Ehrbare Kaufl eute Richard Raatzsch Ehrbare Kaufl eute Eine philosophische Betrachtung Prof. Dr. Richard Raatzsch EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden, Deutschland ISBN 978-3-658-04423-7 ISBN 978-3-658-04424-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-04424-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die- sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be- trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Lektorat: Frank Schindler, Stefanie Loyal Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt 1 Genealogisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Problem, Bedeutung und Ziel der Betrachtung . . . . . . . . . . 15 2.1 Das Problem, näher bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3 Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3 » Vertrauen « – epistemisch oder praktisch ? . . . . . . . . . . . . 33 4 Genealogisches (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5 In welchem Sinn » gut « redundant ist, und in welchem nicht . . . 61 6 Die Sittlichkeit Ehrbarer Kaufleute . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7 Ethik und Betriebswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Nachtrag: Über die Natur der vorliegenden Betrachtung . . . . . . . 93 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dieses Buch ist der erste Teil eines zweiteiligen philosophischen Arguments, kann aber auch für sich allein gelesen werden. 1 Genealogisches In der Zeit nach dem ersten Jahr, in dem russische Kaufleute auf den Aleuten und in Alaska Handel trieben, konnte es geschehen, dass sie von den Einheimischen gezwungen wurden, die Schulden zu bezahlen, die ihre Vorgänger hinterlassen hatten. Die Kunden jener ersten Kaufleute hielten sich also an anderen Kaufleuten schadlos. Diese wiederum reagierten in entsprechender Weise, führten nur das Notwendigste mit sich, mieden bestimmte Gebiete usw. Dieses Verhalten wurde allgemein, es wurde Methode. Man kann fast sagen, es hatte System. Eine ähnliche Verhaltensform war in Südeuropa schon Hunderte von Jahren vorher verbreitet gewesen; und andernorts zu verschiedenen Zeiten vermutlich auch. Und wie ebenfalls lange vorher schon in Europa, bildeten die russischen Kauf- leute auf den Aleuten und in Alaska schließlich Vereinigungen, zu deren wesent- lichen Aufgaben es gehörte, dafür zu sorgen, dass möglichst niemand Schulden hinterließ. Sollte dies dennoch geschehen, so kam es jenen Vereinigungen zu, die ursprünglichen Schuldner zur Kasse zu bitten und bis dahin die Schulden aus einem dafür eingerichteten Fonds der Vereinigung der Kaufleute zu bestreiten. Wie im Fall der vorherigen ging auch die neue Verhaltensweise mit einer Form von Gegenseitigkeit einher: die Eingeborenen hielten sich nicht mehr an irgend- welchen, mehr oder weniger zufällig vorbeikommenden Kaufleuten schadlos, sondern wandten sich an den Verein. Dieser sorgte seinerseits dafür, dass so gut wie keine Schulden hinterlassen wurden und wenn doch, dass man darauf ver- trauen konnte, dass diese beglichen werden würden, und zwar aus eben jenem Fonds, der von den Mitgliedern des Vereins getragen wurde. In einer idealen Welt, würde manche man sagen, hätte es, nach einer Weile, des Vereins eigentlich nicht mehr bedurft, jedenfalls nicht aus den Gründen, aus denen heraus er geschaffen wurde. Denn auf jene Weise etablierte sich, nach und nach, eine neue, bestimmten Regeln folgende Praxis wirtschaftlichen Handelns. – Es ist verlockend, zu glauben, R. Raatzsch, Ehrbare Kaufl eute, DOI 10.1007/978-3-658-04424-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 8 Genealogisches dass diese Praxis sich durch die Schaffung des Vereins bildete. Aber der Verein entstand eben unter Bedingungen, die dafür sprachen, dass jene Praxis sich bilden werde. Den Verein zu schaffen, war sicher ein wichtiger Schritt in der Geschichte der Herausbildung dieser Praxis. Aber hätten die außerhalb des Vereins Agieren- den auf seine Bildung nicht so reagiert, wie sie schließlich reagierten, wäre die Sa- che wohl im Sande verlaufen. Eine Praxis, wie das Wort hier verstanden wird, besteht natürlich nicht im Handeln eines Einzelnen. Sie ist auch nicht einfach die Summe des Handelns vie- ler Einzelner. Zugleich besteht sie aber auch nicht sozusagen jenseits des Han- delns vieler. Eine Praxis besteht im geordneten Handeln vieler Einzelner. Sie ist so etwas wie die mehr oder weniger feste Form wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns vieler. In diesem Sinn hat deren Verhalten Methode, oder eben: System. Dieses System kann einfacher oder komplexer sein. Es kann Muster beinhalten und selbst Teil eines größeren Musters sein. Moderne wirtschaftliche Handlungsformen enthalten gewöhnlich, wiederum selbst sehr umfassende und vielgestaltige Praktiken: etwa solche der Buchführung, der Forschung und Entwicklung, des Vertriebes, der Versorgung mit und Bereit- stellung von Materialien, Informationstechnologien, Energie, Finanzmitteln, Ar- beitskraft, Personalführungsstrategien und -taktiken, Prozessplanungen und -steuerungen u. a. m. Diese Teile und ihr Ganzes halten vielfältigste geordnete Ver- bindungen zu anderen (Teilen von) Bereichen des sozialen Lebens, die ihrerseits wieder oft eigenen Regeln folgen. Die Vielfalt etwa der heute für die menschliche Ernährung hergestellten Produkte kommt fast der Vielfalt an Naturgegenständen nahe, welche die Menschen zu konsumieren und anderweitig zu benutzen wuss- ten, als sie noch als Jäger und Sammler lebten. Auch die Vielfalt der wirtschaft- lichen Produktionsverfahren eifert der Zahl der Naturprozesse nach. Die Tiefe moderner Handels- und anderen Kooperationsbeziehungen hat in der Geschichte gar kein Vorbild. Der Umfang der Planung innerhalb und zwischen großen Unter- nehmen übersteigt jede altkommunistische Phantasie. Weiteres, scheinbar wirtschaftlich Externes, kommt hinzu. Zum Beispiel geo- graphische Umstände: es kann für bestimmte Fragen von großer Bedeutung sein, wie die Landschaft zwischen zwei Orten beschaffen ist. Schon die Beschreibung verrät die Relevanz: zwei Orte sind durch einen Fluss oder ein Meer verbunden und durch ein Gebirge getrennt.1 Ob Fluss oder Meer sie jedoch eher verbinden 1 Auf diese schöne Weise fasst Hegel den Unterschied in seiner Vernunft in der Geschichte, v. a. S. 187 ff.; vorher hatte schon Adam Smith einen ähnlichen Punkt gemacht: Wealth …, Kapitel 3. Es wird allerdings für die folgenden Überlegungen durchgehend von Bedeutung sein, dass die Antwort auf die Frage, ob Flüsse und Meere Menschen eher trennen oder eher verbin- den, von der Art der zur Verfügung stehenden Transportmittel abhängt – diese aber wieder- um nur welche sind, wenn sie so benutzt werden können, dass sie verbinden – was bedeutet, Genealogisches 9 als trennen, hängt natürlich auch davon ab, wie es um die Verkehrsmittel bestellt ist. Schiffe einer bestimmten Art machen Flüsse zu Verbindungswegen, aber nicht unbedingt das Meer, und umgekehrt. Flugzeuge können wiederum Schiffe über- flüssig machen; unter Umständen kann es aber auch andersherum sein. Natürlich spielt auch das Fehlen oder Vorhandensein von Bodenschätzen eine Rolle, wenn es um wirtschaftliches Handeln geht, ebenso Grad und Form der Arbeitsteilung, historisch-kulturelle Besonderheiten, klimatische Fragen, und vieles vieles mehr. Der Begriff der historisch-kulturellen Besonderheiten deutet schon auf das hin, was für eine detaillierte Beschreibung der Entstehung jener oben erwähnten, zumindest für die Eingeborenen, neuen Praxis alles zu berücksichtigen wäre: Ehr- lichkeit, Höflichkeit, Klugheit, Mäßigung, Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Demut und vieles mehr, was auf eine der verschiedenen natürlichen Weisen diese Liste fortführen würde. Unter anderem wäre in diesem Zusammenhang auch darauf einzugehen, wie das Lernen der Sprache der jeweils anderen Seite zu einer Pflicht wurde und zu einer solchen u. a. nur deshalb werden konnte, weil gewisse Methoden des Leh- rens entwickelt wurden. Ähnliches gilt für das Lehren und Lernen anderer prak- tischer und formaler Fertigkeiten. Um auf einen schon angedeuteten Punkt zu- rückzukommen, Schulden und, was leichter fallen mag, Guthaben etwa mussten in bestimmter Form aufgezeichnet werden, um nicht vergessen oder durcheinan- der gebracht zu werden – was wir heute » Doppelte Buchführung « nennen. Von Natur aus, wie man es nennen könnte, sind Menschen in der Lage, sich so und so viele Dinge zu merken. Jenseits dieser Grenzen brauchen sie, sozusagen künst- liche, Hilfsmittel. Ähnliches gilt für die damit verbundene menschliche Fähigkeit, Prozesse, auch solche des eigenen Handelns, zu überblicken. Schon für das häus- liche Herstellen bestimmter Speisen brauchen heutzutage viele Menschen Anlei- tungen. Aber Übung in diesem Gebiet erlaubt es den meisten, nach einer Weile viele dieser Sachen aus dem Hut zu machen. Wenn es jedoch um die industrielle Herstellung einer großen Palette von Gerichten geht, bräuchte es supermensch- liche Fähigkeiten, um diese Prozesse ohne Buchführung, Aufzeichnungen, Vor- schriften, Kontrollen u. v. m. zu meistern. Dieses Beispiel deutet ebenfalls schon an, dass man, indem man eine detail- lierte Beschreibung der Entstehung moderner, komplexer, systematischer, koope- rativer Formen wirtschaftlichen Handelns gibt, davon berichtet, wie sich nach dass am Ende aller solcher Überlegungen auch die Frage nach den Fähigkeiten, Kenntnis- sen und Fertigkeiten von Menschen steht. Diese Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten sind ebenso wenig ein für alle Mal fix, wie es (andere) Naturzustände sind. Wenn zum Bei- spiel weiter unten eine Alternative » von Natur aus vorhandene versus künstliche Hilfsmit- tel « aufgemacht wird, ist dies also in gewissem Sinne irreführend. Zum Ganzen siehe auch: Mann, 1493. 10 Genealogisches und nach Institutionen herausbildeten, wie zumindest einige der Fähigkeiten, in deren geregelter Ausübung jene Institutionen ihr Dasein haben, in den aufeinan- der folgenden Generationen geschaffen, fortentwickelt und ggf. kontrolliert wur- den, wodurch sie sich schließlich über Generationen und Orte hinweg erhielten. Vieles wurde dabei auch wieder vergessen, starb aus oder verschwand auf andere Weise. Aufstieg und Verfall, Fortschritt und Rückschritt sind oft zwei Seiten der- selben Medaille. In eine Beschreibung der Entstehung einer Praxis wie der uns interessieren- den fließen also Ausführungen über gesellschaftliche und anderweitig natür liche sowie ggf. weitere Kontexte ein. Am Ende landet man bei einer Schilderung gro- ßer Teile einer spezifischen Form menschlichen Lebens in einer bestimmten na- türlichen Umgebung, mit gewissen politischen und kulturellen Merkmalen, wo- bei mehr oder weniger alles mehr oder weniger alles andere beeinflussen kann. Übertrieben gesagt, ein homogenes Ganzes wäre in seinem Werden, Bestehen und seinen inhärenten Tendenzen zu beschreiben. Soweit ein solches Ganzes schrittweise ein altes ersetzt, wäre eine solche Beschreibung zumindest teilweise identisch mit einer Beschreibung des Bestehens und Untergehens einer alten Le- bensform. Was unsern Fall angeht, so wird in dieser Beschreibung auch von Misstrauen die Rede sein müssen. Dabei wird insbesondere ein Formwechsel desselben zur Sprache kommen. Denn es gibt keinen überzeugenden Grund für die Annahme, dass es nur eine Form von Misstrauen gibt. Es können zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen sozialen Gruppen ganz ver- schiedene Formen existieren: solche, die sich etwa auf geschlechtliche oder Al- tersunterschiede beziehen, oder für die Fragen des Aussehens, des Verdienstes, der Herkunft, der Religionszugehörigkeit, der sozialen Stellung im allgemeinen usw. eine oder eben keine Rolle spielen. So kann zum Beispiel innerhalb der dem neuen System vorangehenden Zustände die Nichtzugehörigkeit zum eigenen Stamm ein hinreichender Grund für Misstrauen etwa in Tauschangelegenheiten gewesen sein, während Stammesmitglieder in dieser Hinsicht vielleicht prinzi piell Vertrauen genossen. Man machte es sich nun aber zu einfach, würde man sagen, dass der Wandel einfach darin bestand, dass diese Form des innergentilen Ver- trauens auf die Händler ausgedehnt wurde, so wie diese in das zwischen ihnen be- stehende Vertrauen schrittweise auch die Eingeborenen einbezogen. Denn diese Darstellung würde ausblenden, dass das Misstrauen, welches einen Ehrbaren2 Kaufmann auszeichnet, wesentlich auf den Geschäftspartner, einschließlich des Kunden, gerichtet ist, wer immer er sein mag. Das heißt, es wird nicht ausreichen oder schlicht gar keine Rolle mehr spielen, (zu wissen,) ob man es mit Eingebore- 2 Zur Schreibweise siehe unten.