Klappentext: Das »Personal« dieses Romans ist alles andere als ein idyllisches Häufl ein »guter Wilder«. Ein Reporter, der im Auftrag eines Londoner Konzernlords sich in einem Archipel an der Peripherie des britischen Kolonialreichs nach möglichen Ölkonzessionen umsieht, strandet als Schiffbrüchiger am Dschungelufer der Insel Pala. Die Familie des Arztes Dr. MacPhail pfl egt den Verletzten und weist ihn in die geistige Welt der Inselbewohner ein. Bald ist er ein so gelehriger Schüler, daß ihm die ehrgeizige Rani, Regentin für ihr ein wenig zu hübsches Söhnchen, das in der Schweiz zu einem jungen Snob herangezüchtet wurde, als eine Gefahr für Pala erscheint. Auch von der westlich »zivilisierten« Nachbarinsel drohen schädliche Einfl üsse. Wie sich das kleine Utopia zu behaupten sucht, schildert Huxley mit liebevollem Humor und ernsthaftem Engage ment für sein positives Modell. Huxleys letzter Roman Eiland gehört einer sehr seltenen literarischen Gattung an: Es ist der Roman einer positiven Utopie. Während die großen gesellschafts-utopischen Romane dieses Jahrhunderts, unter denen Huxleys eigene Schöne Neue Welt neben Orwells 1984 und Samjatins Wir wohl der bedeutendste ist, vornehmlich beängstigende technisch-totali täre Welten schildern, will dieser Roman das Bild einer menschenfreundlichen Gemein schaft entwerfen. Auf dem blühenden tropi schen Eiland, dem utopischen Nirgendwo, leben Menschen, die sich nicht nur zu den Prinzipien des Guten und der Freiheit be kennen, sondern sie auch anzuwenden wissen. Die Voraussetzung dafür ist die Verbin dung von abendländisch-rationalen Erkennt nissen und meditativer Praxis der Lehren des tantrischen Buddhismus. Ratio und Mystik vereinigen sich mit den bewußtseinserwei ternden Erfahrungen des Drogengenusses zu einer praktischen Philosophie, die die Ent faltung des Einzelnen bei größter Rücksichtsnahme auf den anderen lenkt. Eiland: ein philosophischer Roman, aber zu gleich ein Gesellschaftsroman von bestechen der Eleganz, unterhaltend und pointiert, bei allem Bekenntnis voll irdischer Distanz, bril lant in der Verbindung des Sprachschatzes jahrtausendealter östlicher Lebenslehren mit dem Konversationsstil des urbanen Literaten. Aldous Huxley, geboren 1894 in Surrey. Er wurde in Eton erzogen und ging dann, nach einer schweren Augenkrankheit, nach Oxford, wo er sich mit einer Arbeit über englische Literatur habilitierte. Von 1919 an arbeitete er als Journalist und Kritiker und veröffent lichte erste liter arische Werke. Seit 1938 lebte er in Kalifornien. 1963 starb er in Holly wood. ALDOUS HUXLEY EILAND ROMAN R. PIPER & CO VERLAG MÜNCHEN Aus dem Englischen von Marlys Herlitschka Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Island« bei Chatto & Windus, London. ISBN 3-492-01993-5 © Laura Huxley, 1962 Deutsche Ausgabe: © R. Piper & Co. Verlag, München 1973 Gesetzt aus Adobe InDesign 2.0 ;-) Gesamtherstellung: Hieronymus Mühlberger, Augsburg Printed in Germany FÜR LAURA Wann immer wir uns ein Ideal formen, soll es ganz unserm Wunschbild entsprechen, doch hüten wir uns vor dem Unerfüllbaren. ARISTOTELES Back-Cover: »Stell dir vor«, sagte Will, »ich hab noch nie ein Kind auf die Welt kommen sehn.« »Nein?« Ihre Stimme klang verwundert. »Nicht ein mal, als du zur Schule gegangen bist?« Will hatte eine Vision seines Schuldirektors in voller Amtstracht, wie er mit dreihundert schwarzberockten Jungens eine Runde durch die Gebärklinik machte. »Nicht einmal, als ich zur Schule ging«, wied erholte er bestätigend. »Du hast nie jemand sterben sehn und hast auch nie gesehn, wie ein Kind auf die Welt kommt. Wie hast du dann alles kennengelernt, was man kennen soll?« »Bei uns in der Schule haben wir nie etwas kennen gelernt«, sagte er. »Die haben uns nur mit Wörtern bekannt gemacht.« Die Kleine sah kopfschüttelnd zu ihm auf, hob die kleine braune Hand und tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Verrückt«, sagte sie. »Oder hast du bloß ganz besonders dumme Lehrer gehabt?« ERSTES KAPITEL »Gib acht«, rief eine Stimme, und es klang, als hätte eine Oboe plötzlich zu sprechen begonnen. »Gib acht«, wiederholte sie in demselben nasal eintönigen Ton. »Gib acht.« Wie ein Leichnam in dem Haufen dürrer Blätter liegend, mit verfi lztem Haar, das Gesicht grotesk verschmiert und abge schürft, die Kleider zerfetzt und schlammverkrustet, fuhr Will Farnaby aus dem Schlaf hoch. Molly hatte gerufen. Er mußte aufstehn. Sich ankleiden. Durfte nicht zu spät ins Büro kom men. »Dank dir, Liebste«, sagte er und setzte sich auf. Ein schnei dender Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie, und im Rücken, in den Armen, hinter der Stirn verspürte er noch andere Schmerzgefühle. »Gib acht«, sagte die Stimme beharrlich, ohne daß sich ihr Ton im geringsten verändert hätte. Auf den einen Ellbogen ge stützt, blickte Will umher; verwirrt sah er statt der grauen Ta pete und gelben Vorhänge seines Londoner Schlafzimmers eine Lichtung zwischen Bäumen und die langen Schatten und schrä gen Sonnenstrahlen eines frühen Morgens im Wald. »Gib acht.« Was sollte dieses »Gib acht«? »Gib acht, gib acht«, beharrte die Stimme - auf dieselbe selt same, sinnlose Weise. »Molly?« sagte er fragend. »Molly?« Der Name schien ein Fenster in seinem Kopf zu öffnen. Plötz lich, - 8 - mit diesem gräßlich vertrauten Schuldgefühl in der Magen grube, roch er wieder Formalin, sah er die kleine energische Krankenschwester ihm eilig durch den grünen Korridor vorangehn, hörte er das trockene Rascheln ihrer gestärkten Tracht. »Nummer fünfundfünfzig«, sagte sie, blieb stehn und öffnete eine weiße Tür. Er trat ein und sah Molly auf einem hohenweißen Bett liegen, das halbe Gesicht bedeckt von einem Ver band, den Mund weit offen, mit klaffendem Unterkiefer. »Molly«, hatte er gerufen, »Molly . . .« Die Stimme brach ihm, und er weinte jetzt, er fl ehte: »Mein Liebes!« Es kam keine Ant wort. Durch den klaffenden Mund drangen geräuschvoll die kur zen, stoßweisen Atemzüge. »Mein Liebstes, mein Liebstes . . .« Und mit einemmal wurde die Hand, die er hielt, für einen Au genblick lebendig. Lag dann wieder still. »Ich bin‘s«, sagte er, »ich - Will.« Abermals bewegten sich die Finger. Langsam, mit einer offenbar ungeheuren Anstrengung schlössen sie sich um die seinen, drück ten sie und erschlafften wieder. »Gib acht«, rief die so gar nicht menschliche Stimme, »gib acht.« Es war ein Unfall gewesen, beteuerte er sich hastig. Die Straße war naß, der Wagen schlitterte über die weiße Linie hinaus. Einer dieser Unfälle, wie sie sich immer wieder ereignen. Die Zeitungen waren voll davon; er selber hatte oft und oft darüber berichtet. »Mutter und drei Kinder bei Zusammenprall getö tet.« Aber darauf kam es nicht an. Es kam darauf an, daß er ja gesagt hatte auf ihre Frage, ob es wirklich das Ende bedeute; es kam darauf an, daß sie, kaum eine Stunde später, nachdem sie von jener letzten, so sehr beschämenden Unterredung in den Regen hinausgegangen war, im Krankenwagen lag, und im Ster ben. Er hatte sie nicht angesehen, als sie sich zum Gehn wandte, hatte es nicht gewagt. Noch einen Blick auf dieses blasse leidende Ge sicht hätte er nicht ertragen können. Sie war von dem Stuhl auf gestanden und langsam durchs Zimmer gegangen, war langsam aus seinem - 9 - Leben hinausgegangen. Sollte er sie nicht zurückru fen, sie um Verzeihung bitten, ihr sagen, daß er sie noch immer liebte? Hatte er sie je geliebt? Zum hundertstenmal rief die artikulierte Oboe ihm ihr »Gib acht« zu. Ja, hatte er Molly je wirklich geliebt? »Leb wohl, Will.« In der Erinnerung hörte er sie es fl üstern, als sie sich auf der Schwelle nochmals umwandte. Und dann war sie es gewesen, die es sagte - leise, aus tiefstem Herzen. »Ich hab dich noch immer lieb, Will - trotz allem.« Gleich darauf schloß sich die Wohnungstür fast geräuschlos hinter ihr. Das knappe, leise Einschnappen des Schlosses, und sie war gegangen. Er war aufgesprungen und rannte ihr nach, öffnete die Tür und horchte auf ihre Schritte, die sich die Treppe hinunter entfernten. Wie ein Geist beim Hahnenschrei verweilte noch ein schwaches vertrautes Parfüm zerfl ießend in der Luft. Er schloß die Tür, ging in sein grau- und gelbfarbenes Schlafzimmer und blickte aus dem Fenster. Sekunden später sah er sie den Gehsteig über queren. Er hörte das bohrende Geräusch des Anlassers, einmal, zweimal, und dann das Aufheulen des Motors. Sollte er das Fenster öffnen? »Warte, Molly, warte«, hörte er sich in der Einbildung rufen. Das Fenster blieb geschlossen; der Wagen fuhr an, bog um die Ecke, die Straße war wieder leer. Es war zu spät. Zu spät, gottlob! sagte eine barsche, höhnische Stimme. Ja, gott lob! Und dennoch, das Bewußtsein seiner Schuld verblieb, saß ihm tief in der Magengrube. Seine Schuld, die nagende Reue - aber durch die hindurch konnte er auch ein gräßliches Jubelge fühl verspüren. Jemand gemeiner, geiler, brutaler, jemand, der ihm fremd war und hassenswert und der dennoch er selber war, frohlockte, daß ihn nun nichts mehr daran hindern konnte zu haben, was er haben wollte. Und was er wollte, war ein ande res Parfüm, war die Wärme und Geschmeidigkeit eines jünge ren Körpers. »Gib acht«, sagte die Oboe. Ja, gib acht, sei ge wahr. Dessen gewahr sein, wenn er sich in - 10 - Babs‘ schwül duften dem Schlafzimmer befand mit der erdbeerroten Bettnische und den zwei Fenstern auf die Charing Cross Road, durch deren Scheiben die ganze Nacht die riesige Dachreklame für Porter‘s Gin vom Haus gegenüber hereinblickte. Gin in königlichem Pur pur - und zehn Sekunden lang war die Bettnische das heilige Herz, zehn wundervolle Sekunden lang erglühte das angefl amm te Gesicht neben ihm wie das eines Seraphs, verklärt wie von einem inneren Feuer der Liebe. Dann kam die noch tiefere Ver klärung durch Dunkelheit. Eins, zwei, drei, vier . . . O Gott, laß es ewig dauern! Aber pünktlich bei zehn schaltete das elektri sche Uhrwerk auf eine andere Offenbarung um - diesmal je doch eine des Todes, des Ur-Grauens; denn nun war das Licht grün, und zehn grausige Sekunden lang wurde Babs‘ rosiger Alkoven zu einem Schoß aus Schlamm und der Leib auf dem Bett leichenhaft fahl, ein zu postumer Epilepsie galvanisierter Kadaver. Wenn Porter‘s Gin sich in Grün proklamierte, ließ sich schwer vergessen, was geschehen war, und wer man war. Da gab es nur eins: die Augen schließen und, falls es einem gelang, sich noch tiefer in jene andere Welt der Sinnenlust zu stürzen, sich leidenschaftlich und voll bewußt in jene entfremdenden Rase reien zu stürzen, denen die arme Molly (jetzt in ihrem feuchten Grab in Highgate - weshalb man jedesmal die Augen schlie ßen mußte, wenn das grüne Licht aus Babs‘ nacktem Leib einen Leichnam machte) immer und so völlig verständnislos gegenüber gewesen war. Und nicht nur Molly. Hinter den geschlossenen Lidern sah Will seine Mutter, das Gesicht blaß wie eine Kamee, vergeistigt von hingenommenem Leid, die Hände durch Arthritis unförmig und kaum mehr menschlich. Seine Mutter und Maud, seine Schwester, die hinter deren Rollstuhl stand, schon etwas in die Breite gegangen und schwabblig wie Gallerte von all den Gefühlen, die nie ihren richtigen Ausdruck im vollzogenen Lieb esakt gefunden hatten. »Wie kannst du nur, Will!« »Ja, wie kannst du nur«, sekundierte Maud, die vibrierende Altstimme tränenumfl ort. - 11 -