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Dramenform und Klassenstruktur: Eine Analyse der dramatis persona »Volk« PDF

135 Pages·1972·17.006 MB·German
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1682 DRAMENFORM UND KLASSENSTRUKTUR Hannelore Schlaffer Dramenform und Klassenstruktur Eine Analyse der dramatis persona »Volk« J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung Stuttgart Die vorliegende Arbeit wurde 1971 von der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. D 29 ISBN 978-3-476-00246-4 ISBN 978-3-476-03003-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03003-0 @ Springer-Verlag GmbH Deutschland1 972 Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1972. INHALT Einleitung 1 I. Beschreibung der Figur 9 1. Abgrenzungen 9 2. Konstante Eigenschaften 18 3. Schauplätze 27 II. Figur und Form 32 1. Die komische Tradition der Figur Volk in der Tragödie 32 2. Volk und Held 43 3. Die Veränderung der Form 55 4. Geschichte als Interpretationshorizont des Dramas 62 111. Geschichte der Figur Historische Analysen der dramatis persona Volk in Dramen von Goethe bis Brecht 68 SchluP 107 Anmerkungen 110 Literaturverzeichnis 126 1. Quellen 126 2. Bibliographie zur Soziologie des Dramas 127 V EINLEITUNG Was ist aus uns geworden? [1) Wäre Eugenie in Goethes Natürlicher Tochter die Tragödienheldin, die sie, mit allen Tugenden einer solchen - Schönheit, Ehrgeiz, Adel und grandeur d'ime - begabt, zu sein scheint, brauchte sie weder an sich noch an die sie um gebenden Personen diese Frage zu stellen. Sie bleibt ohne Antwort, ja muß ohne Antwort bleiben, da sie eine Dimension anspricht, nämlich die der historischen Zeit, die den Figuren der tragedie classique (zu der sich Goethe hier bewußt zu rückwendet) verschlossen ist. Die Frage, von Eugenie - gestürzt und gerade aus einer Ohnmacht erwachend- im Halbbewußten formuliert, verweist auf die zen trale gattungsgeschichtliche Wende des Dramas. Denn nur scheinbar sind der König, der Herzog, die Hofmeisterin, der Weltgeistliche Tragödienfiguren alten Stils. Sie handeln nicht im hergebrachten Rahmen der tragedie classique (2], sondern sind Angegriffene, die reagieren, die sich in dieser Re-aktion ihrer Stellung und Situa tion erst bewußt geworden sind: Wenn ich bedenke, wie, verborgen, ihr [die Feinde des Königs] Zu mächtiger Parteigewalt euch hebt Und an die Stelle der Gebietenden Mit frecher List euch einzudrängen hofft. Nicht ihr allein; denn andre streben auch, Euch widerstrebend, nach demselben Zweck. So untergrabt ihr Vaterland und Thron; Wer soll sich retten, wenn das Ganze stürzt? (1255-1262) Wenn der Weltgeistliche hier den Plural »ihr« gebraucht, so wendet er sich nicht wie es scheinen mag - an eine Anzahl von Personen, die ihn umsteht, sondern an deren Repräsentanten, den Sekretär. Die apostrophierten »Gegenspieler« (»mäch tige Parteigewalt, andre ... auch«) sind also Kräfte, die- anonym- in der Tra gödie nicht als handelnde Figuren auftreten. Die Staatsaktion der tragedie clas sique, die sich unter gleichgestellten Personen sichtbar auf der Bühne darstellte, wird zur Intrige, zum Parteienkampf, in dem bedingende Kräfte wirken, die nicht mehr auf der Bühne als Figuren vorführbar sind, die aber das dort nach dem tra ditionellen Schema agierende Personal in Frage stellen und zur Selbstreflexion zwingen: Wie heftig wilde Gärung unten kocht, Wie Schwäche kaum sich oben schwankend hält (1657 f.) 1 Einleitung Selbstreflexion, die nun der tragedie classique gilt, heißt: Bewußtwerden der Standesstruktur dieser Gattung. Nicht mehr - etwa aus der Historie namentlich bekannte- Individuen treten innerhalb des hohen Standes auf, den die traditio nelle Theorie für ihr Personal fordert, sondern dieser spiegelt sich allein im Rang seiner Repräsentanten, der den individuellen Namen ersetzt: der König, der Her zog usw. Auch alle anderen Personen werden als Standeszugehörige eingeführt: der Weltgeistliche, die Hofmeisterin, die Xbtissin, der Gerichtsrat. Gegenüber dem genus grande, dessen Höhe so stets bewußt bleibt, ist die angreifende Gewalt leicht als eine >Von unten< wirkende zu identifizieren. Die Reflexion der Gattung, die wir im Ionewerden ihrer Figuren als sozial fixierte feststellen konnten, thematisiert die formale Ordnung der Gattung als inhaltliche. Ein Zerstörend-Chaotisches ist als Furcht im Bewußtsein und Reden der Figuren dauernd gegenwärtig. Trotz der noch geglüdtten Abgrenzung und Stilisierung - im Personal, im klassischen Duktus der Sprache - ahnt man die drohende Zerstörung: die Figuren fürchten sich vor ihrer politischen Zukunft; die Dimension der historischen Zeit gerät so in eine Form, die sie einst durch die klas sische Einheit der (Handlungs-)Zeit ausgeschlossen - wie ja auch die soziale Gleichartigkeit aller Figuren deren Standeszugehörigkeit im Halbbewußten der Konvention gehalten hatte. Zeit und Stand sind zwei Koordinaten des Bewußt seins: die eine erhellt die andere, wenn geschichtliche Veränderung sie in Frage stellt; wenn eine aufsteigende Macht die herrschende bedroht, kann diese sich als historisch und sozial begreifen. Beide Kategorien vereinen sich im Thema der Revolution. Dieser geschichtliche Inhalt, der Umsturz einer Gesellschaftsordnung, wird zugleich wieder zum gat tungspoetischen Problem. Jede Bedrohung der gattungsspezifischen Klasse richtet sich gegen die Gattung selbst. In der tragedie classique erscheint Revolution daher in ihrer äußerlich chaotischen Form. Im Dunkeln drängt das Künftge sich heran, ... [ ] Wenn ich beim Sonnenschein durch diese Straßen Bewundernd wandle, der Gebäude Pracht, Die felsengleich getürmten Massen schaue, ... [ ] Das scheint mir alles für die Ewigkeit Gegründet und geordnet; diese Menge Gewerksam Tätiger, die hin und her In diesen Räumen wogt, auch die verspricht, Sich unvertilgbar ewig herzustellen. Allein wenn dieses große Bild bei Nacht In meines Geistes Tiefen sich erneut, Da stürmt ein Brausen durch die düstre Luft, Der feste Boden wankt, die Türme schwanken, Gefugte Steine lösen sich herab, Und so zerfällt in ungeformten Schutt Die Prachterscheinung. [ ...] Das Element zu bändigen, vermag 2 Einleitung Ein tiefgebeugt, vermindert Volk nicht mehr, Und rastlos wiederkehrend füllt die Flut Mit Sand und Schlamm des Hafens Becken aus. (2783-2808) Mit seinen Räumen, der »Prachterscheinung«, wird der Stand und mit ihm die Gattung untergehen. Würde der Vorgang wirklich begriffener Inhalt, taugte die Gattung nicht mehr. Zunächst bleibt er Thema für die Figuren, d. h. Gegenstand ihres Nachdenkensund Redens und Ursache ihrer Selbstreflexion; zum Inhalt von Handlung und Geschehen könnte er erst dann werden, wenn die >von unten< zer störerisch emporsteigenden Mächte auch als Figuren ins Drama einzuführen wären. Sträubt sich das Personal der tragedie classique jedoch nicht gegen das Bewußt sein von der Fragwürdigkeit seiner Existenz, so sträubt sich doch die Gattung gegen die Einführung eines ihr bisher unbekannten Personals. Vom Ereignis der Revolution kann daher zwar in Bildern und Metaphern, nie aber direkt gespro chen werden: Verhaßt sei mir das Bleibende, verhaßt, Was mir in seiner Dauer Stolz erscheint, Erwünscht, was fließt und schwankt! Ihr Fluten, schwellt, Zerreißt die Dämme, wandelt Land in See! Eröffne deine Schlünde, wildes Meer, Verschlinge Schiff und Mann und Schätze! (1320-1325) Ausdrücklich spricht der König von der Notwendigkeit, den tatsächlichen Inhalt der chaotischen Zerstörung zu verdrängen: Gar vieles kann, gar vieles muß geschehn, Was man mit Worten nicht bekennen darf. (194 f.) ,. Was sprachlich nicht zu artikulieren ist, existiert nicht.« [ 3] Dieser Satz gilt für das Objekt wie für das Subjekt von Aussagen: was man »mit Worten nicht beken nen darf«, was ins Bild abgedrängt werden muß, kann nicht als handelnde Figur ins dramatische Geschehen eingreifen. Darum darf jene Figur, die Trägerin des gesellschaftlichen Umsturzes ist, das Volk, in der Tragödie nicht als Figur auf treten. Es tritt für die tragedie classique, in der alles Geschehen, jedes Problem im Dialog der Personen zum Austrag kommt, der ungewöhnlid1e Fall ein, daß sich etwas ereignet, daß etwas wirkt, was nicht benennbar und daher als Figur nicht darstellbar ist, also »nicht existiert«. Symptomatisch für die Verdrängung dieser eigentlich >notwendigen< Figur in einem Drama über Revolution ist in der N atür lichen Tochter der Übergang vom vierten zum fünften Aufzug. Zwischen dem Schluß des vierten und dem Beginn des fünften Aktes bittet Eugenie das Volk, ihr zu helfen. Während alle anderen Instanzen, die Eugenie um Schutz anfleht, auf der Bühne vor ihr erscheinen, wendet sie sich zwischen den Akten an die Menge. Um den Ausschluß dieser Szene zu motivieren, muß die Hofmeisterin danach das Verhalten des Volkes folgendermaßen beschreiben: Und riefst du nicht das Volk zur Hilfe schon? Es staunte nur dich an und schwieg und ging. (2396 f.) Sprachlosigkeit und Verständnislosigkeit werden dem Volk als Eigenschaften bei- 3 Einleitung gegeben. Eine nicht sprechende Figur ist aber in der Tragödie nicht existent. Träte sie stumm auf, müßte sie sich durch andere Mittel, etwa Gestik und Mimik, ver gegenwärtigen, eine der tragedie classique unmögliclte Ersclteinungsform einer dra matis persona. [ 4] Das Bedrohliche der potentiellen dramatis persona Volk für die tragedie clas sique hat seinen Grund in dem anscheinend unbestimmbaren, ordnungsstörenden, gewalttätigen und cltaotischen Charakter dieser Figur. 0 diese Zeit hat fürchterliche Zeichen: Das Niedre schwillt, das Hohe senkt sich nieder, Als könnte jeder nur am Platz des andern Befriedigung verworrner Wünsche finden, Nur dann sich glücklich fühlen, wenn nichts mehr Zu unterscheiden wäre, wenn wir alle, Von einem Strom vermischt dahingerissen, Im Ozean uns unbemerkt verlören. 0 laßt uns widerstehen, laßt uns tapfer, Was uns und unser Volk erhalten kann, Mit doppelt neuvereinter Kraft erhalten! Laßt endlich uns den alten Zwist vergessen, Der Große gegen Große reizt, von innen Das Schiff durchbohrt, das gegen äußre Wellen Geschlossen kämpfend nur sich halten kann. (361-375) Dem tragischen Helden, der seine Individualität im »ÜZe'iln [ ... ] unbemerkt« un tergehen sieht, erscheint der »vermischende Strom«, die reißende, scltwellende Be wegung, die die Trennung des Gattungspersonals in »Hohe« und »Niedre« aufzu heben droht, geradezu apokalyptisch (»fürchterliche Zeichen«). Deutliclt wiederholt Goethe dieses Bild von der chaotischen Wirkung der Revolution in einem hand scltrifdiclten Scltema zur Natürlichen Tochter: »IV. Gen[us] Aufgelöste Bande. Der letzten Form. Die Masse wird absolut. Vertreibt die Schwankenden. Erdrückt die Widerstrebenden. Erniedrigt das Hohe. Erhöhet das Niedrige. Um es wieder zu erniedrigen.« [5] Als äußere Katastrophe, als Natur ersclteint, was der Kunst gattung und ihrem Personal so wenig bekommt. Ein inhaltliclter Staatsbegriff und ein formaler Kunstbegriff, die beide im Ideal der Ordnung übereinkommen und siclt darin als restaurativ ausweisen, stehen der gestaltlosen Natur gegenüber. So hofft der Herzog, daß Eugenie, die Wohlgeborene, auch das Wohlgestaltete be gründe: [ ...] Rings umher Soll deine Hand ein Feenreich erschaffen. Den wilden Wald, das struppige Gebüsch Soll sanfter Gänge Labyrinth verknüpfen. Der steile Fels wird gangbar, dieser Bach, In reinen Spiegeln führt er hier und dort. Der überraschte Wandrer fühlt sich hier Ins Paradies versetzt. [ ...] (617-624) 1\hnliclt •idyllische< Vorstellungen - direkt auf soziale Verhältnisse bezogen - entwickelt der König: 4 Einleitung Bis an den letzten Herd im Königreich Empfände man des Vaters warme Sorge. Begnügte sollten unter niedrem Dach, Begnügte sollten im Palaste wohnen. (419-422) In einer wohlgeordneten und befriedeten Familie, in der dem unbezweifelten Oberhaupt noch ein gewisses Maß an Beweglichkeit in »warmer Sorge« bleibt, ließe sich ein positives Verhältnis zu den Leuten »unter niedrem Dach« denken. Das gleiche Idyll der Staatsfamilie entwirft der Mönch für Eugenie, der als Herrseherin bei »wilden Stämmen« (2767) ein mildtätiges Werk zu tun bestimmt sei. Hier entspricht der politischen und sozialen Bedeutungslosigkeit der Beherrsch ten die räumliche Ferne ihrer Wohnung. Sie warten dort auf einen »Vater«, der sie in ihrer nicht verschuldeten Unmündigkeit belassen und beherrsd1en sollte. Dergestalt vermag sich Goethe, dem schon im Rückgriff auf mittelalterliche Feu dalverhältnisse im Götz das Bild eines sozialen Idylls gelungen war, die unteren Schichten als positive Figuren vorzustellen. Ein protestierendes Volk aber kann seine Sympathie nur einmal - und hier auch nur in einer Zukunftsvision - im Egmont finden: »Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, hinweg!« (6, 100 f. - 5, [im Gefängnis]). Im übrigen er scheint es ihm als chaotische, sittenlose Naturgewalt: »Im ganzen ist es der unge heure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen Tälern gegeneinander stürzen und endlich das über steigen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zu grunde geht, wer sie vorgesehen hat so gut als der sie nid1t ahndete. Man sieht in dieser ungeheuren Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philoso phen so gern Freiheit nennen möchten.« [6) Goethe verwirklicht dieses Urteil über die Revolution im Bereich des Ästhetischen durch die Verwendung der traditionel len, geschlossenen Form der tragedie classique, deren Strenge es ihm ermöglicht, als Figur zu verdrängen, was er als Ereignis revidieren wollte. So kann Walter Benjamin dieses Drama in die Nachfolge der barocken Trauer spiele stellen, deren Form er in der Behandlung des Historischen wiederentdeckt, die dieses zum naturhaft-chaotischen Vorgang degradiert und Geschichte auf indi viduelle Leistung gründet: »So ist's [ ... ] nicht Zufall, wenn die Natürliche Toch ter, die weit entfernt ist, von der weltgeschichtlichen Gewalt des revolutionären Vorgangs, welchen sie umspielt, bewegt zu werden, ein >Trauerspiel< heißt. Inso fern aus dem staatspolitischen Ereignis zu Goethe nur das Grauen eines periodisch nach Art von Naturgewalten sich regenden Zerstörungswillens sprach, stand er dem Stoff wie ein Poet des siebzehnten Jahrhunderts gegenüber. Der antikische Ton drängt das Ereignis in eine gewissermaßen naturhistorisch verfaßte Vorge schichte; um dessentwillen übertrieb der Dichter ihn, bis er in einem lyrisch ebenso unvergleichlichen wie dramatisch hemmenden Spannungsverhältnis zur Aktion stand. Das Ethos des historischen Dramas ist diesem Goetheschen Werk genauso fremd, wie nur einer barocken Staatsaktion, ohne daß freilich, wie in dieser, der historische Heroismus zugunsten des stoischen abgedankt hätte. Vaterland, Freiheit 5

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