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Dissertation Absolutes und nichtabsolutes Hören Einflussfaktoren auf das Erinnern von Tonarten PDF

195 Pages·2006·0.89 MB·German
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Humboldt-Universität zu Berlin Dissertation Absolutes und nichtabsolutes Hören Einflussfaktoren auf das Erinnern von Tonarten zur Erlangung des akademischen Grades doctor rerum naturalium (Dr. rer. nat) Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät II Dipl.-Psych. Kathrin B. Schlemmer geb. am 18. März 1973 in Berlin Dekan: Prof. Dr. Uwe Küchler Gutachter: 1. Frau Prof. Dr. Elke van der Meer 2. Herr Prof. Dr. Wolfgang Auhagen 3. Herr Prof. Dr. Oliver Vitouch eingereicht: 15. April 2005 Datum der Promotion: 6. Juli 2005 I Zusammenfassung In der vorliegenden Arbeit wurde mit einer Reihe von Experimenten geprüft, ob sich die Ton- arterinnerung von Nichtabsoluthörern durch aus der Gedächtnisforschung abgeleitete Ein- flussfaktoren erklären lässt. Zunächst erfolgte eine theoretische Betrachtung des Tonartge- dächtnisses sowohl aus musikpsychologischer als auch aus gedächtnispsychologischer Per- spektive. Die Analyse von Befunden zum „latenten“ und „echten“ absoluten Gehör zeigte, dass eine Reihe von potenziellen Einflussfaktoren auf die Tonarterinnerung betrachtet wer- den muss, um herauszufinden, ob es sich bei diesen beiden Phänomenen um unterschiedli- che Ausprägungen derselben Fähigkeit handelt. Um den Einfluss von Faktoren der Melodien, der Melodie-Lernenden und der Art des Melo- die-Lernens auf die Tonarterinnerung zu prüfen, wurden insgesamt 268 Probanden gebeten, vertraute Melodien aus dem Gedächtnis zu singen. Unabhängige Variablen waren die musi- kalische Expertise der Probanden, ihre Fähigkeit Töne zu benennen, die Form und die Inten- sität des dem Experiment vorangegangenen Melodie-Lernens sowie verschiedene Charakte- ristika der Melodien. Abhängige Variable war die Genauigkeit, mit der die Originaltonarten der Melodien produziert wurden. Es konnten Effekte der Hör-Häufigkeit, der musikalischen Expertise, der Tonbenennung, der Melodie-Eingängigkeit sowie ein Effekt motorischer Kon- textinformationen auf die Genauigkeit der Tonarterinnerung nachgewiesen werden. Um den Häufigkeitseffekt mit einer weiteren Anforderung zu untersuchen, wurde in einem weiteren Experiment die Tonbenennungsleistung von Absoluthörern und Nichtabsoluthörern verglichen. Dabei kam die Methode der Pupillometrie zum Einsatz, um Unterschiede in der mentalen Beanspruchung beim Benennen von Tönen unterschiedlicher Klangfarbe und Ton- klasse nachweisen zu können. Die Ergebnisse stützen die Annahme, dass das häufige Hö- ren bestimmter Töne sowohl bei Absoluthörern als auch bei Nichtabsoluthörern die Tonbe- nennung erleichtert. Dies verweist darauf, dass auch bei der musikspezifischen Aufgabe der Tonbenennung ein so grundlegendes Prinzip des menschlichen Gedächtnisses wie die Sta- bilisierung von Gedächtnisinhalten durch Wiederholung zum Tragen kommt. Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Tonarterinnerung ein komplexes Phäno- men ist, für das eine alleinige Erklärung als „latentes absolutes Gehör“ zu kurz greift. Statt einer schwachen Ausprägung einer hochspezialisierten Fähigkeit scheint es sich eher um eine eigene Form des Erinnerns, die auf allgemeingültigen Gedächtnisprinzipien beruht, zu handeln. Schlagworte: Melodiegedächtnis, absolutes Gehör, Tonartgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis II Abstract In this thesis, memory for musical keys among absolute pitch nonpossessors, which is often referred to as “latent” absolute pitch, is examined. A theoretical analysis focused on existing research about “latent” and “manifest” absolute pitch. Evidence from music-psychological and general memory research as well as neuropsychological evidence was considered. The review of existing research revealed that several factors are potentially relevant for the mem- ory of musical keys and should be considered in trying to determine whether “latent” and “manifest” absolute pitch can be described as different levels of the same ability on an “abso- lute pitch continuum”. To examine whether characteristics of learned melodies, of melody-learners, and of melody- learning influence memory for musical keys among absolute pitch nonpossessors, 268 par- ticipants were asked in a series of experiments to sing familiar melodies from memory. Inde- pendent variables were the musical expertise of participants, their ability to label pitches, type and intensity of melody-learning, and characteristics of the learned melodies. The accu- racy with which learned melodies could be produced in the original key was the dependent variable. Results revealed that frequency of melody-learning as well as participants’ musical expertise and ability to label pitches influence the accuracy of key production. Whether or not a melody is catchy as well as the existence of different types of motor imagery are further influencing factors for the accuracy of key production. To examine the frequency-of-hearing effect in more detail, another experiment compared the pitch labeling performance of absolute pitch possessors and nonpossessors. Pupillary re- sponses were measured in order to show differences in mental resource allocation when labeling pitches of different key colors or timbres. Results support the assumption that fre- quent exposure to pitches of certain key colors or timbres facilitate their labeling among both absolute pitch possessors and nonpossessors. This suggests that basic principles of human memory such as learning by frequency of exposure affect also very specific tasks such as pitch labeling. Taken together, the results suggest that memory for musical keys is a complex phenomenon which can not adequately be described as being simply a “latent” or weak form of absolute pitch. Instead, memory for musical keys can be described as a “normal” memory mechanism, influenced by factors known to influence numerous other forms of human memory. Keywords: Tune memory, absolute pitch, memory for musical keys, long term memory, working memory III für Mathilda IV Danksagung Die vorliegende Arbeit, insbesondere die Durchführung der Experimente, wäre ohne die Hilfe zahlreicher Personen nicht möglich gewesen, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Mein Dank gilt an erster Stelle meiner Betreuerin, Prof. Dr. Elke van der Meer. Bei ihr fand ich jederzeit ein offenes Ohr für alle theoretischen und praktischen Fragen, die im Laufe der Arbeit entstanden sind. Ich habe mich bei ihr und am Lehrstuhl für Kognitive Psychologie der Humboldt Universität wissenschaftlich und menschlich sehr gut aufgehoben gefühlt und möchte mich für die vielen fruchtbaren Diskussionen im Forschungskolloquium bedanken. Ebenso möchte ich auch Prof. Dr. Oliver Vitouch, Prof. Dr. Wolfgang Auhagen und Prof. Dr. Christian Kaernbach für zahlreiche Tipps und hilfreiche Diskussionen in allen Phasen dieser Arbeit sehr herzlich danken. Für die Unterstützung bei der Datenerhebung möchte ich mich bei Franziska Kulke, Maria Deutschmann, Melanie Radalewski, Kathleen Nepp, Bettina Wagner, Gigliola Danko, Marie Melzer, Vivien Melcher, Charlotte Krug, Anja Horn, Elke Sellnau, Anne Reißmann, Dorothea Ullwer, Falk Nindel, Johanna Schattkowsky, Stefanie Cuff und Tina Gooren bedanken. An meinen Experimenten zur Ton- und Tonarterinnerung haben zahlreiche Chorsänger, Mu- siker und Freunde ohne eine finanzielle Entschädigung teilgenommen. Für ihre Geduld und ihr Interesse möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Ich danke auch Ralf Sochaczewsky, Frank Markowitsch, Ud Joffe und Herbert Hildebrandt für die Hilfe beim Rekrutieren von Ver- suchsteilnehmern in ihren Chören. Katrin Kobin möchte ich für ihren unermüdlichen Eifer bei dem Versuch, die Schüler des Droste-Hülshoff-Gymnasiums für die Versuchsteilnahme zu begeistern, danken. Ich danke auch Herrn Zajonc von der Anna-Freud Oberschule. Für die geduldige Beurteilung von über 100 Melodie-Ausschnitten bedanke ich mich sehr herzlich bei Prof. Hartmut Fladt, Mirjam Schlemmer und Clemens Schlemmer. Für die Unterstützung beim Herstellen der Musikbeispiele möchte ich Ulrich Naudé, Ralf So- chaczewsky, Maike Bühle, Hans-Joachim Maempel und Peter Sonntag danken. Dem MPI für Bildungsforschung danke ich für die großzügige Überlassung ihres Clavinovas. Für ihre Be- ratung in Fragen der statistischen Auswertung danke ich Prof. Dr. Jürgen Bortz, Dr. Stefan Klein und besonders Lars Kuchinke. Für die unschätzbare Hilfe beim Programmieren der Experimente in Matlab danke ich Dirk Neumann. Für die Förderung dieser Arbeit möchte ich dem evangelischen Studienwerk Villigst sehr herzlich danken. Außerdem möchte ich mich bei Sabine Schulz für ihre organisatorische Unterstützung und ihr offenes Ohr während meiner Arbeitspausen bedanken. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern für die ideelle und tatkräftige Unterstützung während des Entstehens dieser Arbeit bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Clemens Schlemmer, der mir in allen Phasen der Arbeit und besonders im letzten Jahr ein guter Be- gleiter war, mir den Rücken freigehalten und mich darin bestärkt hat, dass dies der richtige Weg ist! V Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung...................................................................................................II Abstract....................................................................................................................III Danksagung..............................................................................................................V Einleitung..................................................................................................................1 1 Vom Ton zur Melodie........................................................................................2 2 Charakterisierung des absoluten Gehörs....................................................... 9 2.1 Definitionen...............................................................................................................9 2.2 Erfassungsmethoden und typische Befunde..........................................................10 2.2.1 Tonidentifikation..............................................................................................10 2.2.2 Tonproduktion.................................................................................................11 2.2.3 Gedächtnisaufgaben.......................................................................................12 2.2.4 Implizite Aufgaben..........................................................................................13 2.3 Neuropsychologische Befunde...............................................................................15 2.3.1 Morphologische Besonderheiten bei Absoluthörern.......................................16 2.3.2 Funktionelle Besonderheiten bei Absoluthörern.............................................17 2.4 Was macht absolutes Hören aus und wie entsteht es?..........................................19 3 Absolutes Gehör als Kontinuumsleistung.................................................... 23 3.1 Latentes absolutes Gehör......................................................................................25 3.1.1 Wiedererkennung von Tonarten.....................................................................26 3.1.2 Produktion von Tonarten................................................................................29 3.1.3 Produktion gesprochener Sprache.................................................................33 3.1.4 Das Tritonus-Paradox als Hinweis auf latentes absolutes Gehör...................35 3.2 Absolutes Gehör als Kontinuumsleistung?.............................................................36 4 Musik in der Gedächtnisforschung ............................................................... 40 4.1 Kategorisierung von Gedächtnissystemen.............................................................40 4.2 Deklaratives Gedächtnis: episodisches und semantisches Wissen.......................41 4.3 Gedächtnisprozesse beim deklarativen Erinnern...................................................42 4.3.1 Enkodierung....................................................................................................43 4.3.2 Speicherung....................................................................................................43 4.3.3 Abruf...............................................................................................................45 4.3.4 Vergessen.......................................................................................................47 4.4 Formen nichtdeklarativen Erinnerns.......................................................................48 4.4.1 Priming............................................................................................................49 4.4.2 Wahrnehmungslernen....................................................................................49 4.4.3 Emotionales Lernen........................................................................................51 4.4.4 Fertigkeiten und Gewohnheiten......................................................................51 4.4.5 Motorische Gedächtnisinhalte........................................................................52 VI 5 Fragestellung & Hypothesen der Untersuchungen...................................... 57 5.1 Hypothesen zur Tonarterinnerung von Nichtabsoluthörern....................................58 5.2 Hypothesen zur Tonerinnerung von Absolut- und Nichtabsoluthörern...................59 5.3 Überblick über die Experimente..............................................................................60 6 Verbreitung von Tonartrepräsentationen...................................................... 62 6.1 Methodik der Produktions-Experimente..................................................................62 6.2 Ausgangspunkt Levitin (1994): Erinnerung an persönliche Lieblingslieder............65 6.2.1 Stichprobe.......................................................................................................65 6.2.2 Produzierte Melodien......................................................................................65 6.2.3 Besonderheiten bei der Versuchsdurchführung.............................................66 6.2.4 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................66 6.2.5 Ergebnis und Diskussion................................................................................67 6.3 Kurzzeitig gelernte Melodien: Schüler....................................................................68 6.3.1 Stichprobe.......................................................................................................68 6.3.2 Produzierte Melodien......................................................................................68 6.3.3 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................69 6.3.4 Ergebnis und Diskussion................................................................................70 6.4 Kurzzeitig gelernte Melodien: Chorsänger..............................................................71 6.4.1 Stichprobe.......................................................................................................71 6.4.2 Produzierte Melodien......................................................................................72 6.4.3 Besonderheiten bei der Versuchsdurchführung.............................................72 6.4.4 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................72 6.4.5 Ergebnis und Diskussion................................................................................73 6.5 Erinnerung an über längere Zeit gelernte Melodien...............................................74 6.5.1 Stichprobe.......................................................................................................74 6.5.2 Produzierte Melodien......................................................................................74 6.5.3 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................75 6.5.4 Ergebnis und Diskussion................................................................................75 6.6 Erinnerung an einen Werbejingle...........................................................................76 6.6.1 Stichprobe.......................................................................................................76 6.6.2 Produzierte Melodie........................................................................................77 6.6.3 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................77 6.6.4 Ergebnis und Diskussion................................................................................77 6.7 Erinnerung an die eigene Handymelodie ...............................................................78 6.7.1 Stichprobe.......................................................................................................78 6.7.2 Produzierte Melodien......................................................................................78 6.7.3 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................79 6.7.4 Ergebnis und Diskussion................................................................................79 6.8 Erinnerung an ein Instrumental-Konzert.................................................................80 6.8.1 Stichprobe.......................................................................................................80 6.8.2 Produzierte Melodien......................................................................................81 6.8.3 Besonderheiten bei der Datenauswertung.....................................................81 6.8.4 Ergebnis und Diskussion................................................................................82 6.9 Zusammenfassende Diskussion der Produktions-Ergebnisse...............................83 6.10 Methodik der zusammenfassenden Analyse..........................................................85 6.10.1 Charakterisierung der Versuchspersonen......................................................85 6.10.2 Charakterisierung der Lern-Faktoren..............................................................87 6.10.3 Charakterisierung der Melodien......................................................................87 VII 6.11 Ergebnisse der zusammenfassenden Analyse.......................................................90 6.11.1 Expertise- und Tonbenennungseffekte...........................................................93 6.11.2 Einfluss der Lernfaktoren................................................................................94 6.11.3 Einfluss der Melodie-Merkmale......................................................................95 6.11.4 Interaktionen zwischen den Einflussfaktoren..................................................97 6.12 Diskussion der zusammenfassenden Analyse.......................................................98 7 Zur Vertrautheit beim intentionalen Melodielernen.................................... 101 7.1 Methode................................................................................................................101 7.1.1 Charakterisierung der Stichprobe.................................................................101 7.1.2 Gelernte Melodien........................................................................................102 7.1.3 Lernphase.....................................................................................................102 7.1.4 Abrufphase: Experiment...............................................................................103 7.1.5 Herstellung des Versuchsmaterials..............................................................104 7.1.6 Besonderheiten bei der Versuchsdurchführung...........................................105 7.1.7 Datenanalyse................................................................................................105 7.2 Ergebnisse............................................................................................................106 7.2.1 Produktionsaufgabe......................................................................................106 7.2.2 Wiedererkennungsaufgabe...........................................................................107 7.2.3 Tonarterinnerung, Tonbenennung & musikalische Expertise.......................111 7.3 Diskussion der Ergebnisse...................................................................................113 8 Zur Vertrautheit bei der Tonbenennung...................................................... 116 8.1 Methode................................................................................................................120 8.1.1 Charakterisierung der Stichprobe.................................................................120 8.1.2 Reizmaterial..................................................................................................120 8.1.3 Ablauf des Experiments................................................................................121 8.1.4 Geräte...........................................................................................................123 8.1.5 Analyse der Pupillenrohwerte.......................................................................124 8.2 Ergebnisse............................................................................................................125 8.2.1 Klassifikation der Vpn anhand der Verhaltensdaten.....................................125 8.2.2 Hypothesenbezogene Auswertung der Verhaltensdaten.............................127 8.2.3 Hypothesenbezogene Auswertung der Pupillendaten..................................128 8.3 Diskussion............................................................................................................131 9 Motorische Gedächtnisinhalte bei der Tonarterinnerung.......................... 136 9.1 Abruf von Instrumentalmusik................................................................................137 9.1.1 Methode........................................................................................................137 9.1.2 Ergebnisse....................................................................................................139 9.1.3 Diskussion....................................................................................................146 9.2 Produktion mit Interferenzaufgaben bei Chorsängern und Laien.........................149 9.2.1 Methode........................................................................................................149 9.2.2 Spezifische Hypothesen für die beiden Stichproben....................................152 9.2.3 Ergebnisse....................................................................................................153 9.2.4 Diskussion....................................................................................................161 9.3 Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse beider Experimente.................163 10 Zusammenfassung und Diskussion der Hauptergebnisse........................ 166 Literatur................................................................................................................. 173 VIII Einleitung In der vorliegenden Arbeit geht es um einen besonderen Aspekt des Musikgedächtnisses: die Erinnerung an absolute Tonhöhen durch nicht absolut hörende Personen. Von vielen aktiv Musizierenden wird das Vorhandensein eines impliziten Tonart-Gedächtnisses schon seit längerer Zeit vermutet, und in jüngerer Zeit wurde es experimentell auch an Nichtmusi- kern beobachtet. Ein Beispiel für das Vorhandensein eines impliziten Tonart-Gedächtnisses ist die Antizipation des Anfangs vertrauter Melodien oder Tonfolgen, wie z.B. der Begrüs- sungs“melodie“ kurz vor dem morgendlichen Einschalten des eigenen Computers. Achtet man auf die Übereinstimmung der Anfangstöne solcher Melodie-Antizipationen und der kurz darauf erklingenden Originalfassung, so lässt sich häufig eine verblüffende Übereinstimmung feststellen. Vor rund 10 Jahren erbrachte Levitin (1994) mit einem seitdem oft zitierten Experiment den wissenschaftlichen Nachweis, dass sich auch der musikalische Laie an Tonarten hoch ver- trauter Melodien erinnern kann. Obgleich es einige Folgestudien mit meist ähnlichen Ergeb- nissen gab, fand bislang kaum eine Suche nach Erklärungsmöglichkeiten für dieses Phäno- men statt. Beispielsweise wurde es bald als „latentes absolutes Gehör“ bezeichnet, ohne dass hinterfragt wurde, inwieweit abgesehen von der Tatsache, dass absolute Tonhöhen abgerufen werden können, Ähnlichkeiten mit absolutem Hören vorliegen. Die vorliegende Arbeit widmet sich sowohl der Frage nach der Verbreitung von Tonartreprä- sentationen in bisher nicht untersuchten Populationen beim Abruf verschiedener Arten von Melodien als auch der Suche nach Erklärungsfaktoren für die sowohl intra- als auch interin- dividuell beobachtete unterschiedliche Genauigkeit der Tonarterinnerung. Bei der Theoriebildung stößt man zunächst aufgrund der Bezeichnung „latentes absolutes Gehör“ auf die Literatur zum absoluten Gehör. Als die Fähigkeit, einzelne Töne ohne Kontext kategorisieren zu können, ist dieses Phänomen zwar von der – häufig impliziten – Erinne- rung musikalischer Laien an Tonarten „echter“ Musik zu unterscheiden. Trotzdem ist es auch für Gedächtnisforscher ein interessantes Phänomen, weil eine isolierte Fähigkeit einiger we- niger Menschen vorliegt, die womöglich in abgeschwächter Form weiter verbreitet ist als lan- ge vermutet wurde. Interessant und der Betrachtung würdig ist jedoch auch die Untersu- chung des Tonart-Gedächtnisses aus der Perspektive der Gedächtnisforschung. Von der allgemeinen gedächtnispsychologischen Literatur wurde die Erinnerung an Tonarten, wie auch allgemeiner die Erinnerung an Musik wesentlich seltener behandelt als z.B. die Erinne- rung an visuelle oder sprachliche Inhalte. Daher wird in dieser Arbeit versucht, die Übertrag- barkeit gedächtnispsychologischer Befunde auf musikalische Gedächtnisinhalte zu prüfen und Hypothesen für die eigenen Untersuchungen zu generieren. Die theoretische Annäherung an das Phänomen der Tonarterinnerung erfolgt also von zwei Seiten aus: aus der Perspektive der Forschung zum absoluten Gehör und aus der Perspekti- ve der Gedächtnispsychologie. Dabei soll nach Schnittstellen gesucht werden, die eine For- mulierung von Hypothesen erlauben, die mit beiden Perspektiven kompatibel sind. 1 1 Vom Ton zur Melodie Zur Einordnung des in der vorliegenden Arbeit thematisierten Phänomens, der Erinnerung an die Tonarten gelernter Melodien, soll zunächst definiert werden, was musikalische Töne ausmacht, wie sie wahrgenommen und verarbeitet werden und wie aus Tönen Melodien ent- stehen. Prinzipiell lässt sich Schall physikalisch in zwei Kategorien unterteilen, nämlich Töne und Geräusche. Geräusche sind dadurch gekennzeichnet, dass keine geordneten Schwingun- gen, sondern ungeordnete Luftbewegungen vorliegen. Aus Geräuschen ist demnach auch keine einzelne Tonhöhe heraushörbar. Töne dagegen bestehen im einfachsten Fall aus ei- ner einzigen Sinusschwingung, die sich durch ihre Frequenz (Anzahl der Schwingungen pro Sekunde) und die Amplitude (Größe des Ausschlags) kennzeichnen lässt. Musikalische Tö- ne setzen sich aus mehreren Sinusschwingungen zusammen, wobei die Tonhöhe sich im Wesentlichen durch die Grundfrequenz definiert, während die Obertöne beim Hörer zum Erleben einer bestimmten Klangfarbe beitragen. In der vorliegenden Arbeit geht es nur um musikalische Töne, die im folgenden vereinfacht als Töne bezeichnet werden. Musikalische Töne haben eine bestimmte Eigenschaft, die als Oktaväquivalenz bezeichnet wird. Das be- deutet, dass Töne im Oktavabstand (Frequenzverhältnis 2:1) als sehr ähnlich wahrgenom- men und von musikalischen Laien sogar verwechselt werden. Da die Oktaväquivalenz in sehr vielen musikalischen Kulturen auftritt (Nettl, 1956), scheint es sich hierbei um eine per- zeptuelle Universalie zu handeln. Im Tonsystem wird die Oktaväquivalenz dadurch sichtbar gemacht, dass Töne im Oktavabstand den gleichen Namen teilen (z.B. c’, c’’, etc.). Aufgrund der Oktaväquivalenz wurde vorgeschlagen, dass Tonhöhen zweidimensional dargestellt werden können: Die Dimension der Tonklasse („tone chroma“, auch: Tonigkeit) definiert die Position des Tons innerhalb einer Oktave, während die Dimension der Tonhöhe („pitch height“, auch: Helligkeit) die genaue Lage im Tonraum angibt (Révész, 1913, 1946; Shepard, 1964; Zusammenfassung bei Deutsch, 1999). Die Zweidimensionalität von Tönen wurde bereits von Drobisch (1855) in Form einer Helix dargestellt, bei der Töne im Oktavabstand jeweils auf der gleichen Position im Tonklassen-Kreis liegen (vgl. Abb. 1.1). Die Unterschei- dung von Tonklasse und Tonhöhe spielt bei der Definition des absoluten Gehörs eine Rolle und wird in Kapitel 2 wieder aufgegriffen. Töne werden im menschlichen Innenohr frequenzspezifisch verarbeitet, d.h. je nach der Grundfrequenz eintreffender Töne werden die Haarzellen an einem bestimmten Ort auf der Basilarmembran maximal ausgelenkt, der bei hohen Frequenzen näher an der Basis und bei tiefen Frequenzen näher am Apex der Cochlea liegt (vgl. Spitzer, 2002, S. 58 ff). Die fre- quenzspezifische Verarbeitung der Töne setzt sich über das gesamte Hörsystem fort, und für fast alle Zentren der Hörbahn wurden sogenannte Frequenzkarten nachgewiesen (King, Schnupp & Doubell, 2001). Experimente an Tieren und Menschen haben ergeben, dass Tö- ne im primären auditorischen Kortex in Form einer Tonlandkarte repräsentiert sind (vgl. Weinberger, 1999). 2

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Dissertation. Absolutes und nichtabsolutes Hören. Einflussfaktoren auf das Erinnern von Tonarten zur Erlangung des akademischen Grades doctor rerum naturalium (Dr. rer. be, sich Töne anzuhören, während ein Magnet-Enzephalogramm (MEG) abgeleitet wurde. Es zeigte sich, dass die kortikale
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