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E-Journal zu Kulturen des Heroischen PDF

160 Pages·2015·7.47 MB·German
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i 1 t n A helden. Faszinosum heroes. Antiheld Negationen des Heroischen Ulrich Bröckling Zum dialektischen Verhältnis der héros. Begriffe ‚Held‘ und ‚Antiheld‘ Nora Weinelt Von Ahab zu Schwejk. Formen des Antihelden in der Moderne Dietmar Voss Der Antiheld Astolfo und die Entheroisierung der Ritterepik Alice Spinelli E-Journal [Anti-]Heroisierung des Kriminellen in den ‚Causes célèbres‘ Amélie Richeux zu Kulturen Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination Andreas J. Haller des Heroischen Überstehn ist alles. Ein deutscher und ein polnischer Antiheld Jörn Münkner Antihero, Hero, Hunger Games Stefanie Lethbridge Woody Allens Blue Jasmine als ambivalente Antiheldin Heike Schwarz A Non-hero Gone Wild Christiane Hadamitzky Drachenkämpfe am Beispiel der isländischen Gǫngu-Hrólfs saga Friederike Richter Phänomene der Deheroisierung Andreas Gelz, Katharina Helm, Hans W. Hubert, Benjamin Marquart, Jakob Willis Herausgegeben von Ann-Christin Bolay und Andreas Schlüter helden. heroes. héros. Band 3.1 (2015) 2 Inhalt Faszinosum Antiheld Ann-Christin Bolay – Andreas Schlüter ..................................................5 VERMESSUNG DES FELDES: Gegenentwürfe zum Heroischen Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch Ulrich Bröckling ....................................................................9 Zum dialektischen Verhältnis der Begriffe ‚Held‘ und ‚Antiheld‘. Eine Annäherung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Nora Weinelt .....................................................................15 Von Ahab zu Schwejk. Formen des Antihelden im Spannungsfeld problematischer Heldentypen der Moderne Dietmar Voss .....................................................................23 TIEFENBOHRUNG: Figurationen des Antihelden Der Antiheld Astolfo und die Entheroisierung der Ritterepik zwischen Mittelalter und Renaissance Alice Spinelli .....................................................................37 Kriminalität und Heroismus. Die Darstellung und [Anti-]Heroisierung des Kriminellen in den ‚Causes célèbres‘ im Frankreich des 19. Jahrhunderts Amélie Richeux ...................................................................47 „That dirty little coward“. Die Verkehrung des Heroischen in Ron Hansens The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford [1983] Andreas J. Haller ..................................................................63 Wer spricht von Heldentum? Überstehn ist alles. Ein deutscher und ein polnischer Antiheld in der literarischen Imagination nach dem Zweiten Weltkrieg Jörn Münkner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .81 Girl on Fire. Antihero, Hero, Hunger Games Stefanie Lethbridge ................................................................93 „I used to know the words“. Woody Allens Blue Jasmine als psychopathologische, ambivalente Antiheldin Heike Schwarz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .105 helden. heroes. héros. 3 GRENZARBEIT: Randbereiche des Antiheroischen A Non-hero Gone Wild. Ben Stiller’s Adaptation of The Secret Life of Walter Mitty Christiane Hadamitzky. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 Böse Blicke, Gift und Feuer. Drachenkämpfe am Beispiel der isländischen Gǫngu-Hrólfs saga sowie von Thors Fischzug Friederike Richter ................................................................123 Phänomene der Deheroisierung in Vormoderne und Moderne Andreas Gelz – Katharina Helm – Hans W. Hubert – Benjamin Marquart – Jakob Willis ....................................................135 Kleine Beiträge Gawriil Chruschtschow-Sokolnikows Wunder-Recke. Eine heroische Version von Kleists Novelle Die Marquise von O…? Reinhard Nachtigal – Konstantin Stenin ...............................................151 Fragmented History – Shared Memory. Neil MacGregor: Germany. Memories of a Nation – Exhibition, Book, Radio Show (London) Martin Dorka Moreno ..............................................................155 Impressum ...................................................................159 helden. heroes. héros. 4 helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/01 Ann-Christin Bolay – Andreas Schlüter 5 Faszinosum Antiheld 1. lässt sich auch quantitativ erfassen: Mittels einer von Google bereitgestellten Suche innerhalb von über fünf Millionen gescannten Büchern Heroischen Figuren analytisch auf die Spur zu mit über 500 Milliarden Wörtern (Sarasin 154) kommen, ist ein Unternehmen zwischen Herku- kann man den Anteil der ‚Antihelden‘ gegenüber les-Aufgabe und Sisyphus-Arbeit. Nicht weniger anderen Begriffen im Zeitverlauf in einer unge- schwer zu fassen sind Antihelden.1 Bisher gibt es fähren Tendenz ermitteln (vgl. Sarasin 164). Die kaum eingehende Untersuchungen des Phäno- Konjunkturkurven von ‚Antiheld‘, ‚antihero‘ und mens ‚Antiheld‘, seiner Genealogie und Reich- ‚antihéros‘ steigen im jeweiligen Sprachkorpus weite, weshalb wir mit dieser Ausgabe von hel- zwar nicht ganz deckungsgleich,3 aber auf sehr den. heroes. héros. ein bisher wenig bekanntes ähnliche Weise an, wenn man auf die von Goo- Territorium betreten, das viele Fragen aufwirft: gle bereitgestellte graphische Umsetzung dieser Brauchen Antihelden immer Helden als Gegen- Daten – mit allen Einschränkungen bezüglich ih- iguren? Geht es bei dieser Zuschreibung um rer Aussagekraft – als Annäherung zurückgreift die bloße Verneinung des Heroischen? Sind sie [Abb.]. Der gewählte Ausschnitt von 1900 bis wie Helden Störenfriede der Ordnung, die Nor- 2008 macht sichtbar, dass der Begriff in allen men überschreiten und agonal handeln? Sind drei Sprachen bis in die Mitte des 20. Jahrhun- sie Figuren, die vor allem über ihre Rezeption derts fast völlig ungebräuchlich war und erst in gesteuert und geformt werden, das heißt durch den 1960er Jahren parallel einen deutlichen Auf- ihre narrative und mediale Konstruktion und Ver- schwung verzeichnete, um dann ab den 1970er mittlung? Benötigen sie eine Gefolgschaft oder gar Verehrergemeinde? Wo werden diese für Jahren ein Häuigkeitsplateau zu erreichen, das bis heute kaum vermindert gehalten wird. Diese Helden konstitutiven Elemente abgewandelt und offensichtliche Attraktivität der Antihelden lässt wo bilden sich speziisch antiheroische Habitus- sich auch an Äußerungen der Schwarmintelli- muster heraus? genz ablesen: Das Urban Dictionary, in dem Je- Einschlägige Lexika helfen bei einer Eingren- zung wenig weiter: In den großen Wörterbüchern dermänner ihre Deinitionen englischsprachiger Allerweltsbegriffe zur freien Verfügung ins Inter- der drei Sprachen dieses E-Journals indet sich net stellen, urteilt in einem Eintrag vom 25. Ok- das Lemma ‚Antiheld‘ nicht häuig, und wenn, tober 2005, der ‚anti-hero‘ sei „much more int[e]- dann meist in knapper Form, selten mit großem Aussagewert: Da ist der ‚Antiheld‘ eine Figur, resting“ als tradierte Heldeniguren, denn, wie ein anderer Autor dort am 10. Juli 2004 schreibt: „die sich durch Anpassung und Ausgeliefertsein „Quite simply, antihero[e]s rock.“ (Urban Dictio- vo[m] … Helden unterscheidet“ (Wahrig, Krämer nary) Vor allem in Literatur und Film zeigt sich und Zimmermann 272), der ‚anti-hero‘ „the oppo- diese populäre Begeisterung für den Begriff (vgl. site or reverse of a hero … who is totally unlike etwa Ofenloch). a conventional hero“ (Simpson und Weiner 525) Wie aber nähert man sich einer inhaltlichen und der ‚antihéros‘ „[un] [p]ersonnage n’ayant au- Bestimmung? Wir versuchen sie über die Ope- cune des caractéristiques du héros traditionnel“ ration der Verneinung (vgl. auch Bröckling in (Robert 590).2 Angesichts der inhärenten Unbe- dieser Ausgabe). Nach Niklas Luhmann kostet stimmtheit des Heldenbegriffs bringen auch die- die Negation Aufwand und Zeit: Während durch se unspeziischen Oppositionen keine Klärung. die inhärente Negation des Antihelden von vorn- Trotz diesem Befund sind Antihelden dauer- herein größere Komplexität geschaffen wird, sei präsent im Heldenhaushalt der westlichen Ge- der positiv formulierte Begriff leichter erfassbar genwart, die auch als „age of the antihero“ be- (Luhmann 201). Aber stets bleibt jeder Negation zeichnet worden ist (Klapp 97). Dieser Aufstieg helden. heroes. héros. Ann-Christin Bolay, Andreas Schlüter 6 der Ausgangsbegriff als stabile Folie der Bezug- ‚Augenzauber‘, er zieht Aufmerksamkeit auf sich nahme erhalten: Denn es „geht der Sinn durch und engagiert emotional, ohne gleich verstanden die Negation keineswegs verloren, sondern wird oder durchschaut zu werden. Als Faszinosum nur transformiert“ (ebda., vgl. Brombert 1). Auf steht der Antiheld immer in einer Beziehung zu die Figuren des Helden und Antihelden bezogen einem Gegenüber, zum Betrachter oder Emp- bedeutet das: Auch wenn Antihelden in der aktu- fänger des Blicks. Im Zentrum stehen dann Wir- ellen Populärkultur einen solchen Siegeszug an- kung und Interaktion, Funktion und Rezeption. getreten haben mögen, dass die Ausgangsigur In der Bewertung der von ihm vollbrachten des Helden darüber womöglich in den Hinter- Tat zeigt sich jedoch ein grundsätzlicher Unter- grund getreten ist, so bleibt dieser auch in seiner schied zur Heldenigur. Wird die Tat der hero- Verneinung stets sinnbildende Vorlage. ischen Figur in der Regel positiv konnotiert, weil Ist man also doch wieder auf die Deinition sie einer guten Sache dient (selbst dann, wenn des Helden zurückgeworfen, um in deren to- es sich um Gewaltakte handelt), so unterliegt taler Verneinung die Matrix des Antihelden zu die Tat des Antihelden vielmehr einer moralisch- entschlüsseln? Wir schlagen in dieser Ausgabe ethischen Kritik. Der heroische Habitus und die vor, dass nicht jede Verneinung des Heroischen heroische Tat verkehren sich ins Gegenteil; sie stets im Antihelden endet: Statt ihn als Ausdruck werden moralisch verwerlich, lächerlich oder jeder unbestimmten Negation des Heroischen absurd. In der Vorstellung einer ‚Kippigur‘, die zu begreifen, die nur zu einer „pauschalen Stel- die Grenze zwischen heroischen und antihero- lungnahme“ führt (Luhmann 205), sollen nur ischen Eigenschaften und Verhaltensmustern diejenigen Figuren als Antihelden bezeichnet ließend macht, wird jedoch deutlich, wie schnell werden, die dem Heroischen in einem ganz be- der Umschwung von einer Zuschreibung zur stimmten Sinn entgegengesetzt sind. Wir schla- anderen erfolgen kann: Die Konstruktion des gen vor, diese bestimmte Negation (vgl. ebda.) Antihelden ist immer wesentlich abhängig vom aus der Vorsilbe ‚antí-‘ zu entwickeln. Diese ist zuschreibenden Subjekt und dessen Kontext. durch den christlichen Sprachgebrauch geprägt Die Beiträge dieser Ausgabe sind aus ver- (van Tongeren u. a. 57): „Richtungsweisend“ schiedenen disziplinären Positionen verfasst für Zusammensetzungen mit dieser Vorsilbe und nehmen unterschiedliche mediale, zeitliche war der ‚Antichrist‘, der nicht einfach ein ‚Nicht- und räumliche Phänomene in den Blick. Sie er- Christ‘ oder Heide ist, sondern eine Figur, die geben entsprechend kein in sich geschlossenes der positiven Ausgangsigur Christus auf Augen- Bild, keine einfache Durchführung dieser Expo- höhe begegnet (Hartman 20). Beide teilen die sition, sondern gruppieren sich teils klar ausge- außerordentliche Sphäre des Sakral-Transzen- richtet an diesem Eingrenzungsversuch, teils am denten; beide bewegen sich mit außerordentli- Rand unserer Überlegungen. chen Fähigkeiten in Grenzsituationen, die nur durch die Zuordnung zum Göttlichen oder zum Dämonischen überhaupt zu unterscheiden sind. 2. Entsprechend schlagen auch wir für die Bestim- mung des Antihelden vor, dass er von der unbe- Die drei Beiträge des ersten Kapitels unter- stimmt-generalisierten Verneinung des Helden nehmen eine Annäherung an den Begriff des – dem Nichthelden – zu unterscheiden ist. Der Antihelden, indem sie seine Bedeutung um- Antiheld muss demnach insofern an der heroi- reißen, nach seinen [literatur-]historischen Er- schen Sphäre beteiligt sein, als er – im ‚dämoni- scheinungsformen suchen oder ihn von ähnlich schen‘ Sinn – die Sphäre des profanen Alltags, konnotierten und verwandten Figuren abgren- der feierabendlichen Antriebslosigkeit verlässt zen. Mit dem Ziel einer VERMESSUNG DES und die Sphäre des Exzeptionellen betritt, in der FELDES umkreisen die Aufsätze solche Phä- er mit außergewöhnlichen Anlagen und Mitteln nomene, die sich als Gegenentwürfe zum Außeralltägliches vollbringen kann. Heroischen zeigen. Sie nähern sich aus so- Diese Sphäre der übernatürlichen bzw. au- ziologischer, literaturwissenschaftlicher und lite- ßeralltäglichen Wirksamkeit wollen wir mit dem raturhistorisch-philosophischer Perspektive dem Begriff des Faszinosums in Verbindung brin- bisher unerforschten Terrain und markieren als gen, das wir als wesentliches Element des He- Messpunkte unterschiedliche Ausgangspunkte roischen verstehen. Vom altgriechischen Wort für eine Erforschung des Antihelden. Während ‚baskánein‘ stammend, steht die ‚Faszination‘ Ulrich Bröckling in einem typologischen Ver- für den ‚bösen Blick‘, der das Gegenüber bezau- such drei Grundmodalitäten der Negationen bert, der es verhext und schädigt, aber auch po- des Heroischen differenziert und ihre möglichen sitiv für sich einnehmen kann (Weingart, Degen, Richter in dieser Ausgabe). Im ursprünglichen iguralen Ausprägungen tabellarisch einander gegenüberstellt, ist Nora Weinelt den Begriffen Wortsinn verfügt der Antiheld somit über einen helden. heroes. héros. Faszinosum Antiheld ‚Held‘ und ‚Antiheld‘ in ihrem Spannungsverhält- Jasmine als psychopathologische Antiheldin im 7 nis auf der Spur. Sie bringt die Erscheinung des Kampf mit sich selbst und den Ansprüchen der Antihelden mit einer zunehmenden Subjektivie- Gesellschaft. Ihr größter Widersacher dabei ist rung des Heroischen in Zusammenhang und der Imperativ des Amerikanischen Traums. grenzt die Figur des Antihelden vom Nichthelden Wiederum drei Beiträge schließen im dritten ab. Dietmar Voss charakterisiert den Antihel- Kapitel die Annäherungen an die Figur des An- den als einen problematischen Typus, dessen tihelden ab, indem sie ausgewählte Randbe- speziische Brisanz besonders in der Moderne reiche des Antiheroischen abschreiten. Im deutlich wird – als kritischer Gegenentwurf zum Sinne einer GRENZARBEIT untersuchen sie antiken Heros und zu den Heldenkonzeptionen solche Figuren, die verwandte Muster zum An- des 20. Jahrhunderts. tihelden aufweisen, wie den Nichthelden, den Das zweite Kapitel vertieft die theoretischen Antagonisten als literarischen Widersacher und Perspektiven anhand ausgewählter Einzelbei- schließlich den deheroisierten Helden, dem sein spiele. Die als TIEFENBOHRUNG fungierenden heroischer Status aberkannt wurde. Christiane sechs Beiträge nähern sich verschiedenen Fi- Hadamitzk y bespricht Ben Stillers ilmische gurationen des Antihelden im diachronen Kon- Adaption des Buches The Secret Life of Walter text vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Mitty. Im Zentrum von Film und Buch steht der Sie erkunden mit je eigenem Zugriff Ausprägun- gänzlich unheroische Mitty, der unversehens gen des Antiheroischen in der Analyse konkre- zum Helden wird. Zwei Antagonisten, deren bö- ter Figuren aus Geschichte, Literatur und Film. ser Blick als Waffe eingesetzt wird, sind das The- Alice Spinelli diskutiert am Beispiel des Antihel- ma von Friederike Richter in ihrem Beitrag zu den Astolfo die variierenden Bewertungen einer isländischen Darstellungen von Drachenkämp- Figur in der Ritterepik zwischen Mittelalter und fen. Die übernatürlichen Kräfte der Widersacher Renaissance. Sie zeigt auch, wie bereits sein lassen die Helden in umso größerem Licht er- Name die Stilisierung Astolfos zum Antihelden strahlen. Andreas Gelz, Katharina Helm, Hans begünstigte. Eine besondere Ausprägung des W. Hubert, Benjamin Marquart und Jakob Antihelden als moralischem Abweichler von der Willis versuchen eine theoretische Annäherung Norm identiiziert Amélie Richeux in ihrem Bei- an das Phänomen der Deheroisierung und stel- trag über kriminologische Fallerzählungen aus len anschließend drei exemplarische Fälle vor. Frankreich. Sie legt dar, welche Umdeutungen Sie zeigen, dass Prozesse der Heroisierung ein Krimineller im Diskurs um Zurechnungsfä- analytisch präziser beschrieben werden können, higkeit und strafrechtliche Verantwortung im wenn auch gegenläuige Prozesse im Blick be- 19. Jahrhundert erfährt. Andreas J. Haller nä- halten werden. hert sich zwei historischen Figuren des Wilden Zwei kleine Beiträge von Reinhard Nachti- Westens anhand der literarischen Rezeption ih- gal und Konstantin Stenin über einen wieder- rer verhängnisvollen Beziehung. Dabei zeigt er, entdeckten russischen Roman, der einige Paral- wie eng heroisches und antiheroisches Handeln lelen zu Heinrich von Kleists Marquise von O... aufeinander bezogen sind. Jörn Münkner ver- aufweist, und von Martin Dorka Moreno über gleicht die Protagonisten eines deutschen und Neil MacGregors Londoner Ausstellung, seine eines polnischen Romans der Nachkriegszeit Radio-Sendung im BBC und seine Publikation in Bezug auf ihre Rolle im historischen Kontext. über Germany schließen die Ausgabe ab. Er zeigt die Kollision der Figuren mit den an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen Ann-Christin Bolay ist Wissenschaftliche Mit ar- von heroischem Handeln. Zwei weitere Beiträ- beiterin im Teilprojekt B8 des Sonderforschungs- ge schließlich rücken die weibliche Antiheldin in bereichs 948 an der Albert-Ludwigs-Universität den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Stefanie Freiburg und arbeitet über Heroisierungsstrate- Lethbridge analysiert die Protagonistin der li- gien in der Biographik des George-Kreises. terarischen und ilmischen Trilogie The Hunger Andreas Schlüter ist Wissenschaftlicher Mit- Games in ihrer dialektischen Rolle zwischen arbeiter im Teilprojekt C2 des Sonderforschungs- Viktimisierung und Heroisierung. Sowohl männli- bereichs 948 an der Albert-Ludwigs-Universität che als auch weibliche Eigenschaften vereinend, Freiburg und arbeitet über den Wandel des fordert Katniss Everdeen herkömmliche Helden- Heroischen bei adligen Militärs in England und konzepte heraus. Heike Schwarz charakteri- Frankreich (1580–1630). siert die Hauptigur aus Woody Allens Film Blue helden. heroes. héros. Ann-Christin Bolay, Andreas Schlüter 8 Luhmann, Niklas. „Über die Funktion der Negation in sinn- 1 Grundsätzlich gilt für die gesamte Ausgabe des E- konstituierenden Systemen.“ Positionen der Negativität. Journals das generische Maskulinum. Sofern nicht anders (Poetik und Hermeneutik, 6). Hg. Harald Weinrich. Mün- gekennzeichnet, sind männliche wie weibliche Figuren ge- chen: Fink, 1975: 201–218. meint. Ofenloch, Simon. „Antihelden als Superhelden. Superhelden 2 Für die Prominenz solcher Bestimmungen siehe auch als Antihelden. Die Pseudo-Comicilme der Darkman-Reihe Brombert 1 f. und Wulff 7. und Hancock.“ Comic.Film.Helden. Heldenkonzepte und 3 Überraschend und erklärungsbedürftig ist der stärkere medienwissenschaftliche Analysen. Hg. Barbara Kainz. Anstieg im Französischen seit den 1990er Jahren. Wien: Löcker, 2009: 17–33. Robert, Paul. „Antihéros“. Le Grand Robert de la Langue Française. Band 1: A – Char. Hg. Alain Rey. Paris: Le Ro- bert, 22001: 590. Literatur Sarasin, Philipp. „Sozialgeschichte vs. Foucault im Google Books Ngram Viewer.“ Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Hg. Pascal Maeder, Barbara Lüthi „Anti-Hero“. 10. Juli 2004, 25. Oktober 2005. Urban Dictio- und Thomas Mergel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, nary. 10. April 2015. <http://de.urbandictionary.com/deine. 2012: 151–174. php?term=Anti-Hero>. van Tongeren, Paul u. a. „anti“. Nietzsche-Wörterbuch. Band „Antiheld“. Brockhaus – Wahrig. Deutsches Wörterbuch. 1: Abbreviatur – einfach. Hg. Nietzsche Research Group Band 1: A – BT. Hg. Gerhard Wahrig, Hildegard Krämer und (Nijmegen). De Gruyter, Berlin u. a. 2004: 49–75. Harald Zimmermann. Wiesbaden: Brockhaus, 1980: 272. Weingart, Brigitte. „Blick zurück. Faszination als ‚Augenzau- „anti-hero“. The Oxford English Dictionary. Band 1: A – Ba- ber‘.“ „Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht“. Über zouki. Hg. J. A. Simpson und E. S. C. Weiner. Oxford: Cla- den Blick in der Literatur. Festschrift für Helmut J. Schnei- rendon Press, 21989: 525. der zum 65. Geburtstag. (Philologische Studien und Quel- Brombert, Victor. In Praise of Antiheroes. Figures and len, 221). Hg. Kenneth S. Calhoon und Helmut J. Schnei- Themes in Modern European Literature 1830–1980. Chica- der. Berlin: Schmidt 2010, 188–205. go: Chicago UP, 1999. Wulff, Hans J. „Held und Antiheld, Prot- und Antagonist: Zur Degen, Andreas. „Concepts of Fascination, from Democri- Kommunikations- und Texttheorie eines komplizierten Be- tus to Kant.“ Journal of the History of Ideas 73.3, 2012: griffsfeldes. Ein enzyklopädischer Aufriß.“ Weltentwürfe in 371–393. Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – rea- listische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Hartman, Sven S. „Antichrist I“. Theologische Realenzyklo- Hg. Hans Krah und Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig, 2002: pädie. Hg. Gerhard Krause und Gerhard Müller. De Gruyte r, 431–448. Berlin und New York 1978: 20–21. Klapp, Orrin: Opening and Closing. Cambridge: Cambridge UP, 1978. Abb. Graische Darstellung für das Ergebnis der Datenbankabfrage ‚Antiheld‘, ‚antihero‘ und ‚antihéros‘ im deutsch-, eng- lisch- bzw. französischsprachigen Korpus des Google NGram Viewers, gleitender 3-Jahres-Durchschnitt (Standardeinstellung), 21. April 2015. <https://books.google.com/ngrams/graph?content=Antiheld%3Ager_2012%2Cantihero%3Aeng_2012%2Canti- héros%3Afre_2012&year_start=1900&year_end=2008&corpus=15&smoothing=3>. Auf der horizontalen Achse sind die Jahres- zahlen, auf der vertikalen der Häuigkeitsanteil des jeweiligen Begriffs gegenüber jedweden anderen Begriffen im jeweiligen Korpus eingetragen. Weitere Informationen zu den Korpora bei <https://books.google.com/ngrams/info>. helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/02 Ulrich Bröckling 9 Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch Helden sind paradoxe Figuren. Folgt man Niklas Heroische Semantiken erzeugen Kraftfelder, die Luhmann (86), so produziert ein Held „Konformi- alle, die in ihre Reichweite gelangen, auf den tät (Nachahmungswille) durch Abweichung“, und Heldenpol auszurichten versuchen. Sie bezeich- er macht diese Paradoxie obendrein öffentlich, nen ein Telos, nach dem die Individuen streben, „um seine sozialisatorisch-erzieherische Funk- einen Maßstab, an dem sie ihr Tun und Lassen tion erfüllen zu können“. Die in der Gestalt des beurteilen, ein tägliches Exerzitium, mit dem sie Helden verkörperte „Idee des vorbildlichen Über- an sich arbeiten, und einen Wahrheitsgenerator, treffens erwartbarer Leistungen“, der nicht ver- in dem sie sich selbst erkennen sollen. Anders langbaren Verdienste stellt damit, so Luhmann, als die Eisenspäne in der Nähe eines Magneten „die vielleicht eindrucksvollste semantische stehen die Adressaten von Heroisierungen dem Form [dar], die in der europäischen Geschichte Formierungssog indes nicht machtlos gegen- für moralisch reguliertes Abweichen ausgebildet über. Sie mögen ihm nachgeben, sich gegen ihn worden ist“. – Moralisch reguliertes, d. h. als Vor- aufbäumen oder ihn zu ignorieren ver suchen, bild geeignetes, zur Nachahmung empfohlenes aber so weit und so lange das Kraftfeld reicht, Abweichen, das könnte man als eine allgemeine nötigt es dazu, sich zu ihm zu positionieren. Hel- norm- und handlungstheoretische Bestimmung den narrative polarisieren: Man mag ihre Pro- des Heroischen verstehen. Helden oszillieren ta gonisten verehren oder hassen, bewundern in ihren Taten zwischen Normbildung, Norm- oder verlachen – nur gleichgültig kann man erfüllung und Normbruch, zwischen Exzeptio- ihnen gegenüber nicht sein. nalität und Exemplarität. Aus der paradoxen Bestimmung des Helden Wenn Luhmann den Helden als semantische als moralisch regulierter Abweichler und der po- Form, d. h. als Markierung einer Differenz be- larisierenden Macht heroischer Semantiken las- schreibt, die eine sozialisatorisch-erzieherische sen sich dann auch die Gegenentwürfe ableiten. Funktion erfüllt, d. h. Verhaltensänderungen in Die disparaten Gegen-, Anti-, Nicht- und Nicht- Gang setzen soll, so verweist das zugleich auf mehrhelden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer den handlungsorientierenden Charakter von He- normativen Bewertung wie ihrer Positionierung ro isierungen. Heldengeschichten sind weniger zum Kraftfeld des Heroischen. Sie changieren deskriptiv als präskriptiv; Heldenbilder zeichnen zwischen Trägheit und Ignoranz gegenüber der keine Abbilder, sondern entwerfen Vorbilder. appellatorischen Macht heroischer Anrufun- Wer von Helden und ihren Taten spricht [oder gen, zwischen dem Unwillen und der Unfähig- Helden porträts, -denkmäler, -ilme, -comics usw. keit, ihnen zu folgen, zwischen Zurückweisung in Umlauf bringt], will seine Adressaten [und ihre s Anspruchs und Umkehrung ihrer Richtung: möglicherweise auch sich selbst] dazu bewe- Gegenhelden konkurrieren mit den Helden auf gen, über sich hinauszuwachsen, zu kämpfen einem antagonistischen Feld konträrer Wertord- und Opfer zu bringen, nach Größe und außer- nungen und Handlungsorientierungen; sie sind ordentlichen Leistungen zu streben, zumindest die Identiikationsiguren der einen Seite im Fal- aber die Überlegenheit der Heroen in demütiger le widerstrebiger Heroisierungen. Antihelden Verehrung anzuerkennen. Auch wenn das kei- opponieren gegen die heroischen Verhaltens- neswegs immer gelingt und heroische Anrufun- codes; sie tun gerade das, was Helden nie- gen häuig genug verpuffen oder gegenteilige mals tun würden, und unterlassen, was man Effekte zeitigen, so bleibt noch in der ironischen von diesen erwartet. Nichthelden scheitern an Brechung oder Zurückweisung des Appells den heroischen Anrufungen oder bleiben ihnen etwa s von dessen Energiepotenzial spürbar. gegen über immun. Nichtmehrhelden verweisen helden. heroes. héros. Ulrich Bröckling 10 auf Deheroisierungsprozesse: Ehedem gefeiert, noch keine Negation. Wer in einer Adelsgesell- fallen sie in die Bedeutungslosigkeit zurück oder schaft qua Geburt nicht zum Helden berufen ist, kippen ins Lächerliche. qualiiziert sich damit noch nicht automatisch als Formal betrachtet, lassen sich drei Grundmo- Antiheld. Damit die Differenz zum Gegensatz dalitäten der Negation1 identiizieren: wird, muss etwas hinzukommen: Sancho Pans a (1) Quantitative Privation: Die Figuren dieses avanciert nur deshalb zur paradigmatischen Typs unterschreiten den heroischen Maßstab. Gegeni gur, weil er mit seiner Bauernschläue das Es mangelt ihnen an Außergewöhnlichkeit und in lebens untüchtige Heldenpathos Don Quixotes der Folge an Glanz. Statt sich durch Überperfor- entlarvt. Nur in dem Maße, in dem heroische An- mance hervorzutun, verbleiben sie im Bereich rufungen generalisiert werden, lassen sich Taub- des Durchschnittlichen und Erwartbaren oder heit oder absichtsvolles Nichthören als Negation erreichen nicht einmal den Normalitätsstandard. begreifen. Nur wo das Kraftfeld des Heroischen Bar jeglichen Charismas können sie keine Ver- seine Wirkung entfaltet, können Immunität oder ehrer um sich scharen. Die heroischen Appelle Verweigerung es konterkarieren. Im Unter- hören sie wohl, allein für Heldentaten fehlt es schied zu den Figuren quantitativer Privation ihne n an Courage, Ehrgeiz oder Gelegenheit. und qualita tiver Opposition, die dem heroischen (2) Qualitative Opposition: Bei diesem Gegen- Wertekanon verhaftet bleiben wie der Dieb der typus ist das moralische Vorzeichen vertauscht. Eigentumsordnung oder der Bankrot teur dem Die hier zuzuordnenden Figuren besitzen zwei- Imperativ wirtschaftlichen Erfolgs, stellen die Fi- fellos Größe, aber diese zeigt sich im Bösen, ge- guren kategorialer Differenz die Geltung dieses nauer: in dem, was gemäß dem geltenden Hel- Kanons in Frage. Sie verkörpern weniger eine dencode als schändlich und schurkenhaft gilt. Gegenkraft zum heroischen Kraftfeld als ein Statt bewundernswerter Heldentaten begehen Außer kraftsetzen; sie unterbrechen den Energie- sie verabscheuungswürdige Untaten, oder man luss, statt ihn umzupolen. Vor allem diese wirft ihnen das zumindest vor. Sie sind zwar ex- Figuren liefern denn auch Modelle, die aus dem zeptionell, doch alles andere als ein Vorbild; kein Bannkreis heroischer Anrufungen heraustreten Exempel, sondern Skandalon. [oder ihm entzogen bleiben]. Anders ausgedrückt: (3) Kategoriale Differenz: Hier geht es nicht Sie markieren die Grenzen der Heroisierbarkeit. um Underperformance oder Vorzeichenwechsel, Für eine Typologie der Gegen-, Anti-, Nicht- sondern um den Sprung in ein anderes Register. und Nichtmehrhelden lassen sich die drei Mo- Figuren von diesem Typus werden vom hero- dalitäten der Negation fruchtbar machen, indem ischen Kraftfeld nicht erreicht, bleiben von ihm man sie zu unterschiedlichen Dimensionen des ausgeschlossen und/oder entziehen sich ihm. Heroischen in Beziehung setzt: Helden sind, Sie sind weder Tugendidole noch schrecken- wie ausgeführt, erstens moralisch regulierte Ab- erregende Monster, sondern moralisch indiffe- weich ler. Ihre Taten mögen sie in Konlikt mit rent. Für Heldentaten kommen sie schon des- Recht und Gesetz bringen, ihre Vorbildhaftigkeit halb nicht in Frage, weil sie zum falschen Stand steht jedoch außer Frage. Helden werden zwei- gehören, den falschen Beruf ausüben oder das tens bewundert bzw. verehrt und müssen sich falsche Geschlecht haben – oder ihr Menschsein diese Auszeichnung auf einem ‚Feld der Ehre‘ gleich ganz in Frage steht. Heldenpathos lässt [das kann, muss aber kein Schlachtfeld sein] sie kalt, Ruhm und Ehre interessieren sie nicht, verdienen. Helden zeichnen sich drittens durch von Opferbereitschaft wollen sie nichts wissen, ihre außerordentliche, häuig agonale Agency und auch für andere heroische Gestimmtheiten aus. Sie stellen sich Heraus forderungen, ziehen bleiben sie unmusikalisch. in den Kampf, überwinden Hindernisse, stiften Während quantitative Privation und qualita- eine Ordnung. Schließlich müssen sie viertens tive Opposition unmittelbar auf den Heldencode bereit sein, Opfer zu bringen, im Extremfall ihr be zogen bleiben – als Negation der außerordent- Leben einzusetzen. lichen bzw. der vorbildhaften Seite des Hero- Kreuztabelliert man die drei Modalitäten der ischen –, liegt die Sache bei der kategorialen Negation mit den vier Dimensionen des Hero- Differenz komplizierter: Differenzen gibt es un- ischen, ergibt sich das folgende Tableau: endlich viele, und bloße Unterschiede markieren helden. heroes. héros.

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Hartman, Sven S. „Antichrist I“. Theologische Realenzyklo- pädie. Williams' A Streetcar Named Desire um die Süd- staatlerin Blanche DuBois
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