Stefan Neuhaus (Hg.) Effi Briest Handbuch Stefan Neuhaus (Hg.) Effi Briest-Handbuch J. B. Metzler Verlag Der Herausgeber Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. ISBN 978-3-476-04873-8 ISBN 978-3-476-04874-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheber- zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt rechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich sind. 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Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers Die Anschrift der Gesellschaft ist: sind zu beachten. Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Inhalt Einleitung VII 18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen Editorische Vorbemerkung XII literarischen Werken Helga Arend 119 Siglen XII 19 Theodor Fontane und Thomas Mann Hans Otto Horch 125 20 Verfilmungen Christiane Schönfeld 131 I Literaturgeschichte 1 Das späte 19. Jahrhundert Christian Geulen 3 IV Themen, Motive und Symbole 2 Das literarische (Um-)Feld Lothar Bluhm 9 3 Effi und ihresgleichen Hugo Aust 13 21 Natur-, Jahreszeiten- und Wettersymbolik 4 Die soziale Stellung der Frau Iris Meinen 23 Rolf Selbmann 149 5 Nation und Nationalismus Stefan Neuhaus 30 22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte« Klaus Müller-Salget 153 23 Familie Veronika Schuchter 156 II Autor und Werk 24 Ehe, Erotik und Sexualität Rolf Selbmann 161 25 Krankheit und Tod Veronika Schuchter 166 6 Theodor Fontane: Leben und Werk 26 Bürgerlichkeit und Gesellschaft Cord Beintmann 39 Helmut Schmiedt 171 7 Bekanntschaft mit anderen Autoren 27 Geographie und Architektur Cord Beintmann 51 Rolf Selbmann 175 8 Selbstzeugnisse Rolf Selbmann 56 28 Räume Rolf Selbmann 179 9 Die Ardenne-Affäre Rolf Selbmann 61 29 Philosophie Werner Moskopp 183 10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹ 30 Religion Irene Zanol 191 Hans Otto Horch 64 31 Bildung Volker Ladenthin 199 11 Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven 32 Kunst und Musik Klaus Müller-Salget 204 in Fontanes Werk Stefan Neuhaus 68 33 Literatur Rolf Selbmann 207 12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen Klaus Müller-Salget 73 13 Handlung Johann Holzner 76 V Theoretische Zugänge 14 Figuren Klaus Müller-Salget 86 34 Literatur und Theorie Stefan Neuhaus 215 35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: III Rezeption »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung« Jürgen Wertheimer 221 15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen 36 Erzähltheorie/Narratologie Kritik Christoph Jürgensen 101 Michael Scheffel 225 16 Die übersetzerische Rezeption 37 Hermeneutik Ilona Mader 233 Wolfgang Pöckl 107 38 Werkimmanente Interpretation 17 Die Rezeption im Drama Iris Meinen 113 Michael Braun 240 39 Psychoanalyse Veronika Schuchter 244 VI Inhalt 40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien Anhang Anna Braun 252 41 Konstruktivismus und Dekonstruktion Zeittafel Cord Beintmann 311 Irmtraud Hnilica 260 Auswahlbibliographie 314 42 Diskursanalyse Helmut Grugger 268 Autorinnen und Autoren 319 43 Gender Studies Christine Kanz 277 Personenregister 320 44 Alterität Sabine Egger 287 Sach- und Werkregister 323 45 Emotionsforschung Michael Braun 294 46 Subjekt- und Identitätstheorien Florian Huber 300 Einleitung »Aber ob nach dem Leben oder nicht, die Kunst hat eben ihre eignen Gesetze.« Brief Theodor Fontanes an Siegfried Samosch vom 18. September 1891 (DÜW 2, 423) »Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, »Er nannte zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie und beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf dann aber wieder fallen, sie seien zu alt und zu fromm, zehn, auf sechs, – sie dürfte ›Effi Briest‹ nicht vermis- er werde nach Treptow hin telegraphieren an seinen sen lassen.« Dieses hohe Lob spendete 1919, also vor Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen, fa- rund 100 Jahren und 100 Jahre nach Fontanes Geburt, moser Mann, schneidig und doch zugleich wie ein kein Geringerer als Thomas Mann, der, wenn man in Kind. Er konnte sich nicht beruhigen und ging in größ- seiner Besprechung von Conrad Wandreys Buch über ter Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt Fontane (Wandrey 1919) weiterliest, das Lob zu einem hatte, sagte er gerade so wie wir: ›Sie haben recht, es Preis der Kunst erweitert. So wird Effi Briest zu dem muß sein!‹« (283). prototypischen Beispiel für das Beste, das nur die Kunst zu schaffen vermag: »Heißt es nicht, kein Ge- Die Nebenfigur Buddenbrook spiegelt die Überzeu- bilde aus Menschenhand sei vollkommen? Und doch, gungen der zentralen Figuren und wirft so einmal so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Be- mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer starren, scheidenheit anzuraten, – der Satz ist falsch, es gibt Menschenleben kostenden Ordnung auf (s. Kap. 5, 14, das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es 26, 41, 42). Gerade diese nur kurz in Erscheinung tre- träumerisch zuweilen hervor. Das sind seltenste tende und dennoch für die Konstruktion des Romans Glücksfälle [...]« (Mann 1990, 10, 577). nicht unwesentliche Figur als geheimen Paten zu wäh- Thomas Mann spielt hier zugleich auf eine be- len wäre, selbst wenn die anderen Erklärungen zur rühmte Ballade Fontanes an, Die Brück am Tay, und Genese des Namens für Buddenbrooks eher stimmen zwar auf die von den Hexen gesprochenen Zeilen: sollten (z. B. ein Flurname, vgl. Mann 2002 ff., 1.2, 32), »Tand, Tand, / Ist das Gebilde von Menschenhand« eine zu Thomas Manns Verfahren der geistreichen (Fontane 1989, 1, 166 und 168), auf diese geistreiche Anspielung passende Pointe. Jedenfalls klingen seine Weise Fontane zugleich widerlegend und feiernd. Ausführungen zu Fontane in weiten Teilen so, als habe Thomas Mann ist immer wieder in Reden und Aufsät- er auch über sich selbst geschrieben: »Denn was wäre zen auf Fontane zu sprechen gekommen (s. Kap. 19). Dichtung, wenn nicht Ironie, Selbstzucht und Befrei- Aus dem Jahr 1910 stammt das frühe Bekenntnis: ung?« (Mann 1990, 10, 580). »Und er ist unser Vater [...]« (Mann 1990, 13, 817). Das Interesse nicht nur an Effi Briest, an Fontane Das lässt sich auch ganz praktisch verstehen. Fontanes und seinem Werk ist nach wie vor ungebrochen Prosa dürfte vorbildhaft für den Autor Thomas Mann (s. Kap. 15–18, 20) und bedarf auch deshalb weiterer gewesen sein, etwa die »typische[] Funktion der Ge- Erforschung. Ein Call for Papers für ein Panel im Rah- spräche« (Moulden/Wilpert 1988, 66; auch 98–99). men der 43rd Annual Conference der US-amerikani- Auch ist anzunehmen, dass Mann den Namen, der schen German Studies Association (GSA) im Oktober seinem ersten und nobelpreisgekrönten Roman von 2019 in Portland, mit dem auf den runden Geburtstag 1901 den Titel gegeben hat, aus Effi Briest entlehnt hat anspielenden Titel »Fontane at 200«, verkündet: (Mattern/Neuhaus 2018, 9 und 182). Auf die Frage Innstettens, wer Crampas sekundieren wird, antwor- »On the 200th birthday of Theodor Fontane, this panel tet Wüllersdorf: series aims to assess the relevance of Fontane today. VIII Einleitung Such an assessment is overdue. While Fontane re- bleme der Figuren (s. Kap. 14), so zeigt sich etwa im mains a canonical figure in the German literary canon, Vergleich von Effi und Roswitha (so wenig Effi dies the most important representative of poetic realism, wahrhaben will), erkennbar ständeübergreifend. and likely the best German-language novelist between Das Faust-Zitat ist auch in poetologisch-biographi- Goethe and Mann, the scholarly attention devoted to schem Sinn Programm. Es findet sich bereits bei dem Fontane’s works often lags behind his stature [...]« nicht mehr ganz jungen, aber auch noch nicht zum (Lyon 2018). Romanautor gewordenen Fontane in seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 aus dem Fontanes Romane sind, so heißt es weiter, einerseits in Jahr 1853: »Wohl ist das Motto [des Realismus] der der Zeitgeschichte verwurzelt und behandeln ande- Goethesche Zuruf: / Greif nur hinein ins volle Men- rerseits zahlreiche Themen, die auch heute aktuell schenleben, / Wo du es packst, da ist’s interessant, / sind: »e. g., financial crisis, class conflict, changing aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine gender roles, and migration« (ebd.). künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Dass ausgerechnet der 1895 und nach einer lebens- Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen bedrohlichen Krise des alten Fontane (FHb, 634) ver- Bildwerken in sich trägt [...]« (Fontane 1979a, 43). öffentlichte Roman Effi Briest zu einem der erfolg- Doch welche Merkmale, Verfahren und Techniken reichsten Werke deutscher Sprache werden sollte, dass sind es, die der Autor herauspräpariert, und welche gerade dieser Roman weiterhin eine ebenso beliebte Werkzeuge benutzt er dafür, um zu einem solchen Er- Lektüre an Schulen und Universitäten ist wie er von gebnis zu gelangen? Menschen geliebt wird, die aus ganz privaten Grün- Thomas Mann durfte, weil er selbst ein bedeuten- den lesen, das dürfte auch noch viele andere Ursachen der Autor war, die Schöpferkraft und Geniehaftigkeit haben, denen jede Arbeit über den Roman und somit von Schriftstellern wie Fontane feiern und konnte so auch das vorliegende Handbuch nachzugehen be- nicht nur Fontane, sondern auch sich selbst als Genie müht sein sollte. Kurzgefasst und vorausschickend inszenieren. Die Literatur- und Kulturwissenschaft könnte man sagen: Effi Briest ist ein Roman, der all je- freilich geht heute davon aus, dass wir es mit Texten zu nen Ansprüchen gerecht wird, wie sie Goethe im tun haben, die eine besondere, komplexe Form der »Vorspiel auf dem Theater« des Faust in parodistischer Mitteilung sind (s. Kap. 34); in den Worten Niklas und zugleich doch auch ernst gemeinter Weise in den Luhmanns: Die »Formen« von Kunst und Literatur Positionen von Dichter (Produzent), Direktor (Ver- »[...] werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, mittler) und Lustiger Person (Figur, Werk) spiegelt, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und gram- etwa wenn der Direktor meint: »Wer vieles bringt, matischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrie- Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die ver- den aus dem Haus« (Goethe 1998, 3/1, 11), oder wenn standen werden kann« (Luhmann 1997, 39). Wenn die Lustige Person feststellt: »Greift nur hinein ins vol- wir mit Luhmann die Gesellschaft als Ergebnis eines le Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s Prozesses der Sinnstiftung in einer von »Kontingenz« bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant« geprägten Welt betrachten (Luhmann 1997, 16), dann (Goethe 1998, 3/1, 13). Fontanes Zeitroman – eine verdoppeln Kunst und Literatur diesen Konstrukti- neue Gattung, deren Erfindung ihm zugeschrieben onsprozess (s. Kap. 41) mit den ihnen eigenen Regeln, wird – greift hinein ins volle Menschenleben der Ge- die von der konventionalisierten Alltagskommunika- sellschaft des zweiten deutschen Kaiserreichs, deren tion abweichen. Deshalb sind beim Betrachten von immer noch durch feudale Machthierarchien und Kunstwerken wie beim Lesen von literarischen Texten protestantisch-bürgerliche Moralvorstellungen ge- »Was-Fragen durch Wie-Fragen zu ersetzen« (Luh- prägte Ordnungsmuster auf den Prüfstand gestellt mann 1997, 147). Mit anderen Worten: Die Handlung werden und diese Prüfung aus vielerlei noch zu dis- zusammenzufassen ist keine Kunst, aber die Art und kutierenden Gründen nicht bestehen (s. Kap. 1, 2, 4, 5, Weise, wie diese Handlung literarisch gestaltet wor- 6, 23, 24, 30, 31, 39, 43, 44). Vertreter*innen verschie- den ist, zu beschreiben – das erfordert eine vorausset- denster Stände, gesellschaftlicher Gruppierungen und zungsreiche Argumentation (s. Kap. 13). Zumal das Professionen kommen vor, auch wenn der Schwer- zentrale Kriterium für die Beurteilung von Kunst und punkt auf dem niederen Adel oder dem Großbürger- Literatur Neuheit ist, vor allem auf formaler (also tum liegt (s. Kap. 26). Abgesehen von prekären sozia- sprachlicher und struktureller) Ebene: »Nicht zuletzt len und wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind die Pro- liegt darin eine Prämie auf Komplexität des Arrange- Einleitung IX ments der Formen, denn das bietet die Chance, auch Handlung, so Barbara Naumann, ist auf die Ge- bei wiederholtem Durchgang immer wieder etwas sprächsszenen zwischen seinen Figuren hin organi- Neues zu entdecken, was dann um so überraschender siert und kulminiert in diesen« (Murr u. a. 2018, 135). kommt« (Luhmann 1997, 85). Klaus Müller-Salget und Michael Scheffel werden ge- Um Neuheit zu erkennen, muss man wissen, was es nauer erläutern, dass und weshalb dem nicht so ist vorher schon gab. Die Neuheit dieses Romans bezieht (s. Kap. 14, 36). Ohnehin funktioniert die hier still- sich auf die Literatur- und Sozialgeschichte gleicher- schweigend vorgenommene Gleichsetzung von all- maßen (s. Kap. 38). Fontane war ein belesener und ge- wissendem Erzähler und Trivialität des Erzählens nur bildeter Autor und Effi Briest zitiert indirekt oder di- bedingt, wenn man beispielsweise bedenkt, dass auch rekt zahlreiche Autoren und Werke (s. Kap. 33), etwa Franz Kafka einen allwissenden Erzähler verwendet. Romane Sir Walter Scotts oder Gedichte Heinrich Nicht nur das Zurücktreten hinter die Figuren, auch Heines. Die Handlung selber bezieht sich auf eine zeit- die – bei Fontane wie bei Kafka – deutlichen Erzähler- genössische ›reale‹ Affäre (s. Kap. 9); allerdings hat das kommentare, die allerdings nun nicht mehr in einen Vorbild für die Figur Effi Briest, Elisabeth von Arden- auf den ersten Blick sinnhaften Deutungszusammen- ne, noch bis 1952 gelebt (FHb, 637). Die »Berliner hang eingebunden sind (wenn sie nicht sogar gegen Skandalgeschichte« ist Fontane »von Emma Lessing, solche Deutungen arbeiten), verdienen Beachtung. der Frau des Eigentümers der Vossischen Zeitung«, er- Die Modernität des Romans zu begründen braucht zählt worden (FHb, 636). Fontane ist nicht der Ein- es wohl noch mehr als dieses Handbuch, aber es sollte zige, der aus dieser Geschichte literarisches Kapital ge- eine gute Grundlage dafür sein. Zwei Beispiele für die- wonnen hat, allerdings ist der ebenfalls auf der Arden- se Modernität lassen sich mit den Begriffen Liebe und ne-Affäre basierende, 1897 erschienene Roman Zum Sexualität einerseits (s. Kap. 24), gesellschaftliche Zeitvertreib des Schriftstellerkollegen Friedrich Spiel- Normen und Konventionen andererseits bezeichnen. hagen (Spielhagen 2015) heute eigentlich nur noch Crampas muss sterben, weil Effi und er einen »Schritt bekannt, weil es Effi Briest gibt. vom Wege« gegangen sind, wobei dieser Begriff als Fontanes Effi Briest scheint eine ›Mitteilung‹ an- Beispiel für die bereits angesprochene intertextuelle zubieten, die viele anspricht, von Leser*innen, die sich Tiefe des Romans gelten kann. Ein Schritt vom Wege für die Liebesgeschichte oder das Zeitkolorit interes- ist der Titel eines zeitgenössischen Lustspiels (!) von sieren und sich vor allem mit der Figur Effi identifizie- Ernst Wichert (Wichert 1873), das Fontane als Thea- ren, bis hin zu Wissenschaftler*innen, die sozial- oder terkritiker gesehen und besprochen hat. Fontanes Be- literaturgeschichtliche Bezüge herstellen und diesen sprechung beginnt mit den auch auf seinen Roman bekanntesten Roman wie die anderen Romane Fonta- anzuwendenden Worten: »Ein altes Thema, gefällig nes auf ganz unterschiedliche Weise lesen; als Zeit- variiert« (Fontane 1979b, 95). Allerdings findet Fonta- roman, als Bildungs- oder Antibildungsroman, als po- ne durchaus kritische Worte über das heute wohl zu litischen Roman oder gar als »kulturhistorisches Do- Recht vergessene Stück: »Die Kunst erheischt freilich kument« (Craig 1998, 230) von mit Daten und Fakten noch ein weniges mehr, nicht Kopie, sondern Spiegel- nicht beschreib- und erklärbaren gesellschaftlichen bild, nicht Abschreibung, sondern Vertiefung oder Dispositionen und davon abhängigen menschlichen Verschönung des Daseins« (Fontane 1979b, 98). Gefühlslagen. Zu den vielen Superlativen über den Keine Verschönung, aber Vertiefung findet in Effi Schriftsteller Fontane gehört der Satz des renommier- Briest statt. Dort ist es Crampas, der das Stück, eine ten Historikers Gordon A. Craig: »Es gibt niemanden, weihnachtliche Belustigung, als Regisseur inszeniert, der ihm gleicht. Kein Schriftsteller seiner Zeit hat so mit Effi in der Hauptrolle. Anspielungsreich und, viele Themen behandelt wie er« (Craig 1998, 10). wenn man es auf den unmittelbar auf die Aufführung Dass die Offenheit und somit Anschlussfähigkeit folgenden Seitensprung und die beginnende Affäre des Romans für Deutungen auch viele Spekulationen bezieht, durchaus anzüglich heißt es im Roman: »Der und Indienstnahmen für ganz besondere eigene Inter- ›Schritt vom Wege‹ kam wirklich zu stande [...]« (169). pretationen zur Folge hat, wird in der Fontane-For- Die 18-jährige Effi ist eben schon weiter als die, kurz schung immer wieder deutlich. Zu den populären vor Effis Seitensprung, mit Innstetten und Crampas Fehleinschätzungen gehört die Auffassung, der Erzäh- kokettierende Tochter des Oberförsters Ring (176). ler spiele keine wichtige Rolle: »Durch die hohe Dia- Das Verhalten der pubertierenden Cora Ring wird logizität in den Romanen tritt der zumeist nullfokali- von der gestrengen Sidonie vielsagend mit folgenden sierte Erzähler oftmals stark in den Hintergrund. Die Worten charakterisiert – die drei Punkte sind die von X Einleitung den Leser*innen aufzufüllende Leerstelle: »Ich habe gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Ko- noch keine Vierzehnjährige gesehen...« (185). ›...die mödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschi- sich so schamlos verhalten hat‹, ließe sich der Satz et- cken und sie ruinieren, und mich mit... Ich mußte die wa vervollständigen. Briefe verbrennen, und die Welt durfte nie davon er- Sexualität als etwas einerseits Natürliches und an- fahren« (287). Damit denkt Innstetten das, was Frau- dererseits Gefährliches zu inszenieren hat eine Traditi- enfiguren um Effi sagen, etwa Roswitha: »das ist ja on, die bis in die Gegenwartsliteratur hinein nichts von nun schon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe [...] ihrer Brisanz verloren hat, man denke etwa an Elfriede – die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her« Jelineks Roman Die Klavierspielerin von 1983, in dem (291), während die Geheimrätin Zwicker in einem es über »vierzehnjährige Mädchen mit ihren ersten Brief an eine Freundin unumwunden fragt: »Wozu Freunden« heißt, dass sie »noch mit dem Schrecken giebt es Öfen und Kamine?« (305). der Welt kätzchenartig herumspielen, bevor sie selbst In Fontanes wie in Jelineks jeweils wohl wichtigs- ein Teil des Schreckens werden« (Jelinek 2009, 140). tem Roman – Elfriede Jelinek wurde 2004 mit dem Allerdings sind die Mädchen oder Frauen, auch das Literaturnobelpreis ausgezeichnet – spielt die Frage wird in beiden Romanen deutlich, nicht die Taktgeber nach einem sozialen Miteinander in einer gesell- des Schreckens. In Die Klavierspielerin ist es der Kla- schaftlichen Ordnung, die ein freies, selbstbestimmtes vierschüler Klemmer, der seine Lehrerin »unterwer- und glückliches Leben ermöglicht, wohl die zentrale fen« will (Jelinek 2009, 69), indem er sie benutzt, vor Rolle (s. Kap. 46). Dass sich die Frage bei Jelinek radi- allem sexuell: »Lernen möchte er im Umgang mit einer kaler und dringlicher zu stellen scheint, dürfte eher um vieles älteren Frau – mit der sorgsam umzugehen am Stil als an den fiktional-modellhaften Auswirkun- nicht mehr nötig ist –, wie man mit jungen Mädchen gen auf die Figuren liegen. Erika Kohut wird vergewal- umspringt, die sich weniger gefallen lassen. Könnte tigt und verletzt sich selbst, Effi Briest und ihr Lieb- dies mit Zivilisation zu tun haben?« (Jelinek 2009, 68). haber sterben. Allerdings zeichnet sich auch Erikas Mutter durch äu- ßerste Grausamkeit aus: »Die Mutter fügt Erika lieber Um sich den durch Fontanes Roman eröffneten Per- persönlich ihre Verletzungen zu und überwacht so- spektiven möglichst umfassend annähern zu können, dann den Heilungsvorgang« (Jelinek 2009, 13). ist das Handbuch in eine Vielzahl von Einzelkapiteln Den ironisch-kritischen Befund einer tendenziell gegliedert, die sich mit den sozialgeschichtlichen, den menschenfeindlichen Ordnung nimmt bereits Effi literarhistorischen, den biographischen, den werk- Briest vorweg (s. Kap. 5, 25, 26, 41, 43). Darin ist es vor geschichtlichen Voraussetzungen (s. Kap. 1–14 und allem Innstetten, dessen Handeln alle offiziellen Re- die Zeittafel), also den Entstehungsbedingungen (s. präsentanten bis hin zum Kaiser exkulpieren (338), al- bes. Kap. 6–10) und der Rezeption (S. Kap. 15–20) wie lerdings auch die Ministerin. Zwar hilft sie Effi, ihre den medialen Verarbeitungen ebenso beschäftigen Tochter wiederzusehen (ein unglückliches Wieder- wie mit zentralen Themen, Motiven und Symbolen sehen mit fatalen Folgen), doch betont sie gleichzeitig, (s. Kap. 21–33). In einem weiteren größeren Abschnitt dass sie das Verhalten Innstettens, bis hin zur Ent- (s. Kap. 34–46) wird versucht, sich der Interpretation fremdung der Tochter von der Mutter, durchaus des Romans auf verschiedenen Wegen zu nähern, aus »rechtfertigen« könne (321). Die »männliche Herr- der Überzeugung heraus, dass exemplarisches theo- schaft« (Bourdieu 2012) der Gesellschaft lässt keine riegeleitetes Interpretieren die bestmögliche Hilfestel- Verteilung der Schuld auf die Geschlechter zu. Es sind lung für die weitergehende Beschäftigung mit dem die männlichen Verhaltensweisen, der »Ehrenkultus« Roman etwa in Schule und Universität (aber auch für und »Götzendienst« (280) des »uns tyrannisieren- den Gewinn ganz persönlicher Erkenntnisse) bietet de[n] Gesellschafts-Etwas« (278), die dazu führen, und dass, mit Roland Barthes gesprochen, die Inter- dass Innstetten, obwohl er sich in seinem »letzten pretation eines literarischen Texts aus den »Variatio- Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt« fühlt (277), nen der in den Werken angelegten und gewisserma- seine Frau verstößt. Erst nach dem Duell bekommt er ßen anlegbaren Bedeutungen« be- oder entsteht Skrupel, fragt sich: »Wo liegt die Grenze?«, und er- (Barthes 1967, 68), also die (freilich infinite) Summe kennt, dass es sich, nicht zuletzt angesichts der seit seiner möglichen Interpretationen ist. Nicht jede dem Seitensprung vergangenen Zeit, wohl um einen Theorie ist gleich naheliegend für jedes Werk, so dürf- Fall von »Prinzipienreiterei« handelt: »So aber war al- te es (wenn es sich hierbei auch um ein extremes Bei- les einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine spiel handelt) wenig ergiebig sein, Goethes Wahlver-