Ein kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Beitrag zur Genese der prähistorischen Ar- chäologie am Beispiel zeitgenössischer Quel- len. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philo- sophie des Fachbereichs der Kunst-, Orient- und Altertumswis- senschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. vorgelegt von Ulf F. Ickerodt (Bonn 2004) urn:nbn:de:gbv:3-000010238 [http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=nbn%3Ade%3Agbv%3A3-000010238] 1. Berichterstatter Prof. Dr. F. Bertemes (Halle) 2. Berichterstatter Prof. Dr. W. Henke (Mainz) Tag der mündlichen Prüfung 9. Mai 2005 Band 1 Textteil Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ………….. 1 Inhaltsverzeichnis Tabellen ………….. 3 1. Einleitung ………….. 4 1.1. Gesellschaftliche Dimension der prähistorischen Archäologie ………..... 6 1.2. Methodische Überlegung ………..... 8 1.3. Untersuchungsobjekt ………..... 10 1.4. Quellenmaterial ………..... 10 1.5. Auswertung ………..... 12 1.5.1. Motive ………..... 13 1.5.2. Genres ………..... 15 1.6. Aufbau ………..... 19 2. Weg der prähistorischen Archäologie in Wissenschaft und Alltagskul- tur ………..... 21 2.1. Spurensuche ………..... 22 2.1.1. Funde ………..... 23 2.1.2. Befunde ………..... 24 2.1.3. Moderne Archäologie auf dem Weg zur Alltagskultur ………..... 27 2.1.4. Das Spurensuche-Paradigma ………..... 28 2.1.5. Archäologie als soziales Phänomen ………..... 32 2.2. Entzauberung der Welt ………..... 37 2.2.1. Kulturhistorischer Rahmen ………..... 37 2.2.2. Europäisches Fortschrittsdenken ………..... 40 2.2.3. Typologisches Denken ………..... 46 2.2.4. Sprachliche Verfestigung ………..... 49 3. Veränderung der westlichen Raum-Zeit-Wahrnehmung und ihre ge- sellschaftliche Auswirkung ………..... 51 3.1. Entdeckung und Ausdehnung des Raums ………..... 52 3.1.1. Das Schöne Denkmal als Ausdruck veränderter Raum-Zeit- Wahrnehmung ………..... 53 3.1.2. Umgang mit fremden Kulturen ………..... 55 3.1.2.1. Menschen der Neuen Welt (Mittelalter bis Mitte 19. Jahrhundert) ………..... 55 3.1.2.2. Viktorianische Wende (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahr- hundert) ………..... 58 3.1.2.3. Wilde, Primitive, Peripatetiker (Mitte 20. Jahrhun- dert) ………..... 61 3.1.2.4. Treffen mit dem Anderen (1970er Jahre) ………..... 63 3.1.3. Analyse der gesellschaftlichen Fremdwahrnehmung ………..... 65 3.1.3.1. Lost Worlds ………..... 65 3.1.3.2. Eroberungen ………..... 69 3.2. Zeitpfeil ………..... 72 3.2.1. Kultur und Zeit ………..... 72 3.2.2. Kulturelle Eigenzeit ………..... 75 3.2.3. Wandel der abendländischen Zeitvorstellung ………..... 76 3.2.4. Erfindung der Tiefenzeit ………..... 81 3.2.5. Evolutionistische und evolutionäre Konsequenzen ………..... 84 3.3. Zeitreise ………..... 87 3.3.1. Reisen in die Vergangenheit ………..... 88 3.3.2. Das Selbst ………..... 91 1 Inhaltsverzeichnis 3.3.3. Das Andere ………..... 99 3.3.4. Die Hadza und andere Menschen einer anderen Zeit ………..... 102 3.3.5. Der Relationsdiminuitiv ………..... 105 4. Gesellschaftlicher Einfluss auf die prähistorisch-archäologische Inter- pretation ………..... 108 4.1. Deutung und historische Realität ………..... 109 4.1.1. Archäologische Interpretation als Bestandteil der Alltags- kultur ………..... 110 4.1.2. Zur Authentizität prähistorisch-archäologischer Deutung ………..... 114 4.1.3. Teleologisches Denken als Basis prähistorischer Interpreta- ………..... 120 tion 4.2. Evolution und Devolution ………..... 125 4.2.1. Fortschritt – Wohin? ………..... 128 4.2.2. Typologisches Denken – Aufstrebendes Denken ………..... 135 4.2.3. Der Mythos vom Supermann ………..... 139 4.2.4. Geißeln der Vergangenheit – Monsters on the Loose ………..... 143 4.2.5. Einsame Barbaren ………..... 145 5. Integrative Wirkung der prähistorischen Forschung in ihrer mentali- tätsgeschichtlichen Dimension ………..... 149 5.1. Bilder von Archäologen ………..... 150 5.1.1. Gründungsmythos der Moderne – westliches Ursprungs- denken ………..... 151 5.1.2. Die prosoziale Wirkung des Archäologen-Bildes – gesell- schaftlicher Differenzierungsprozess ………..... 155 5.1.2.1. Filmarchäologen ………..... 155 5.1.2.2. Gestalten, die Karl May erfunden haben könnte – be- rühmte Archäologen ………..... 167 5.1.3. Ersatzverzauberung – europäischer Rationalismusprozess ………..... 172 5.1.3.1. Im Grab der Mumie ………..... 175 5.1.3.2. Götterastronauten ………..... 178 5.2. Bilder von Urmenschen ………..... 182 5.2.1. Aitiologischer Mythos Urmensch ………..... 183 5.2.2. Urmenschen-Image ………..... 187 5.2.3. Die prosoziale Wirkung des Urmenschen-Bildes am Bei- spiel seiner Thematisierung in Literatur und Film ………..... 195 5.2.3.1. 1861 bis 1918 (Phase I) ………..... 195 5.2.3.2. 1919 bis 1945 (Phase II) ………..... 201 5.2.3.3. 1946 bis 1980 (Phase III) ………..... 202 5.2.3.4. 1981 bis 2000 (Phase IV) ………..... 206 5.2.4. Kannibalen ………..... 209 6. Zusammenfassung ………..... 216 6.1. Zusammenfassende Schlussbetrachtung ………..... 217 6.2. Danksagung ………..... 222 7. Literaturnachweis ………..... 223 2 Inhaltsverzeichnis Tabellen Inhaltsverzeichnis Tabellen 1 Gesamtaufkommen des Motivs der Spurensicherung im SPIEGEL nach Kat.20. ……….. 26 2 Archäologen als Detektive, Detektive als Archäologen nach Kat.4.2. ……….. 31 3 Gesamtaufkommen des Motivs der Zeitreise im SPIEGEL nach Kat.13.1. ……….. 89 4 Gesamtaufkommen des Motivs der Antikenrückführung im SPIEGEL nach Kat.13.1 und Art-Das Kunstmagazin nach Kat.14. ……….. 93 5 Das Motiv der Fälschungen im SPIEGEL nach Kat.13.1. ……….. 96 6 Gesamtaufkommen der das Thema der Fälschungen betreffenden Fachliteratur Kat.21. ……….. 96 7 Gesamtaufkommen des Schatz-Motivs im SPIEGEL nach Kat.13.1. ……….. 159 8 Aufkommen der Motive Archäologe, Paläontologe, Geologe usw. nach Kat.12.3.1a. bis 12.3.5. ……….. 163 9 Die transzendentale Verarbeitung von Archäologie am Beispiel der Moewig-Serie Mysterien und Monumente. ……….. 174 10 Aufkommen der Motive Mumien, okkulte Tradition und Wiedergeburt nach Kat.12.3.1a und 13.1. ……….. 177 11 Anzahl der weltweiten Produktionen von Urmenschen-Fiktion zwischen 1861 bis 1918. ……….. 199 12 Produktion von Urmenschen-Fiktion und -Film zwischen 1918 bis 1945. ……….. 201 13 Der Urmenschen-Film nach Genre durch die Zeit. ……….. 203 14 Produktion von Urmenschen-Fiktion, -Film und -Comic von 1945 bis 1980. ……….. 204 15 Gesamtproduktion von Urmenschen-Fiktion, -Film und -Comic (absolut und in Prozent). ……….. 207 16 Produktion von Urmenschen-Fiktion, -Film und -Comic von Phase I und II (1981-2000). ……….. 207 17 Produktion der den Paläoindianer thematisierenden literarischen Fiktion insgesamt und nach Geschlecht der Autoren. ……….. 208 18 Produktion der Urmenschen-Fiktion in Phase IV nach Geschlecht der Autoren. ……….. 208 19 Aufkommen des Kannibalen-Motivs nach Dekaden. ……….. 212 20 Auf dem archäologischen Paradigma basierende soziale Leitbilder. ……….. 218 3 1. Einleitung 1. Einleitung „We are told by men of science that all the ventures of mariners on the sea, all that counter-marching of tribes and races that confounds old history with its dust and rumour, sprang from nothing more abstruse than the law of supply and demand, and a certain natural in- stinct for cheap rations.“ Robert L. Stevenson, Will o’the Mill. (1878) Was ist prähistorische Archäologie? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Prä- historische Archäologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, Bestandteil des universitä- ren Kanons unserer Tage. Sicherlich, aber nicht nur. Prähistorische Archäologie ist viel mehr als nur eine rein akademische Disziplin. Sie prägt unsere heutige westliche Alltagskultur im hohen Maße und durchzieht viele Be- reiche des gesellschaftlichen Lebens. Neben ihrer Bedeutung als moderne Wissenschaft hat sie unbestritten hohe Relevanz für die gesellschaftliche Realität unserer Gegenwart. Somit ist sie v.a. auch ein soziales und gesellschaftliches Phänomen und zielt als histo- rische Disziplin direkt auf die gemeinsam von einer Gesellschaft zu entwerfende Wir- Identität sowie die sich hierauf berufenden Rollenidentitäten ab. Warum hat, trotz historischer und prähistorischer Vorläufer, ausgerechnet das 19. Jahr- hundert die prähistorische Archäologie hervorgebracht? Und warum wird sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der Alltagskultur? Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel dieser Arbeit, die Wechselwirkung des gesell- schaftlichen Einflusses auf die archäologische Interpretation einerseits sowie des Rück- flusses archäologischer Erkenntnis in die jeweilige gesellschaftliche Alltagskultur ande- rerseits zu erkennen. Diese wechselseitige Beeinflussung muss dabei in ihrer histori- schen Dimension verstanden werden, ohne dass es sich bei dieser Betrachtung von Sei- ten der archäologischen Forschung um einen reinen kulturhistorischen Akt der Selbst- versicherung handelt. Ein Rückblick auf die historischen Prozesse, die zur Entstehung der modernen wissenschaftlichen Archäologie geführt haben, muss mehr als das leisten. Das Ziel muss es sein, eine kulturhistorische und mentalitätsgeschichtliche Betrachtung und Bewertung der Genese der prähistorischen Archäologie am Beispiel zeitgenössi- scher, sowohl wissenschaftlicher als auch populärer Quellen vorzunehmen. Während diese Thematik auf dem Gebiet der nationalen Archäologien wahrgenommen und extensiv behandelt wird, so ist die gesellschaftliche Besetzung archäologischer The- men und Organisationen in der Alltagskultur weitgehend unerforscht. Sie wurde in der Vergangenheit teilweise sogar bewusst infolge der atheoretischen Ausrichtung ins- 1. Einleitung besondere der deutschen prähistorischen Forschung nach 1945 als irrelevant zunächst aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen (s.a. Härke 1989; Müller 1998). Mit dieser Grundhaltung verzichtet man jedoch – damals wie auch heute noch – auf die wissenschaftlichen Grundlagen, die für eine selbstreflexive prähistorische Archäologie und den sich daraus ergebenden didaktischen Konsequenzen vonnöten sind. Nach Bernbeck (Kat.2 1997:314) setzt Anfang der 1980er Jahre eine Kehrtwende in der theoretischen Archäologie ein. Man versucht nun, die politischen Auswirkungen der eigenen Arbeit zu hinterfragen1. Diese Herangehensweise zielt auf zwei Diskussions- ebenen der archäologischen Forschung ab. Die eine bezieht sich auf die ideologische Nutzung der Vergangenheit durch Nicht-Wissenschaftler, also auf die Vergesellschaf- tung der prähistorischen Forschung. Die andere untersucht den gesellschaftlichen Ein- fluss auf den Wissenschaftler selbst. Beide Ebenen sind wesentliche Bestandteile einer selbstreflexiven prähistorischen Forschung und zielen auf ein kulturell determiniertes Denken ab. Dieses wird wissenschaftlich immer als wohlbegründetes Denken (Rü- sen 1983) wahrgenommen, da es letztendlich im Rahmen der eigenen Sozialisation er- worben wird. Diese Ausrichtung der prähistorisch-archäologischen Forschung, die man als politische Archäologie bezeichnen könnte, erfreut sich seit ihrem Aufkommen in den 1980er Jah- ren zwar einer weitverbreiteten Akzeptanz, nichtsdestotrotz wird ihre Relevanz in der archäologischen „Alltagsarbeit“ bisweilen gar nicht erkannt. In der Tradition der politi- schen Archäologie stehend, will diese Arbeit die kulturelle die Tragweite bzw. die Auswirkung prähistorischer Forschung thematisieren. Daher greift sie, eine neue Per- spektive einnehmend, populäre und wissenschaftliche Quellen in ihrem historischen Rahmen auf. 1 Bernbecks Darstellung (Kat.2 1997:315) zufolge geht dieser Ansatz auf Leone, Potter und Shackel (1987) zurück (vgl. Kat.2). In die gleiche Richtung geht die postprozessuale Archäologie, die eben in der Analyse des politischen Rahmens, in dem prähistorische Archäologie stattfindet, einen Schwerpunkt sieht (Kat.2 Bernbeck & Sommer 1994:489). Diesen Prozess bezeichnen Shanks und Tilley (Kat.2 1987:187) als „The emergence of a critically self- conscious archaeology“. Ebenso urteilt auch Hodder (Kat.2 1986:165) über die postprozessuale Ar- chäologie: „Processual archaeology was not characterized by a detailed examination of the social con- texts of archaeologists, since the main emphasis was to be placed on independent testing of theories against ethnographic and archaeologic data. More recently, however, archaeologist have begun to show a greater interest in the subjectivity of the pasts we reconstruct in relation to contemporary power strategies (…).” 5 1. Einleitung 1.1 Gesellschaftliche Dimension der prähistorischen Archäologie Im folgenden Absatz des ersten Kapitels geht es darum, sowohl den thematischen Rah- men als auch den Standpunkt dieser Arbeit zu umreißen. Trotz all ihrer wissenschaftlich-methodischen Ansätze und analytischen Facetten ist die prähistorische Archäologie eine Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Vergangen- heit. Sie ist das Ergebnis des sich seit dem Humanismus und der Renaissance ausbil- denden wissenschaftlichen Paradigmas, welches in der Suche nach immer exakteren Erklärungsmustern für die Phänomene der belebten und unbelebten Welt wurzelt. Mit Hilfe der prähistorisch-archäologischen Erkenntnis entledigt man sich der mythologi- schen und metaphysischen Fesseln des Mittelalters2. Prähistorische Archäologie wird in der Selbstwahrnehmung zum Wegbereiter des Rationalen und damit zur Antithese des Transzendentalen3. Dieser Prozess steht für die sich mit der Neuzeit entwickelnde, auf Kausalitäten beruhende Umweltwahrnehmung, die ihrerseits eschatologische Modelle sukzessive ersetzt. Warum aber konstituiert sich eine wissenschaftliche prähistorische Archäologie metho- disch und fachlich erst im 19. Jahrhundert, obwohl ihre vorwissenschaftlichen Wurzeln deutlich älter sind und mindestens bis ins Mittelalter, wenn nicht darüber hinaus rei- chen4 (Kat.5)? Die wissenschaftliche prähistorische Archäologie ist die logische Reaktion auf die so- ziokulturellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Ihre gesellschaftliche Relevanz ist – um es in marxistischer Terminologie zu sagen – im ideologischen Überbau zu suchen und steht für einen gesamtgesellschaftlichen Mentalitätswandel. Im Kern beruht er auf der Ausbildung einer neuen Wirtschaftsform, deren tragende politische Modelle der Liberalismus und der Evolutionismus nebst Sozialdarwinismus sind. Der hiermit ein- hergehende innergesellschaftliche und metastaatliche Differenzierungsprozess führt vor 2 Vgl. z.B. Eggers 1986:9-10, 26; Eggert 2001:11; Müller-Beck 1998:18; 22-32; Schlette 1985:70; dazu auch Gould (1992) mit Blick auf die Ausbildung der modernen Geologie und Abel (1923) auf die Palä- ontologie. 3 Hier offenbart sich komprimiert die Qualität der Ursprungsfrage in der Säkulargesellschaft. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang auf die im Rahmen der Darwin College Lectures gehaltene interdiszi- plinäre Vortragreihe Origins verwiesen werden. Namhafte Autoren der unterschiedlichsten Fakultäten widmen sich diesem Thema, Gellner (Ethnologe), Smith (Biologe), Pilbeam (Anthropologe), Rees (Astronom), u.a. (Fabian 1988). In die gleiche Richtung weisen auch Leakeys und Lewins Übersicht zur Entstehung des modernen Menschen Origins (1977) bzw. der Folgeband Origins Reconsidered (1992), Leakeys The Origin of Humankind (1994) sowie der Titel Die vergessenen Vorfahren der deutschen Übersetzung von Kenne- dys (1996) Hidden Cities. 4 Vgl. z.B. Eggers 1986:25-32; Gummel 1938:6; Kaufmann & Kaufmann 2001; Piggott 1937; ders. 1985; ders. 1989; Schnapp 1996; Stemmermann 1934. 6 1. Einleitung dem Hintergrund einer zunehmenden Globalisierung zu einer völlig neuartigen Raum- Zeit-Wahrnehmung, die auf Entdeckung und Historisierung der Landschaft beruht. Da- mit einhergehend kommt es zu einer zunehmenden Individualisierung des Okzidents, die neue kulturelle Motive bei der politisch-historischen Sozialisation benötigt (vgl. Süssmuth 1980:36-44). Diese spezielle Form der Instrumentalisierung der Vergangenheit ist auch heute noch in unserer westlichen Gesellschaft nur allzu offensichtlich. Wir versuchen, die Urform eines Stoffes oder eines Motivs zu ergründen. Die Urfassung eines Stückes, Bildes oder Liedes ist das Maß der Dinge. Die Urlesung sowie die Uraufführung markieren den be- deutendsten Augenblick in der Rezeptionsgeschichte eines Werkes. Aus der gleichen Motivation heraus suchen wir mit Hilfe der Archäologien auch nach dem Ursprung von Kultur. Prähistorische Archäologie wird zum Ausdruck eines gesellschaftlichen Bedürf- nisses nach der Auseinandersetzung mit der eigenen „Vorgeschichte“ im Sinne eines Preludes. Damit ist sie gleichzeitig Produkt der gesellschaftlich geforderten Suche nach dem eigenen Ursprung. Ausdruck hierfür ist die sprachliche Verarbeitung des archäolo- gischen Paradigmas sowohl in der Volkskultur (Kat.1.1&1.2 Nr.10) als auch innerhalb des wissenschaftlichen Selbstdifferenzierungsprozesses (Kat.1.2). Die Vorgeschichtsforschung wirkt gesellschaftlich integrierend, indem sie Bilder kultu- reller Statik in einer vom unablässigen Wandel geprägten Umwelt suggeriert. Abwei- chungen vom scheinbar Ursprünglichen werden dadurch geradezu als negativ empfun- den. Diese Haltung entspricht Hobsbawms (1994; 1998:99) erfundenen Traditionen, die – entsprechend der tatsächlich kolportierten Traditionen – Unveränderlichkeit als Ziel und Merkmal beinhalten. Sie sollen auch beim Neuen den Anschein der Bewahrung erwecken (Valjavec 1988:478). Diese scheinbare, gesellschaftlich konstruierte Statik erweist sich für uns als zwingend notwendig, um in Zeiten wachsender gesellschaftli- cher Dynamik in einer im Fortschrittsdenken verhafteten Gesellschaftsform, die erfor- derlichen Wandlungsfaktoren angemessen erklären und legitimieren zu können. Archäologie ist damit ein spezifisches Phänomen des Abendlandes, dessen weltweite Relevanz bewusst hinterfragt werden muss. Diese Zweifel an der globalen Geltung des archäologischen Paradigmas entsprechen denen, die der Historiker Salewski mit Blick auf die sich gleichsam im 19. Jahrhundert konstituierende moderne Geschichtsschrei- bung auf den Punkt bringt: „Folglich kann der Mensch nicht ohne Geschichte5, wohl aber ohne Geschichtsschreibung auskommen. (…) Menschliches Leben hat durch 5 Der Begriff der Tradition erscheint in diesem Zusammenhang als die adäquatere Wortwahl. 7
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