tat, zartliche und liebende Fursorge; Kerper und Geist sollten zufriedengestellt werden. Fur Yankelovich ist Selbstverleugnung der Kern des alten Musters des Gebens und Nehmens in der Alltagspraxis. Selbstverleugnung ist Yankelovichs Uber tragung von Webers Begriff der innerweltlichen Askese, wie der Autor sich uberhaupt mehrfach ausdriicklich auf Max Webers Analyse der protestantischen Ethik beruft. In Amerika hatten die Jugendlichen in der Studentenrevolte ange fangen, die moralische Berechtigung der Selbstverleugnung in Frage zu stellen. Allerdings sei das kein wirklicher Generationssprung gewesen, sie hatten nur offen die Fragen aufgeworfen, die ihre Eltern sich heimlich gestellt hatten. In der Studentenrevolte hatten sie angefangen, Phantasien und Traume als unter driickte Elemente aus dem Leben ihrer Eltern zu leben. Wenn die Selbstver leugnung keine moralische Legitimitat mehr besitze, breche das ganze Muster, in unseren Worten: das alte kulturelle Modell zusammen. Zielsetzung des Symposiums war also vor allem der internationale Vergleich von Untersuchungsergebnissen, die in Material zur hier kurz anhand der Unter suchung von Daniel Yankelovich umrissenen These des soziokulturellen Wan dels beisteuern. Zugleich sollte diese These aber auch in einzelnen Aspekten, vor allem denen der Identitat, der neuen Moralitat und der neuen Sozialitat ver tieft, auf Geschlechterdifferenzierung hin diskutiert und urn historische Per spektiven des soziokulturellen Wandels erganzt werden. Der erste Tag des Symposiums war Landerberichten gewidmet. Leider fehlt in der Veraffentlichung der interessante, den soziokulturellen Wandel auch fUr Skandinavien bestatigende Beitrag von Lars DENCIK, Roskilde. Dafur kann Vorwort 9 hier der Beitrag von Paul GRELL von der Universitat Moncton in Kanada ver offentlicht werden, den er selbst wah rend des Symposiums nicht vortragen konnte. Der zweite Tag begann mit Beitragen von Heiner KEUPP und Thomas ZIEHE zu Veranderungen von Identitat und Moralitat. Den dritten Vortrag hie It Bur kart STRUMPEL. Er, der wohl als einer der ersten die These des soziokulturel len Wandels fUr die Bundesrepublik aufgestellt hatte und dem die Bremer For schergruppe viele Anregungen verdankt, behandelte in einem seiner letzten Vortrage das Verhaltnis von wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftli chern BewuBtsein in zeitgeschichtlicher Perspektive. Leider hatte Burkart Striimpel nicht mehr die Zeit, vor seinem Tode eine schriftliche Fassung seines Beitrags zu redigieren, aber der hier veroffentlichte Artikel enthalt wesentliche Passagen seines Bremer Vortrags. Wir widmen diese Veroffentlichung seinem Andenken. Am Nachmittag vertieften Arbeitsgruppen zu den Themen Arbeitsorientierun gen, Selbstentwurfe und Identitatsprobleme junger Frauen, neue Ethik und neuer Individualismus den internationalen Vergleich. Diese interessanten und anregenden Diskussionen konnen wir hier nur in der Form von Berichten aus den Arbeitsgruppen dokumentieren, die den dritten Tag einleiteten. In drei ab schlieBenden Vortragen behandelte Jean-Marie VINCENT die Krise der Arbeit und die Frage einer neuen Sozialitat, Christian LALIVE d'EPINAY gab einen historischen Uberblick uber den soziokulturellen Wandel im 20. Jahrhundert, und ich versuchte, aus den Diskussionen des Symposiums und der es vorberei tenden Gesprache Perspektiven des soziokulturellen Wandels zu skizzieren. 1m Namen der Bremer Forschergruppe und im Namen der Teilnehmer des Symposiums danke ich der Stiftung Volkswagenwerk fur die Finanzierung des Symposiums, dem Rektor der Universitat Bremen, Prof. Jurgen TIMM, fur seine Unterstutzung und dem Konrektor der Universitat, Prof. Christian MARZAHN, fur seine BegriiBungsworte zum Symposium. Moderatoren der vier Arbeitsgruppen waren Walter R. HEINZ, Carmen LECCARDI, Klaus KORBER und Birgit GEISSLER, die Berichterstattung hatten Heinz BRAUER, Mechtild OECHSLE, Rainer VOLZ und Birgit GEISSLER ubernommen. Die Beitrage von Paul GRELL, Michel MOLITOR und Daniel Y ANKELOVICH wurden von Rainer VOLZ fur die Veroffentlichung ubersetzt. Wesentlichen Anteil an der Vorbereitung des Symposiums hatte Heinz Brauer, die Durchfuhrung unterstutzten Barbara MULLER, Christa RUTHKE und Cordula STENGER. Ihnen allen sei hier fur ihren Beitrag zum Gelingen des Symposiums herzlich gedankt. Bremen, Dezember 1991 Rainer Zoll Der soziokulturelle Wandel in der Bundesrepublik. Die These eines neuen kulturellen Modells -eine kurze Darstel lung der Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Untersuchung "Arbeitsorientierungen von Jugendlichen" Rainer Zoll Zu Beginn der 80er Jahre hielten wahrscheinlich nur wenige einen tiefgehenden kulturellen Wandel in der Bundesrepublik fUr moglich. Selbst wir als Sozialwis senschaftler sind zumeist so sehr dem vorherrschenden alten kulturellen Mo dell, seinen alltaglichen Deutungsmustern und Habitusformationen verhaftet, daB uns ihre Geschichtlichkeit nicht bewuBt ist. Wenn wir aber die Verande rungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie der Technik und der Wirtschaft betrachten, dann ist die Feststellung unumganglich, daB ein kulturel ler Wandel uberfallig ist. Aber wer halt schon das geschichtlich eigentlich zu Erwartende fur wahrscheinlich? Weder meine Mitarbeiter noch ich dachten zu Beginn des Projekts "Arbeitsorientierungen von Jugendlichen"l, er konne sich jetzt ereignen: der Wandel des alten kulturellen Modells, dessen, was so landlau fig und thematisch eingeschrankt als Arbeitsethik bezeichnet wird. Und doch Den Kern des empirischen Materials bilden 53 Interviews mit mannlichen und weiblichen Jugend lichen in den Jahren 1984 bis 1986. Unsere Zufallsstichprobe umfa~t: mannliche und weibliche Jugendliche, die als Angestellte im offentlichen Dienst arbeiten, die an Arbeitsplatzen mit neuer Technologie tatig sind, die in sogenannten alternativen Betrieben arbeiten und die in der Metall industrie als angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter tatig sind. Facharbeiterinnen sind in der Me tallindustrie noch so selten, da~ wir uns auf eine Gruppe von Facharbeitern beschrankt haben. Drei weitere kleine Gruppen bestehen aus "Prekaren", d.h. im Prinzip arbeitslosen Jugendlichen, die sich aber zum Teil in Ausbildungsma~nahmen des Arbeitsamtes befinden. Es handelt sich um mannliche Jugendliche mit abgeschlossener Berufsausbildung und um mannliche und weibliche Jugendliche ohne Berufsausbildung. -Die Interviews waren freie Gespriche mit den folgenden Themenschwerpunkten: Arbeit, Freizeit, schulischer und beruflicher Werdegang, kurz: im we senclichen soziobiographische Interviews. 1m Zentrum der Auswertung stand die kollektive tie fenhermeneutische Interpretation von knapp 20 Interviews. Dieses Interpretationsverfahren ori entierte sich an der von Ulrich Oevermann entwickelten objektiven Hermeneutik (Ullrich Oevermann u.a.: Die Methodologie einer objektiven Hermeneutik und ihre allgemeine for schungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: H.G. Soeffner (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial-und Technikwissenschaften. Stuttgart 1979). -Die Forschergruppe hatte sich dieses Verfahren wahrend der Arbeit an dem Projekt "Arbeiterbewu~tsein in der Wirt schaftskrise" angeeignet (Rainer Zoll (Hg.): Arbeiterbewu&sein in der Wirtschaftskrise. Erster Bericht: Krisenbetroffene und Krisenwahrnehmung. Koln 1981; ders. (Hg.): "Die Arbeitslosen, die konnt' ich aile erschie&n." Arbeiterbewu~tsein in der Wirtschaftskrise II. Kaln 1984) und in einen eigenen Bezugsrahmen gestellt. In der Arbeit an dem Projekt "Arbeitsorientierungen von Jugendlichen" haben sich die theoretischen und methodologischen Reflexionen, die im Rahmen des Projekts "Arbeiterbewu~tsein in der Wirtschaftskrise" angestellt wurden, als iiberaus frucht bar erwiesen (vgl. Rainer Zoll: "Hauptsache, ich habe meine Arbeit." Krisenangst und Identitat von Arbeitern. Frankfurt 1984). -Die Forschergruppe bestand aus Henri Bents, Heinz Brauer, Hans-Hermann Braune, Jutta Flieger, Enno Neumann, Mechtild Oechsle und Rainer Zoll. Der Untersuchungsbericht "Nicht so wie unsere Eltern -Ein neues kulturelles Modell?" ist 1989 im Westdeutschen Verlag Opladen erschienen. 12 Rainer Zoll ist es genau das , was sich im Verlauf der Interpretation des empirischen Materi als immer unabweisbarer herausstellte. Vor unseren Augen vollzieht sich ein grundlegender soziokultureller Wandel, der beginnt, das alte kulturelle Modell in den Landern seiner Entstehung und ersten Verbreitung genau in dem Augenblick abzul6sen, in dem es sich weltweit tiberhaupt erst richtig ausbreitet und in vie len Landern am Anfang seiner Durchsetzung steht. In der Bundesrepublik ist der Wandel spatestens seit Mitte der 80er Jahre bei den Jugendlichen festzustellen. Sie selbst driicken ihn oft mit dem Satz aus: "Wir wollen nicht leben wie unsere Eltern:" Nun k6nnte gemeint werden, die ser Satz bezeichne nur den traditionellen Gegensatz zwischen den Generatio nen, die Jugendlichen ben6tigten ihre Eltern als Widerstand, an dem sie sich reiben, sich abarbeiten k6nnten auf ihrem Weg zur eigenen Identitat. Eine ge nauere Interpretation dieses Satzes zeigt aber, daB es den Jugendlichen nicht urn ihre sozialen und affektiven Beziehungen zu ihren Eltern geht; die k6nnen gut oder schlecht sein, sie spielen aber fur das hier Gemeinte gar keine Rolle; es geht auch nicht urn die Eltern des jeweils Sprechenden, sondern mit "unseren Eltern" wird zumeist eine Generation bezeichnet; auf jeden Fall ist es eine weit tiber die eigene Familie hinausgehende Verallgemeinerung. Mehr noch, es geht nicht urn die Beziehung zu dieser Generation, sondern urn ein U rteil tiber die Lebenspraxis, den Lebensstil der verallgemeinerten Eltern: "So, wie sie gelebt ha ben und leben, wollen wir nicht Ie ben ". Die Krise des alten kulturellen Modells wird von Soziologen unter dem Stich wort 'Krise der Normalitat' diskutiert. Diese Diskussion geht von der Deregu lierung objektiver Strukturen wie zum Beispiel der Normalarbeitszeit und dem Normalarbeitsverhaltnis aus. Fragmentierung, Flexibilisierung und Differenzie rung verandern diesen Aspekt der Normalitat. Die Krise der Normalbiographie bezeichnet dagegen einen subjektiven Aspekt der Aufl6sung von Normalitat: Zwar werden immer noch S6hne von angelernten Arbeitern Facharbeiter und S6hne von Facharbeitern werden Techniker oder Ingenieure. Aber was gestern noch als allgemeine Regel galt, ist heute keine Norm mehr: Der Facher der be ruflichen M6glichkeiten ist weit ge6ffnet, und zugleich sind die Chancen eines beruflichen Erfolges auBerordentlich prekar geworden. Die meisten Jugendli chen sind heute nicht mehr in der Lage, einen Beruf zu wahlen, akzeptieren ihn mehr oder minder widerwillig, weil das Arbeitsamt, die Eltern oder eine andere Instanz ihnen rat, diesen Beruf zu lernen oderlund auszuuben. Vor der Krise der Normalitat war die Perspektive einer beruflichen Entscheidung in der Regel immer sehr langfristig. Es herrschte die Vorstellung vor, daB es eine Entschei dung fur das Leben war. Heute sagen uns die Jugendlichen, daB sie in einigen Jahren einen anderen Beruf ausuben wollen. Das hangt naturlich auch damit zu sammen, daB nur eine kleine Minderheit in der Lage ist, ihren Traumberuf, den sie fast aile im Kopf haben, zu lernen und auszuuben.

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