Dorfpolitik Die Autoren dieses Bandes: Dr. Hanl·Georg Wehling, Lehrbeauftragter fUr Politikwissenschaft an der Universitllt Tiibingen, Schriftleiter der Zeitschrift "Der Bllrger im Staat". Be1linostr. 118,7410 Reutlingen Prof, Dr. Hermann BauBinger, Direktor des Ludwig-Uh1and-Instituts fUr empirische Kulturwissenschaft an der Universitllt Tilbingen. Moltkestr. 77, 6410 Reut1ingen Prof, Dr. Herbert Schwedt, lehrt Volkskunde an der Univenitllt Mainz. Baumschulenweg 26, 6504 Oppenheim Dr. Utz Jeggle, Wiss. Assistent am Ludwig-Uhland-Institut fUr empirische Kulturwis senschaft an der Universitllt Tilbingen. Schulentr. 6, 7407 Rottenburg 1 Dr. theol. Dr. rer. lOC. Albert Bien, lehrt an der Piidagogischen Hochschule Nieder sachsen, Abt. Hannover. Elsterweg 6, 7407 Rottenburg 6 Prof, Dr. Axel Werner, lehrt Stadtsoziologie an der Fachhochschule Wiesbaden, Lehrbeauftragter fUr Soziologie an der Universitllt Mainz. Romerberg 23, 6200 Wiesbaden Dr. Christel Kohle·Hezinger, Lehrbeauftragte fUr empirische Kulturwissenschaft an der Univenitllt Ttibingen. Kelterstr. 55, 7300 Esslingen-8u1zgries H..Jorg Siewert, M.A., Wiss. Assistent am Forschungsinstitut fUr Soziologie der Uni versitllt Koln. Talspemmstr. 21,5257 Bergneustadt 1 Prof, Dr. KarI·Heinz Naft'ftlllcher, lehrt Politikwissenschaft an der Univenitllt Olden burg. Alma-Rogge-8tr. 14,2900 Oldenburg Prof, Dr. Dr. Herbert Schneider, lehrt Politikwissenschaft an der Piidagogischen Hochschule Heidelberg, ist Gemeinderat in Neckargerach (Odenwaldkreis). Amt Gertberg 29, 6934 Neckargerach Hans-Georg Wehling (Hrsg.) Dorfpolitik Fachwissenschaftliche Analysen und didaktischeHilfen Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen 1978 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dorfpolitik: fachwissenschaftl. Analysen u. didakt. Hi1fen I hrsg. von Hans-Georg Wehling. - 1 Aufl. - Opladen: Leske und Budrich, 1978. (Analysen; 22) ISBN 978-3-322-93715-5 ISBN 978-3-322-93714-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93714-8 NE: Wehling, Hans-Georg [Hrsg.] © 1978 by Leske Verlag + Budridt GmbH Satz: Volker Spiess, Berlin Gesamtherstellung: Color-Druck, G. Baucke . Berlin Inhalt Hans-Georg Wehling Dorfpolitik Eine Einflihrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hermann Bausinger Dorf und Stadt - ein traditioneller Gegensatz Erscheinungsformen, Herkunft, sozialOkonomischer Hintergrund und RUckwirkungen einer Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 18 Herbert Schwedt Auf dem Lande leben Die vier unterschiedlichen Bedeutungen von "Land" heute . . . . .. 38 Urs leggle/Albert flien Die Dorfgemeinschaft als Not-und Terrorzusammenhang Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozial- psychologie seiner Bewohner ......................... 38 Christel Kahle-Hezinger Lokale Honoratioren Zur Rolle von Pfarrer und Lehrer im Dorf . . . . . . . . . . . . . . . .. 54 H. -larg Siewert Der Verein Zur lokalpolitischen und sozialen Funktion der Vereine in der Gemeinde ................................ " 65 Herbert Schwedt Das Dorf im Verstidterungsprozei Die Phasen des sozialen Wandels auf dem Dorfe und die ungelOsten Probleme des menschlichen Zusammenlebens 84 Hans-Georg Wehling/Axel Werner "Schlafgemeinden" Integrations-und Identitiitsprobleme kleiner Gemeinden im Ballungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 Herbert Schneider Trivial? Der Handlungs-und Entscheidungsraum dorflicher Gemeinden abseits der Verdichtungsriiume ........................ 111 Karl-Heinz Napmacher/Wolfgang Rudzio Das lokale Parteiensystem auf dem Lande Dargestellt am Beispiel der Rekrutierung von Gemeinderiiten .... 127 Hans-Georg Wehling/Axel Werner "AUes Dorf" und neue Siedlung Konstanz und Wandel im politischen Prozeill der kleinen Gemeinden im Ba11ungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 143 Roland Hahn/Rosemarie Wehling/Hans-Georg Wehling Das Postu1at nach der G1eichwertigkeit der Lebensverhiiltnisse Hinweise zur Analyse von Stadt-Land-Disparitaten im Unterricht .. 151 Hans-Georg Wehling "Dorfpolitik " Eine Einftihrung 1. Die Notwendigkeit einer Politik des landlichen Raumes Die Probleme liindlicher Riiume werden in der Bundesrepublik bislang zu wenig beachtet, das Land wird stiefmiitterlich behandelt. Das gilt fiir Politik, politische 6ffentlichkeit, aber auch fiir die Sozialwissenschaften. Das Land und seine ihm eigenen Probleme standen bislang ganz im Schat ten der Probleme stiidtischer Agglomerationen, der Verdichtungsriiume, die seit Jahren lauthals diskutiert werden und die in dem Ruf"Rettet un sere Stiidte jetzt!" des Stiidtetags von 1971 ihre giingige und ins allge meine Bewul.\tsein gedrungene Formel fanden. Dabei sind die Probleme der liindlichen Riiume nicht geringer, sondern nur weniger beachtet. Ja, beide stehen sogar in enger Verkniipfung miteinander, sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille: Was auf der einen Seite zunehmende Verdichtung ist, bedeutet fiir die andere anhaltende Entleerung, die Sog wirkung des Ballungsraums fiihrt zu Entvolkerung und im Gefolge damit zur "sozialen Erosion" des Landes. Dieser Zusammenhang wird vielfach verkannt. Die Losung der Probleme un serer Verdichtungsriiume kann folglich nicht isoliert in Angriff genommen werden, Politik mul.\ beide zu sammen, mit einer Gesamtkonzeption, zu losen versuchen.1 Vor einigen Jahren wurde von Rolf-Richard Grauhan die "Politik der Verstiidterung" als eigener Politikbereich wissenschaftlich entdeckt.2 Nun ist es an der Zeit, auch eine Politik des liindlichen Raumes zu ent wickeln und sie der Politik der Verstiidterung - im Sinn der geforderten Gesamtkonzeption - an die Seite zu stellen. Damit gilt es, das "Denk defizit" als Ursache des Planungsdefizits zu iiberwinden.3 1 Der bislang - soweit wir sehen - beste und immer noch allein dastehende Ver such, die Probleme liindlicher Riiume zu fassen, ist das von der Konrad-Ade nauer-Stiftung herausgegebene und von dessen Institut fUr Kommunalwissen schaften verf~te Buch: Entwicklung liindlicher Riiume, Bonn 1974, auf das wir uns beziehen. 2 VgI. Rolf-Richard Grauhiln, Georg W. Green, Wolf Linder, Wendelin Strubelt, Politikanalyse am Beispiel des Verstiidterungsproblems, in: Politische Viertel jahresschrift (PVS), 12. )g., 1971, S. 413-451, und Rolf-Richard Grauhan, Wolf Linder, Politik der Verstiidterung, Fischer Atheniium Taschenbuch 4030, Frankfurt/M. 1974. - D~ letztlich nur eine Gesamtkonzeption weiterhelfen kann, sehen auch Grauhan/Linder, Politik der Verstiidterung, S. 49 f. 3 VgI. Entwicklung liindlicher Riiume, S. XVIII 7 Zu fragen ist, warum der llindliche Raum als eigener Problem-und da mit Politikbereich bislang so stiefmUtterlich behandelt worden ist. Zu nlichst einmal ist der Zugang ideologisch verbaut, indem man die nega tiven Folgen der Industrialisierung in der Stadt, speziell in der Grol.)stadt, lokalisierte und sie sogar mit diesen Folgeerscheinungen identifizierte. So wurde dann der Stadt als dem Unorganischen, KUnstlichen, Ungesunden und Entarteten das Land als das Organische, Gewachsene, NatUrliche und Gesunde kontrastierend gegenUbergestellt - unbekUmmert urn den Wirk lichkeitsgehalt. Davon legen Dichtung wie Trivialliteratur, ja sogar sozio logische Deutungsversuche Zeugnis abo Eine "heile Welt" aber kann keine Probleme haben, sie mUssen folgerichtig Ubersehen werden. Was sich nicht Ubersehen liel.) wie Krisenerscheinungen auf dem Agrar markt, wurde als Wirtschaftsproblem definiert und isoliert mit Hilfe eines ausgebauten Systems agrarpolitischer Mal.)nahmen zu losen versucht. - Die Bildungspolitik liefert ein weiteres Beispiel fUr isolierte Betrachtung& weise: Als sich die mangelnden Bildungschancen auf dem Lande nicht mehr Ubersehen liel.)en, ging man tatkrliftig daran, leistungsflihigere Mit telpunktschulen und neue weiterfUhrende Schulen auf dem Lande zu schaffen. Die Erfolge konnten sich, in Prozenten gemessen, sehen lassen. Ubersehen wurde dabei, dal.) damit die Probleme des Landes nur verschlirft wurden: Wegen mangelndem Arbeitsplatzangebot fUr Qualifizierte wan derten die Nutzniel.)er der Bildungspolitik in die Verdichtungsrliume abo Es kommen aber noch andere GrUnde hinzu, warum vorrangig - und leider eben auch isoliert - die Probleme der stlidtischen Aggiomerationen gesehen wurden, das Land jedoch in den toten Winkel geriet: Die Probleme derVerstliderung fallen besser ins Auge, sie treten massiert auf engstem Raum auf, sie verbergen sich nicht in den Weiten der LUne burger Heide oder Niederbayerns. Die Massenmedien haben ihre Standorte in den Stlidten, auf dem Land sitzen nur Aul.)enposten (vielfach nur in Gestalt nebenamtlicher Redak teure, die sich z.B. ein Zubrot zum Lehrergehalt verdienen). Von daher werden die stlidtischen Probleme besser vermittelt als die llindlichen. Hinzu kommt, daJ.) sich die Stlidter auch besser artikulieren konnen als die Bewohner des Landes; wegen der rliumlichen Nlihe ist die Kommuni kation leichter moglich, selbst telefonische Kontakte sind nur Ortsge sprliche, wlihrend auf dem Lande gleich ein teures Ferngesprlich flillig ist. Der Bildungsvorsprung gibt dem Stlidter ferner einen Artikulations vorsprung. Die Entstehung und die grol.)e Zahl der BUrgerinitiativen in den Stlidten kann als Beleg herangezogen werden. Schliel.)lich haben die Politiker die Probleme der stlidtischen Agglome rationen auch als drlingender wahrgenommen: wegen der groJ.)eren Zahl (von Wlihlern) und der hOheren Explosivitlit. 2. Die Inhalte einer Politik des landlichen Raumes Was mUJ.)te nun Inhalt einer Politik des llindlichen Raumes sein? Glo bal betrachtet solI es der Politik des llindlichen Raumes darum gehen, die 8 Probleme, die der liindliche Raum - in wechselseitiger Abhiingigkeit von den Problemen des Verdichtungsraumes - hat, lOsen zu helfen. Dazu gehort: I. Die Probleme des liindlichen Raumes zu erkennen und zu benennen Der erste Schritt dazu ist, zu erkennen, daJl, das "Land" keine homo gene Einheit ist, sondem differenziert betrachtet werden muJl,; je nach spezieller Lage und Funktion des jeweiligen liindlichen Raumes. Gerade zu einer solchen differenzierten Problemwahmehmung und -benennung haben Raumordnung und Landesplanung bei uns oft den Blick verstellt, indem das "Land" als Restkategorie behandelt worden ist. Land ist da nach alles, was nicht Stadt und Verdichtungsraum ist. FUr Ballungs-bzw. Verdichtungsraum werden - je nach Autor - verschiedene Definitions merkmale angeboten4; wo sie nicht zutreffen, haben wir es mit "Land" oder ,,liindlichem Raum" zu tun. Damit aber wird iibersehen, daJl, Dorfer in der Eifel oder im Bayerischen Wald andere Probleme haben als Arbei terwohngemeinden vor den Toren Kolns oder Hamburgs, Fremdenver kehrsorte an der Ostsee oder im Be~chtesgadener Land andere Probleme als Marschdorfer in Ostfriesland oder Weinbaugemeinden im Rheingau. 1st z. B. fUr eine Gemeinde im hessischen Vogelsberggebiet die Entleerung mit der sozialen und infrastrukturellen Erosion in ihrem Gefolge das Problem, so fUr ein Dorf im Einzugsbereich von Frankfurt der iiberbor dende Zustrom von Zuziiglem aus dem "platten" Lande und von "GroJl, stadtfliichtlingen" aus der Metropole, ein Zustrom, der iiberkommenes Sozialgefiige und Leistung der Infrastruktur zusammenbrechen liiJl,t. Land also ist nicht gleich Land, exakter noch als vom liindlichen Raum zu reden wire es, von liindlichen Riiumen im Plural zu sprechen, wobei die jeweilige Zuordnung nach der entsprechenden Funktion zu treffen wire. 2. Vorschliige zur Problemlosung erarbeiten und diskutieren Vorschliige zur Problemlosung sind das eigentliche Ziel einer Politik des liindlichen Raumes. Sie setzen aber die Problembenennung als vor aufgehenden Schritt voraus. Problemlosungsvorschliige lassen sich nicht unterbreiten, ohne daJl, man schon bislang (durch Raumordner und Lan desplaner) gemachte Losungsvorschliige und Programme erortert und fragt, warum sie evt!. nicht greifen oder zu nicht angemessenen Ergebnis sen fiihren. Dabei miissen die jeweiligen - ausgesprochenen wie unausge sprochenen - politischen Zielsetzungen herausgearbeitet werden. So ist z. B. augenfiillig, daJl, Raumordnungsprogramme und Landesentwicklungs pliine die Entleerung der Gebiete abseits der Verdichtungsriiume nicht verhindem konnten. Die staatliche Verwaltungsreform als Gebietsre- 4 Vg l. Gerhard Isenberg, Die Ballungsgebiete in der BundesrepubUk, 1957, und Raumordnungsbericht 1972 der Bundesregierung, Bonn 1972, S. 62 f. 9 forms hat versucht, die Defizite liindlicher Riiume durch Vergro~erung der Einheiten abzubauen. Dadurch sollte die Mindestbenutzerzahl von Infrastruktureinrichtungen (wie Schule oder Schwimmbad) gesichert und die notige Verwaltungskraft der Gemeinde erreicht werden. Doch der Erfolg solcher eher reaktiver Ma~nahmen ist fragwiirdig, einer stiindigen GroBerschneiderung von Gemeinden und Kreisen bei anhaltender Entlee rung sind irgendwann einmal Grenzen gesetzt. 3. Denk- und Verhaltensstrukturen und politische Ablaufmuster auf dem Lande wahrnehmen und wiirdigen Will man den liindlichen Riiumen bei der Bewiiltigung ihrer Probleme helfen, muB man sich fragen, ob hier nicht jeweils spezifische Denk-und Verhaltensstrukturen und - in Verbindung damit - eigenstiindige poli tische Ablaufmuster gelten. So geht es darum, das Dorf als eigenstiindige Lebensform wahrzunehmen, mit seinen ihm eigenen Strukturbedingun gen, die sich aus seiner Gro~e, seinen geschichtlichen Erfahrungen, sei nem Umgang mit der "Natur" und seiner traditionellen Wirtschaftsform ergeben.6 Dieselben Variablen wirken sich auf den politischen ProzeB aus, der hier moglicherweise seine eigenstiindige Auspriigung aufweist. Wir sollten nicht au~er acht lassen, daB die bekannten Strukturen poli tischer Willensbildung wie etwa die Rolle der Parteien, wie sie bei uns gelehrt werden, am Beispiel verstiidterter Riiume entwickelt worden sind und somit keineswegs ausgemacht ist, daB sie auch fiir das Dorf im liind lichen Raum gelten. Dabei wiire zu fragen, ob solche spezifischen Struk turen und Verlaufsmuster nicht teilweise auch im EinfluBbereich der Ver dichtungsriiume weiter existieren. Das Herausarbeiten der Besonderheiten von Politik im Dorf ist allein schon deswegen ein zentraler Bestandteil einer Politik des liindlichen Raumes, weil Losungsvorschliige an den Betroffenen vorbei nicht ver wirklicht werden konnen. Beim gegenwiirtigen Diskussionsstand und der Forschungslage, aber auch vom vergleichsweise eingeschriinkten Rahmen der Reihe her ge sehen, in der das Buch erscheint, ist es notwendig, sich auf den Bereich der Problembenennung und der Analyse von Denk- und politischen Wil lensbildungsmustern zu beschriinken. Dabei haben wir dem letzten Be reich - den spezifischen Denk- und Verhaltensstrukturen und den poli tischen Ablaufmustern - den Vorrang gegeben. Von daher der Titel "Dorfpolitik", der aber noch einer zusiitzlichen Rechtfertigung im Rah men einer kurzen definitorischen Eroterung bedarf. 5 Zum Thema Gebietsreform vgl. Rosemarie und Hans-Georg Wehling, Gemein dereform, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Kommunalpolitik, Hamburg 1975, S.12-42 6 Ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) lauft zur Zeit am Ludwig-Uhland-Institut fUr Empirische Kulturwissenschaft der Universitat Tii bingen. Der Aufsatz von Jeggle/Ilien in diesem Buch ist ein Produkt dieses For schungsprojektes. Noch fUr dieses Jahr angekiindigt ist von denselben Autoren das Buch: "Leben auf dem Dorf". 10