Magazin erwachsenenbildung.at Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs www.erwachsenenbildung.at/magazin Ausgabe 7/ 8, 2009 Theorie und Forschung Facettenreich, traditionsbewusst und innovativ Die (eigene) Geschichte als aktiver Lernweg Über die Möglichkeiten der Biographie- forschung in der Erwachsenenbildung Rudolf Egger ISSN 1993-6818 (Online) Ein Produkt von www.erwachsenenbildung.at Erscheint 3x jährlich online Die (eigene) Geschichte als aktiver Lernweg Über die Möglichkeiten der Biographieforschung in der Erwachsenenbildung Rudolf Egger Rudolf Egger (2009): Die (eigene) Geschichte als aktiver Lernweg. Über die Möglichkeiten der Biographieforschung in der Erwachsenenbildung. In: MAGAZIN erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 7/8, 2009. Wien. Online im Internet: http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/09-7u8/meb09-7u8.pdf. Druck-Version: Books on Demand GmbH: Norderstedt. Schlagworte: Biographisches Lernen, Biographieforschung, Lebenswelt, qualitative Sozialforschung Abstract In diesem Artikel werden die Bedingungen und Möglichkeiten einer sozialwissenschaftli- chen „Bearbeitung“ ethnischer Konflikte im Rahmen eines Biographieforschung-Workshops an der Universität in Prishtina (Kosova) dargestellt. Der Workshop-Zyklus kann zeigen, wie erwachsenenbildnerisches (universitäres) Lernen in einem sozialen und biographischen Sinn bedeutsam wird. Dabei geht es nicht nur um situative Lernakte isolierter Individuen, sondern stets auch um Lernen als (Trans-)Formation von Erfahrungen, Wissen und Hand- lungsstrukturen im lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen Kontext. Lebensgeschich- ten (aus narrativen Interviews) werden dabei nach den Prinzipien narrationsstruktureller Methoden analysiert und auf die Geschichte der Lernenden bezogen. In der Bearbeitung der auftauchenden Fragestellungen lässt sich jenes sich bedingende Verhältnis von Aneig- nung und Bildung, von Vergangenheit und Zukunft, von Erbe und eigener Gestaltungskraft anschaulich als Lernfeld ausbreiten. 10 Die (eigene) Geschichte als aktiver Lernweg Über die Möglichkeiten der Biographieforschung in der Erwachsenenbildung Rudolf Egger Die Ansicht, dass Bildung nicht nur auf funktionale Qualifikationen und Kompetenzen abzielen sollte, sondern auch die Gestaltung von alltäglichen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Übergängen und Brüchen mit einschließt, hat in der Erwachsenenbildungspraxis und auch in der For- schung in den letzten Jahren bedeutsame Impulse ausgelöst. Das lebensgeschichtliche Lernen geht davon aus, Dausien 2002). Dabei stehen grundsätzliche Aneig- dass es, immer an den Kontext einer konkreten nungsbedingungen von Welt im Zentrum der Auf- Biographie gebunden, gleichzeitig die Bedingung merksamkeit, die sich vor allem durch so genannte für die Entwicklung lebensnaher und bedeutsamer „interpretative (qualitative) Verfahren“ erfassen Erfahrungsgestalten ist. Unser Wissen über dieses lassen. In der Erwachsenenbildungsliteratur gibt biographische Lernen im Lebensverlauf, über die es hier mittlerweile zahlreiche unterschiedliche zugrunde liegenden kulturellen, ökonomischen Zugänge, die von der Analyse von Autobiographien und sozialen Parameter, darüber, wie sich z.B. die (siehe Schulze 2005) über fokussierte Interviews verwickelten und risikovollen Statuspassagen und zum lebenslangen Lernen (siehe Kade/Seitter 1996) Übergänge in modernen Lebensläufen vollziehen bis hin zu rein narrativen (siehe Egger 1995) oder und welche Lernprozesse hier förderlich sind, ist auch ikonographischen Methoden (siehe Marotzki noch bescheiden. Auch ist über die impliziten 2006) reichen. Die entwickelten Verfahren (siehe Lernpotentiale von AkteurInnen z.B. im Umgang Felden 2008) umfassen zweckmäßige und innovative mit Veränderungen in der Familie, in Generatio- Instrumente, mittels derer charakteristische Merk- nenbeziehungen, in Alternsprozessen oder in den male von Lern- und Bildungsprozessen analysiert neuen virtuellen, medialen Räumen empirisch noch werden können. viel zu wenig bekannt. Das wesentliche und wertvolle Element der Biogra- Die empirische Hinwendung zu den sinngebunde- phieforschung innerhalb der empirischen Bildungs- nen Handlungen der Individuen und deren Ein- forschung liegt darin, dass wir konkret verstehen bindung in die interaktionellen, institutionellen lernen, wie Menschen über ihre Lebenszeit hinweg Kontexte und die unhintergehbare Intentionalität lernen, welche Lern(um)wege sie beschreiten, wie der Lernenden haben aber in den letzten beiden sie die verschiedenen (formellen und informel- Jahrzehnten zu einer lebensweltsensiblen, sozial len) Lernangebote je spezifisch zusammenstellen anschlussfähigen und didaktisch handlungslei- und wie sie diese mit subjektivem Sinn auffüllen. tenden Forschungspraxis geführt (siehe Alheit/ Methodologisch wesentlich ist dabei die soziale 10-2 Verankerung des Subjekts im Konzept Biographie, Studierenden (neben Studierenden aus Kosova um sowohl die „subjektive Aneignung der Gesell- nehmen StudentInnen verschiedenster Nationalität schaft“ als auch die „gesellschaftliche Konstitution daran teil) die Methodologie der qualitativen empi- von Subjektivität“ als dialektischen Prozess zu rischen Sozialforschung erlernen, um innerhalb nar- begreifen (siehe Alheit/Dausien 2000). Eine Unzahl rationsstruktureller Analysen von selbst erhobenen von Studien belegt die Wirksamkeit solcher Ansätze, Lebensgeschichten die Deutungsmuster der eigenen wenngleich eingeräumt werden muss, dass die Aus- Geschichte sozialwissenschaftlich kompetent zu arbeitung einer stringenten biographieorientierten erweitern. Nach einer ausgedehnten Einführung in Lerntheorie noch immer aussteht. die Prinzipien der Biographieforschung nach Fritz Schütze (siehe Schütze 1983 u. 1984; Egger 1995) Um die hierin liegenden didaktischen, wissenschaft- und der Grounded Theory (siehe Glaser/Strauss lichen, kulturellen und lebensweltlichen Möglich- 1967; Strauss/Corbin 1996) werden die Studieren- keiten zu demonstrieren, möchte ich kurz einen den beauftragt, InterviewpartnerInnen zu suchen universitären Workshop-Zyklus vorstellen, der zei- und biographische Interviews durchzuführen. Das gen kann, wie erwachsenenbildnerisches (universi- Problem der Transkription wird dadurch gelöst, täres) Lernen in einem sozialen und bio graphischen dass alle albanischen Texte unter Mithilfe eines Sinn bedeutsam wird. Dabei geht es nicht nur um professionellen Dolmetschers ins Englische über- situative Lernakte isolierter Individuen, sondern setzt werden. Da kaum jemand in der Gruppe ein/e stets auch um Lernen als (Trans-)Formation von NativespeakerIn des Englischen ist, durchläuft der Erfahrungen, Wissen und Handlungsstrukturen Text also zumindest zwei verschiedene Sprachen, im lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen was in der Interpretation immer zu Abgleichver- Kontext. suchen mit dem albanischen Ursprungstext führt. Für die Interpretation selbst habe ich ein kleines, Lernen in biographischen Prozessen leicht verständliches System entwickelt, da einige Studierende mit den Möglichkeiten und Bedingun- Ich führe seit dem Jahr 2002 in unregelmäßigen Ab- gen der qualitativen Sozialforschung noch nicht so ständen Workshops an der Universität in Prishtina vertraut sind (vgl. Abb. 1). Dieses System unterschei- (Kosova) durch, die das Ziel verfolgen, dass die det verschiedene Text ebenen und stellt die Frage Abb. 1: Verschiedene Textebenen Text-Strukturen Text-Oberfläche Ereignis- und Erlebnisebene „Addition der dargestellten Ereignisse” WAS Individuelle Deutungspraxis Geschichte und Sprache, „Innere Landkarte“, Milieu WIE Institutionalisierte Deutungspraxis Werte, Struktur, Kultur, Tradition WARUM Quelle: eigene Darstellung 10-3 nach der „Wahrheit“ in den Lebensgeschichten von überformt, die sich aus kulturellen, traditionellen Menschen (vgl. Abb. 2). Die Texte werden in der Ana- und normativen Orientierungen speist. lyse demzufolge auf mehrere Bedeutungsebenen hin untersucht: Die Ebene der dargestellten Ereignisse In der Arbeit mit Biographien taucht immer wieder und Erlebnisse stellt quasi den Rahmen der erin- der Begriff der Wahrheit, der faktischen Richtigkeit nerbaren Geschehnisse dar. Hier werden Erlebnisse der erzählten Geschichte auf. Haben die Ereignisse, und Geschichten als konstituierende Teile der Le- Situationen, Erlebnisse auch tatsächlich so statt- benserzählung im Interview wiedergegeben. Auf der gefunden, wie sie im Interview präsentiert werden, Ebene der individuellen Deutungspraxis werden die oder sind sie erfunden, halb gelogen, sind sie Aus- Geschichten durch die jeweiligen alltagsweltlichen, druck eines permanenten Image-Managements, das sprachlichen und individuellen Deutungssysteme uns die BiographieträgerInnen anbieten? Diese Frage als spezifische Hervorbringungen gekennzeichnet. nach der „Wahrheit“, nach dem Wahrheitsgehalt der Alle diese Geschichten sind natürlich auch nochvon getätigten Aussagen, stellt sich für mich auf allen einer Ebene der institutionalisierten Deutungspraxis diesen Ebenen unterschiedlich dar. Abb. 2: Wahrheit(en) des Textes Wahrheit Text-Oberfläche Geschichte als Abfolge von Ereignissen – Wahrheit WAS Innere Struktur der Geschichte WIE Normen, Traditionen (im Wandel), Ideologie WARUM Quelle: eigene Darstellung Auf der Ebene des WAS, wenn es also um die Er- abhängig. Hier gilt es in der Rekonstruktion, diesen eignisse an sich geht, lässt sich diese Frage recht Mechanismen „auf die Spur“ zu kommen, die zu pragmatisch beantworten. Hier handelt es sich bearbeitende Landkarte sozusagen erst einmal zu eben um das tatsächlich stattgefundene Ereignis erschließen. im Lebensverlauf und dieses kann meist anhand Auf der kontextbezogenen WARUM-Ebene, die der Geschichte selbst oder unter Zuhilfenahme von nach den traditionsgebundenen, den kulturellen historischen Quellen „überprüft“ werden. Beziehungen fragt, geht es um die strukturelle Auf der WIE-Ebene ist dies natürlich nicht der Fall, Verstrickung der Person mit den Normen, Werten denn die Herstellung der eigenen „Inneren Land- und Zielen der jeweiligen Gesellschaftsform. Hier karte“ ist nicht nur von den Außenereig nissen, son- stellt sich die Frage nach der „Wahrheit“ der Ge- dern von den Bedeutungen, die diesen Ereignissen, schichte ebenfalls nicht im klassischen Richtig/ Handlungen und Situationen zugeschrieben werden, Falsch-Schema, sondern in der Verbindung zwischen 10-4 dem Individuellen und der Struktur, zwischen Le- theoretische Achse herum gruppiert, die letztlich benswelt und Ideologie. Ein gutes Beispiel dafür ist in der dritten Phase (dem selektiven Kodieren) der Roman „1984“ von George Orwell, in dem über theoretisch verdichtet werden. Im Folgenden seien die Struktur der Sprache jene Bereiche geschaffen einzelne kurze Ausschnitte eines Interviews mit- werden, die Wirklichkeit beanspruchen können und samt einigen Textstellen aus den Interpretationen dürfen. Dinge, Gefühle u.dgl., die kein sprachliches vorgestellt. Pendant besitzen, sind per Definition nicht existent. Diese Unterscheidungen sind im Umgang mit Ausschnitte aus einem Lebens geschichten in der Interpretationsphase analysierten Interview von großer Bedeutung, da es hier vor allem um die Rekon struktion der Wissens- und Relevanzsysteme der Subjekte, um die strukturelle Analyse dessen, My name is V. H., I am from Prishtina and I was born wie Erlebnisse und Erfahrungen in Biographien 1977. Life, what is life for a young man? I will start with hergestellt werden, geht. In narrativen Interviews the first steps of my childhood, speaking of my grand- müssen sich die Interviewten den Horizont der mög- father H. H., from whom I learned a lot in 1981 when I was 4-5 years old. I don‘t forget the first Albanian riots. lichen Erzählungen, der thematischen Felder, selbst I remember as it was today when he told me about the (selektiv) erschließen, weshalb diesen Prozessen in Serbs. And later that how the Serbian conquest had der Analyse der Texte nachzugehen ist. Der latent come to its end and a war would be opened pretty wirkende Steuerungsmechanismus der Gesamtsicht, soon I don‘t forget that we were living a modest life die Mechanismen der Auswahl von Geschichten with our father working to maintain the whole family. sowie deren thematische und temporale Verknüp- Zeile 4-11 fung – und nicht nur das einzelne Ereignis an sich – sind dabei von Relevanz. In der Interpretationsphase wird dabei weitest- Der Interviewte stellt an den Beginn seiner Erzählung gehend mit abduktiven Schlüssen (siehe Peirce eine formale Einleitung. Die daran anschließende 1991) gearbeitet. Interpretieren bedeutet also die rhetorische Frage richtet bereits den Fokus auf die Rekonstruktion der Textbedeutung im Verlauf des „Normalbiographie“ eines jungen Mannes. Was ist Geschehens. das Leben für einen jungen Mann? Welche Mög- Im Laufe einer sequentiellen Analyse wird dem lichkeiten gibt es generell und welche stehen ihm eingelagerten Sinn systematisch nachgegangen. In selbst zur Verfügung? Wo werden die Bezugspunkte einer Zeile-für-Zeile-Analyse wird der Text dabei dafür hergenommen? Welche Ziele werden als wie zuerst „geöffnet“. Barney Glaser und Anselm Strauss erstrebenswert angesehen? (siehe Strauss/Corbin 1996) schlagen dafür ein Ver- fahren vor, das sie „coding“ nennen. Für gewöhnlich Die wichtigsten Bezugspunkte findet der Interview- bezeichnet „Kodieren“ einen Vorgang, bei dem ein partner in der Gestalt seines Großvaters, den er bei „ex ante“ formuliertes Kategorienschema über die seinem vollen Namen nennt. Nicht nur das Verwandt- Daten gelegt wird, damit hypothetisch erwartete schaftsverhältnis ist also wichtig, sondern auch die Merkmale leichter identifiziert werden können. In Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie. Familie H. der Grounded Theory wird dieses Kategorienschema ist eine alteingesessene Familie in der Region, aus der aber erst schrittweise aufgebaut, es wird durch das er stammt. Für die Studierenden aus Kosova ist die Zusammentreffen des „sensibilisierenden Konzepts“ Erwähnung des vollen Namens eine Bezeugung von mit den erhobenen Daten allmählich herausgear- Respekt und gleichzeitig eine Form der Herstellung beitet. In einem ersten Schritt kommt es darauf an, der Genealogie. Nahezu im selben Atemzug wird zur die Daten „aufzubrechen“ und auf einer abstrak- kosovarischen Geschichte übergeleitet, die als eine teren Ebene zu betrachten. In der zweiten Phase Abfolge von Kämpfen eingeführt wird. Die immer des Kodierprozesses (dem axialen Kodieren) werden wieder verzahnte Geschichte seiner Kindheit mit die durch bestimmte Kategorien charakterisierten der Gestalt des Großvaters bzw. mit der kosovari- Fälle oder Fallkonstellationen gleichsam um eine schen Geschichte ermöglicht die Herstellung eines 10-5 historischen Kontinuums, das für den Interviewten Albaners/jeder Albanerin begriffen. Gerade dieses eine Form der stringenten Enkul turation darstellt. Sich-zu-Eigen-Machen einer historischen Mission Entscheidend sind hier die Worte: „I remember as wird auf mehreren Ebenen (auf der der Mythologie, it was today when he told me about the Serbs. And der Genealogie, der Familie und der Rollenstruktur later that how the Serbian conquest had come to des/der Einzelnen) festgemacht. In der Diskussion its end and a war would be opened pretty soon“, mit den Studierenden wird die Herstellung von denn sie verbinden das eigene starke Erleben bei Geschichte an diesem Punkt des Interviews als „Hören“ der Geschichte mit den historischen und überaus bedeutsam erlebt. Gemeinsam wurde dazu mythologischen Bedingungen eines „kosovarischen eine graphische Ausarbeitung erstellt (siehe Abb. 3). Bürgers“. Die Sprache des Erzählten gibt anschaulich Ähnlich verfuhren wir mit dem zweiten Segment: die hohe emotionale Beteiligung des Interviewpart- ners wieder. Gleichzeitig wird eine spezifische Form der Enkulturation beschrieben. Das, was ihm der My education was following its normal course until Großvater in dieser Erzählung quasi als Subtext noch 1989 or 1990, when the protests started. Then I mitgibt, kann mehrere Bedeutungen haben. Einmal remember when the curfew began to be imposed, I ist hier eine Art von Prophezeiung enthalten, die remember that in front of our house just one minute past the curfew-time, a neighbour of us killed a man den Weg des kosovarischen Volkes in Bezug auf die right before our eyes. I don‘t know how he could do it, „serbische Unterdrückungskultur“ bestimmt. Diese he has been a retired member of a Serbian MUP but he Prophezeiung könnte auch als eine bestimmte Form killed a man like it was nothing. eines sozialhistorischen Konzepts angesehen werden, Zeile 12-18 das die Bedingungen und Möglichkeiten des Subjekts bestimmt. Gleichzeitig beinhaltet dieses „Konzept“ verschiedene Handlungsempfehlungen für die Zu- kunft. Die Worte des Großvaters werden hier als eine Wieder beginnt der Biographieträger mit einer „Bürde“ betrachtet, die dem jungen Mann konzeptiv formalen Aussage, die seinen Lebenslauf betrifft – mit auf den Weg gegeben wird. Eingebunden in eine einen Lebenslauf, der, wie schon erwähnt, an der derartige Geschichte seines „Volkes“ wird der aktive Normalitätsfolie orientiert ist. Das entscheidende Raum seiner Handlungen stets unter der Prämisse Datum für das Ende dieses „normalen Lebenslaufs“ der Befreiung von den „Unterdrückern“ gesehen. Die erwächst durch die allgemeine Verschlechterung der Zukunft wird vorrangig als Aufforderung zur Befrei- Lebensbedingungen der AlbanerInnen in Kosova. Die ung, zur Erfüllung der historischen Bringschuld jedes Ausgangssperren schließlich sind der Ausdruck des Abb. 3: Graphische Aufbereitung der Textanalyse (Segment 1) Story and History Prophezeiung Mythologie Konzept Genealogie K Großvater O Familie S Ethnie Rollen O Gruppe Enkulturation V Person Bürde A Geschichte Volk Zukunft Quelle: eigene Darstellung 10-6 Ausschlusses vom normalen Leben, das sichtbare Geschichte. Ein Punkt in der Auseinandersetzung Ende der Bewegungsfreiheit im gesamten Lebens- mit verschiedenen historischen Erklärungsfolien vollzug. Die Geschichte des Mordes wird hier zeit- dieser Tat ließ schnell die Frage aufkommen, wann lich „eine Minute nach Inkrafttreten“ einer solchen Geschichte eigentlich beginnt bzw. wie Geschichte Ausgangssperre angesiedelt, was zeigen soll, wie ihre „gültige Form“ erhält. Hier zeigte sich in der strikt und unmenschlich die hier angewandten Aus- konkreten Interpretationsarbeit, dass Historie schlusspraktiken gehandhabt wurden. Gleichzeitig immer auch gerade im Moment der Interpretation wurde für den Interviewten aber auch noch eine einen (neuen) Anfangspunkt sucht/setzt, eine neue andere Folie schmerzhaft sichtbar, denn es ist ein Möglichkeitsfolie entstehen lässt, die sich sowohl Nachbar, der einen Mann vor seinen Augen nieder- über das Gewesene als auch das noch Kommende schießt, als ob das nichts wäre. Lange diskutierten legt. Im Interpretieren und in der Diskussion der wir dieses Geschehen in der Gruppe, suchten wir Aussagen der BiographieträgerInnen wurde – und nach Interpretationsfolien. Schließlich wurde der das war ein wichtiges emotionales und auch kogniti- Punkt, der die Tat erklären soll, auf zwei Ebenen ves Erlebnis in der Gruppe – gleichzeitig Geschichte festgemacht. hergestellt und mit der Zukunft in einer spezifisch Einmal ist das die Ebene des Rechts, der Rückbin- nachvollziehbaren Art und Weise verbunden. Das dung der Tat an eine „legale“ Basis, an eine gesell- Entdecken alternativer Handlungsstränge, die schaftliche Bezugsgröße, die die Verantwortung des Rückbindung der Erzählung/en an spezifische, un- Einzelnen und sein/e Tatmotiv/e bzw. deren Recht- terschiedliche Kontexte, machte im regelgeleiteten fertigung in einen strukturellen Rahmen fasst. Hier Nachvollzug der Geschichten des Biographieträgers werden in der Analyse die Bereiche des Staates, des individuelle und strukturelle Muster explizit. Gleich- Rechtssystems, der juristischen Verfolgbarkeit, der zeitig diskutierten wir im Interpretationsprozess Ideologie, des politischen Systems, der staatlichen Formen der Unterschiede, die letztlich als analyti- Verantwortung, der Ethnie bzw. der nationalen sche Unterscheidungen wesentlich wurden. Derart und mythologischen Begründung, der historischen „enthülltes Wissen“ legt auf interpretative Weise Verpflichtung unterschieden. Auf der Akteursebene die Einsicht nahe, dass im „ethnischen Blick der werden grundlegende Rollen differenziert: Ethnie Balkanstaaten“ (wie er hier von den Studierenden (Serbe), Funktionsträger (Polizist) und „ethisches vertreten wurde) eine oft verborgene, aber dennoch Wesen“ (Mitmensch und Nachbar). rekonstruierbare Logik am Werk war und ist. Die Kriterien dieser Sichtweisen können mit der narra- Die hierbei hergestellten Beziehungen zwischen tionsstrukturellen Methode innerhalb der Analyse dem zur Tatzeit existierenden rechtlichen, ideolo- bezüglich deren Voraussetzungen, Mittel und Folgen gischen und ethnischen System haben für die am hinterfragt werden. Workshop teilnehmenden StudentInnen aus Kosova zuallererst eine Verbindung zwischen „Serbe“ und Diese winzigen Ausschnitte aus der konkreten Ar- der Tötungshandlung ergeben. Für sie war klar, dass beit zeigen, wie die Hintergrundkonstruktionen der der Mord „natürlich“ im Sinne einer so genannten geschilderten Geschichten verortet werden. In der „ethnischen Säuberung“ begangen wurde, andere Erzählform dieses „Falles“ werden die Umstände, Verbindungsmöglichkeiten wurden nicht einmal die subjektiven und historischen Beziehungen in angedacht. Die derzeitige kosovarische Gesellschaft einem Zeit- und Geschichtshorizont hergestellt, ist aber nicht nur eine post-serbische, sondern auch der das Vorher und Nachher, das Persönliche und eine post-kommunistische – dieser Bezug war nir- Gesellschaftliche in einem weiten kollektiven und gends zu vernehmen und wurde in keiner Diskussion kulturellen Gedächtnisraum fasst. Solche Erzählun- hergestellt. In der Analyse dieser Interviewstelle gen sind dabei in Normen eingebettet, folgen einer wurde deshalb versucht, auch andere Möglichkeiten inneren Struktur, die den Variationsspielraum des der Herleitung des Geschehens (zumindest gedank- Erzählbaren bestimmt. Der Erinnerungsraum wird lich) durchzuspielen. Der Widerstand dagegen hier gleichsam „bevölkert“: mit realen Menschen, war anfangs sehr groß, gleichzeitig lag in dieser mit Geschichte, mit Idealen und auch mit der sinn- Form der Bearbeitung ein wesentliches Lernfeld für stiftenden Metaerzählung des „albanischen Volkes“. den Umgang mit der erlebten und „überbrachten“ Gerade diese Metaerzählung ist es auch, die in der 10-7 Gruppe immer wieder lange besprochen wurde. Aushandlung von Interpretationsfolien durch Welche Kraft (historische, gesellschaftliche, aber kommunikative Validierungen u.dgl.). Im Sinne des auch psychologische) entwickelt eine solche Ge- Erkenntnisgewinnes stand die Sensibilisierung für schichte und wo wird in der Analyse unser Bild der die regelgeleitete, systematisierte Datenerzeugung, Realität davon wie geprägt oder verändert? Immer Datenbearbeitung und Datendarstellung im Vor- wieder diskutierten die Studierenden jene Stellen, in dergrund. Der Workshop wurde in der Verbindung denen es um die Zuschreibung von „Zugehörigkeit dieser beiden Elemente immer stärker zu einer Art und Ausschluss“, von Inklusion und Exklusion von „Übersetzungszirkel“. geht. Aus der Erzählperspektive und der Interpre- tationsarbeit erscheint die Geschichte von Kosova Was für die Beteiligten hierbei sichtbar wurde, als eine fortschreitende Radikalisierung der Frage, waren Erfahrungs- und Herleitungszusammenhänge, welcher Teil der Bevölkerung aufgrund welcher wie der individuelle Bezug auf Konzepte (etwa „Volk“ Eigenschaften zu welcher Erzählung, zu welcher oder „Mythologie“) strategisch verwendet wird (wer- Nation gehört und zu welcher nicht. Die „ethni- den kann). Durch das eigene Involviert-Sein in die schen Säuberungen“ – die Zuspitzung dieser Frage Geschichten, aber auch (vor allem für die Gruppen – sind demnach die fatale Konsequenz aus mehr der Nicht-KosovarInnen) durch den Nachvollzug der oder minder gewalttätigen Orientierungsversuchen hier angelegten Inter pretationsfolien konnte gezeigt von Mehrheiten (aber auch von Minderheiten) an werden, dass kulturelle Differenz niemals nur da ist, ideologischen Konstrukten, an solchen nationalen wo wir sie zu sehen glauben – denn sie ist bereits in Metaerzählungen (wie der des Nationalstaates, des jenen Standpunkt eingeschrieben, von dem aus wir ethnisch homogenen Volkes oder der überlegenen eine Geschichte betrachten. Wissenschaftshandeln Zivilisation), die das Problem von Zugehörigkeit und ist in diesem Sinne als Bildungsprojekt zu verste- Ausgrenzung stets auf andere Weise ausbuchstabier- hen, das nicht nur als Beschaffung und Analyse ten und dadurch eine sich beständig verschärfende von Daten definiert werden kann, sondern stets Welle von Ausgrenzungsmechanismen erzeugten. auch als ein Prozess der Kontextualisierung, der Die hier zugrunde liegenden Mechanismen in Rechtfertigung und Bewertung von kulturellen, Grenzen nachvollziehbar zu machen, war eine der nationalen, ethnischen oder gesellschaftlichen Leistungen der SeminarteilnehmerInnen. Ausdrucksformen. Den Beteiligten an diesem Seminar wurde z.B. be- Kollektive Lernprozesse als wusst, dass die Erarbeitung neuer Interpretations- gemeinsame Interpretationsarbeit möglichkeiten auf empirischer Basis der eigenen Biographie als Herstellung oder auch Wiedererlan- Betrachtet man nun die hier präsentierte Miniatur gung von Wahlmöglichkeiten und Handlungsspiel- des Workshops unter dem Gesichtspunkt, mit wel- räumen dienen kann. Innerhalb dieses Lernfeldes cher Haltung oder Absicht derartige Lehr-, Lern- und konnte im Workshop deutlich gemacht werden, dass Forschungsprojekte durchgeführt werden können, (Sozial-)WissenschafterInnen Personen sind, die über so ist die praktisch-didaktische Reflexions- und eine besondere Gestaltungsbefugnis der Vergan- Bildungsabsicht vom theoretischen Erkenntnis- genheit und der Gegenwart verfügen. Ausführlich interesse zu unterscheiden. Die Inanspruchnahme wurde der wissenschaftliche Aspekt (jenseits eines derartiger Interpretationsprozesse als sinnbildendes, z.B. therapeutischen oder rechtlichen Bereiches) gemeinschaftsförderndes und auch emanzipa- hierfür expliziert. Für die Studierenden wurde torisches Lernszenario wurde durch eine Form auch erkennbar, wie die analysierten Erzählungen der praxiswirksamen, zumindest praxisbezogenen Voraussetzungen für die politische Transformation erwachsenenbildnerischen Arbeit fruchtbar. Dabei im Sinne einer Veränderung der Deutungen sein wurden (ähnlich wie in Aktionsforschungs prozessen) können. Gerade aber dieser Schritt warf und wirft die Entwicklungs- und Anwendungsorientierung immer wieder die Frage nach der Wahrheit der stark miteinander verbunden und methodisch Geschichten auf. Besprochen wurden vor allem ertragreich gemacht (z.B. durch die gemeinsame folgende Fragen: 10-8 • Wie weit darf die Interpretation „entfaltet“ Amerika sagten: „That‘s history“, dann meinten werden, um nicht ein „Einfühlen bis zur Charak- sie meist, dass etwas geschehen ist, das vorbei ist, terlosigkeit“ zu betonen? das vielleicht wichtig war, aber es gelte, dies auch wieder schnell abzuschütteln, denn die ganze Kraft • Wo muss das Streben nach historischer Gerech- solle in die Zukunft fließen: „Yes, we can!“ Wenn tigkeit seinen Platz in der Interpretation haben, Studierende aus Südosteuropa: „Das ist Geschichte“, damit das Geschehene nicht einfach in der Ecke sagten, dann meinten sie damit, dass diese nun „kontingenter“ Deutungen abgestellt werden zu einem absolut wichtigen und unauslöschbaren kann? Faktum geworden ist, das sie grundlegend prägt und dem sie immer wieder ihre volle Aufmerksam- • Welche Kraft kann aus den Interpretationen tat- keit (in der Familie, im Sozialverband etc.) widmen sächlich für die politischen Veränderungen wie müssen, denn nur daraus würden sie die Stärke ertragreich gemacht werden? Wie können neu ihres Seins ziehen. „entdeckte Zusammenhänge“, die theoretisch zwingend sind, auch tatsächlich den politischen Beide Sichtweisen sind unterschiedliche Coping- Wandel beeinflussen? strategien im Umgang mit Geschichte und tragen spezifische Stärken und Gefahren in sich. Die • Hinter all diesen Verfahrensfragen steht auch „So-What-Strategie“ der am Workshop teilnehmen- stets die Kardinalfrage: Wie vermag struk- den AmerikanerInnen versucht großflächig die turell rückgebundene Wahrheit zukünftige (oft auch schmerzlichen) Ereignisse der Vergan- Katastrophen verhindern? Die Behauptung, genheit auszublenden. Nur die Sicht nach vorne, dass es die Wahrheit sei, die befreit – und dass die ständige Bezugnahme auf die Gegenwart und erst die Wahrheit die politische Transformation die Zukunft sind hier die treibenden Kräfte. Der bedinge –, erschien mit Blick auf die alltägliche unauslöschliche Blick in die verschlungenen und Wirklichkeit in Kosova als naiv. gewalttätigen Pfade der Vergangenheit der am Seminar teilnehmenden SüdosteuropäerInnen Diese Fragen werden auch weiterhin bearbeitet. wiederum verengt den Blick auf spezifische Modi Die bisherigen Prozesse konnten zeigen, wie in der der Herstellung von Gegenwart, verspricht keine empirischen Arbeit die Verbindung der (eigenen) andere Befreiung aus der vielschichtigen Dornen- Vergangenheit eines Individuums/einer Gesellschaft hecke als das Verharren darin oder das Zerreißen mit seiner/ihrer Zukunft geschieht und wie in diesen derselben. Beide Wege sind letztlich Formen einer Anschlussfeldern und -modi normative Lern- und Le- spezifischen Erinnerungsideologie, die Geschichte bensfelder hergestellt werden. Die hierfür verwen- strukturiert und dadurch Gegenwart und Zukunft deten Erzählungen, bestehend aus vielen kleinen verbindet. Geschichten, die in immer schon wirkende große Erzählungen (National-, Gesellschafts-, Geschlech- In den einzelnen Lernschritten der Seminare wur- tererzählungen u.dgl.) eingebettet sind, machten den den Studierenden durch die sorgsame Textana- begreifbar, dass Geschichte niemals neu anfängt, lyse auch Einsichten in diese spezifischen Modi im sondern stets innerhalb dieser Großgeschichten gesellschafts- und kulturgesteuerten Umgang mit und den hier eingeschriebenen Strukturen und dem Erinnerungen möglich. An die Stelle dieser spezifi- eingelagerten Wissen ansetzt. Gleichzeitig machte schen Herkunftserzählungen ist im Seminarverlauf diese Form der Interpretationsarbeit aber auch immer stärker die Identitätsfrage getreten. An die- sichtbar, wie der inhärente individuelle und kollek- sen Punkten war es besonders schwierig, die „Grün- tive „rote Faden“ (m)einer Geschichte sinnvoll und dungsmythen eines Volkes“ oder auch einer Person bedeutsam analytisch aufgerollt werden kann. Der zu überprüfen, denn die Aufgabe der schützenden Modus der Bearbeitung ist aber wiederum kulturell Großerzählung hat auch Konsequenzen für die bedingt, was ebenfalls im Workshop klar erkannt uns umgebende Gruppe, die diese Erzählung ak- werden konnte. So zeigte sich im Vergleich der Stu- zeptiert und stabilisiert. Es ist aber gerade diese dierenden aus Amerika und jener aus Südosteuropa Hinwendung zur Erinnerung und zum Gedächtnis ein großer Unterschied. Wenn die KollegInnen aus als den zentralen Kategorien menschlichen Daseins, 10-9
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