Reziprozität Ein sozialintegrativer Mechanismus der Gesellschaft? Darstellung des Wandels historischer Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Bettlers Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vorgelegt von Jens Hofmann aus Trier (Deutschland) Eingereicht am: 23.01.2008 Erstgutachterin: Prof. Dr. Cornelia Bohn Zweitgutachter: Prof. Dr. Alois Hahn 2 Inhaltsverzeichnis Einleitung – Die Krise der modernen Gesellschaft .............................................................. 5 1. Zur allgemeinen Theorie sozialer Systeme ................................................................... 16 1.1 Einführende Bemerkungen zum soziologischen Systembegriff ...................................... 16 1.2 Die Autokatalyse sozialer Systeme ................................................................................. 20 1.2.1 Das Problem der doppelten Kontingenz .............................................................. 20 1.2.2 Die Emergenz sozialer Systeme ............................................................................ 22 1.2.3 Soziale Systeme als Kommunikationssysteme ....................................................... 27 1.2.3.1 Die Selbstreferenz von Kommunikationen ..................................................... 27 1.2.3.2 Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation und ihre Überwindung durch Kommunikationsmedien ...................................................................... 31 1.2.3.3 Die Bedeutung von Semantiken für den Aufbau sozialer Strukturen ............... 38 1.3 Zur Korrelation von Semantik und Sozialstruktur ......................................................... 44 2. Reziprozität – Ein sozialintegrativer Mechanismus der Gesellschaft? ........................ 51 2.1 Vorbemerkungen zur gesellschaftstheoretischen Verankerung des Verhaltensprinzips der Reziprozität ............................................................................... 51 2.2 Zur klassischen Soziologie der Reziprozität ................................................................... 55 2.2.1 Die Sozialanthropologie Marcel Mauss’ ................................................................ 55 2.2.2 Der Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’ ............................................................. 58 2.2.3 Dankbarkeit als Form der Vergesellschaftung bei Georg Simmel .......................... 61 2.2.4 Die amerikanischen Austauschtheorien ................................................................ 64 2.2.5 Der praxeologische Ansatz bei Pierre Bourdieu .................................................... 68 2.3 Das Verhaltensprinzip der Reziprozität in der Systemtheorie ......................................... 72 2.3.1 Interaktion und Gesellschaft ................................................................................. 72 2.3.2 Die Norm der Reziprozität bei Niklas Luhmann .................................................. 80 3. Die Ordnung der Gesellschaft ...................................................................................... 90 3.1 Das Problem der Ordnung ............................................................................................ 90 3.2 Die Ordnungsdimensionen der Gesellschaft .................................................................. 95 3.2.1 Die Sozialdimension sozialer Ordnung ................................................................. 95 3.2.2 Die Zeitdimension sozialer Ordnung .................................................................. 102 3 3.3 Die gesellschaftliche Ordnung und ihre Individuen ..................................................... 112 3.3.1 Die Inklusionsindividualität des vormodernen Individuums ............................... 112 3.3.2 Die Exklusionsindividualität des modernen Individuums ................................... 122 3.4 Reziprozität als kulturhistorisches Phänomen – Von der Freundschaft zum Interesse .............................................................................................................. 129 3.4.1 Die sozialintegrative Funktion der Freundschaft ................................................. 129 3.4.2 Die sozialintegrative Funktion des Eigeninteresses ............................................. 141 3.4.3 Von der Tausch- zur Geldwirtschaft ................................................................... 150 4. Das Interaktionssystem der personalen Hilfe ............................................................ 156 4.1 Der Bettler in der soziologischen und historischen Forschung .................................... 156 4.2 Die Stellung des Bettlers in der Gesellschaft ................................................................ 164 4.2.1 Der Bettler als Gegenstand evolutionstheoretischer Überlegungen ..................... 164 4.2.2 Die Interaktionsschematismen der personalen Hilfe ........................................... 170 4.2.2.1 Arbeit ........................................................................................................... 170 4.2.2.1.1 Die Beobachtbarkeit von Arbeit ............................................................ 170 4.2.2.1.2 Die Arbeit im historischen Wandel ........................................................ 176 4.2.2.2 Sittlichkeit ..................................................................................................... 186 4.2.2.3 Bedürftigkeit ................................................................................................. 198 4.3 Die Ausdifferenzierung des Interaktionssystems der personalen Hilfe ......................... 209 4.3.2 Die Person des Bettlers....................................................................................... 209 4.3.3 Die Paradoxie der personalen Hilfe .................................................................... 215 4.3.4 Die Funktion des Almosens ............................................................................... 223 4.4 Der Bettler und das politische System .......................................................................... 233 4.4.1 Der Bettler im Fokus politischen Kalküls ........................................................... 233 4.4.2 Die gemeinwohlschädigenden Folgen des Bettelns ............................................. 237 4.4.2.1 Der Bettler als Problem ständischer Differenzierung .................................... 237 4.4.2.2 Der Bettler als volkswirtschaftliches Problem ............................................... 242 5. Schlussbetrachtung – Der Fremdheitstypus des Peripheren ..................................... 247 Literaturliste ...................................................................................................................... 257 4 Einleitung – Die Krise der modernen Gesellschaft Schenkt man den gegenwärtig in der Politik und den Massenmedien gebräuchlichen Gesell- schaftsanalysen Glauben, befinden wir uns in einer Zeit des fundamentalen Umbruchs. Der Blick richtet sich dabei vornehmlich auf die durch Globalisierungsprozesse ausgelösten Veränderungen des sozioökonomischen Faktors Arbeit, der neben dem Staat als der zentrale Integrationsmecha- nismus der Gesellschaft aufgefasst wird. Auch die Sozialwissenschaften haben sich im Rahmen der soziologischen Armutsforschung und der soziologischen Analyse sozialer Ungleichheit an dieser Argumentationslogik beteiligt. Bereits in den 80er Jahren kursierten hier Schlagworte wie „Krise der Arbeitsgesellschaft“1 und „Neuen Armut“2, um den wahrgenommenen Umstrukturie- rungen der Arbeitswelt und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Konsequenzen einen griffigen Namen zu geben. Seit den 90er Jahren wird jedoch mit dem zunächst in Frankreich prominent gewordenen sozialpolitischen Topos der Exklusion ein weitaus bedrohlicheres Szena- rio entworfen, in dessen Mittelpunkt die Diagnose einer zunehmenden Innen-Außen-Spaltung der Gesellschaft steht.3 Der These liegen empirische Studien zugrunde, die auf das verstärkte Wirken kumulativer Exklusionsprozesse hinweisen, in deren Folge eine immer größer werdende Anzahl von Menschen vollständig von den gesellschaftlichen Berufs- und Statuspositionen aus- geschlossen werden. Dieses Schreckgespinst der vollständigen gesellschaftlichen Exklusion von Niedrigqualifizierten, Alten, Migranten etc. wirft seinen düsteren Schatten allerdings nicht nur auf diejenigen, die der „Underclass“4 bzw. der Gruppe von „Überflüssigen“5, „Überzähligen“6, „Ent- 1 Vgl. die Beiträge in MATTHES, Joachim (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt (Main) / New York 1982. 2 Zu den Veränderungen des Armutsdiskurses im Nachkriegsdeutschland vgl. LEISERING, Lutz: Zwischen Ver- drängung und Dramatisierung. Zur Wissenssoziologie der Armut in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. In: Soziale Welt 44 (1993), S. 486-511. 3 Vgl. KRONAUER, Martin / NEEF, Reiner: ‚Exklusion’ und ‚soziale Ausgrenzung’. Neue soziale Spaltung in Frankreich und Deutschland. In: Deutsch-Franzöisches Institut (Hg.): Frankreich-Jahrbuch 1996. Opladen 1997, S. 35-58. Einen informativen Einblick in die französische Debatte liefert MARTIN, Claude: French Review Article. The debate in France over ‚Social Exclusion’. In: Social Policy & Administration 30 (1996), S. 382-392. Einen länderübergreifenden Überblick über die theoretischen Implikationen des Begriffs der Exklusion leistet LEISERING, Lutz: ‚Exklusion’ - Elemente einer soziologischen Rekonstruktion. In: BÜCHEL, Felix et al. (Hg.): Zwischen drinnen und draußen. Arbeitsmarktchancen und soziale Ausgrenzungen in Deutschland. Opladen 1999, S. 11-22. 4 Zur Underclass-Debatte in den USA und Europa vgl. den umfassenden Überblick von ANDERSEN, John / LARSEN, Jørgen Elm: The Underclass Debate – a Spreading Disease? In: MORTENSEN, Nils (Hg.): Social In- tegration and Marginalisation. Frederiksberg 1995, S. 147-182. 5 Vgl. BUDE, Heinz: Die Überflüssigen als transversale Kategorie. In: BERGER, Peter A. / VESTER, Michael (Hg.): Alte Ungleichheiten - neue Spannungen. Opladen 1989, S. 363-383. Zur kritischen Diskussion der gesellschafts- theoretischen Implikationen, die der Kategorie der ‚Überflüssigen’ zugrunde liegen, vgl. BAECKER, Dirk / BU- DE, Heinz / HONNETH, Axel / WIESENTHAL, Helmut: ‚Die Überflüssigen’. Ein Gespräch. In: Mittelweg 36 (1998), S. 65-81. 6 Vgl. HERKOMMER, Sebastian: Deklassiert, ausgeschlossen, chancenlos – die Überzähligen im globalisierten Kapitalismus. In: HERKOMMER, Sebastian (Hg.): Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg 1999, S. 7-34. 5 behrlichen“7, Exkludierten bereits angehören und die an ihren eingeschränkten sozialen Teilha- bechancen die Wertlosigkeit ihrer Existenz erfahren. Jenseits dieser marginalisierten sozialen Gruppen zieht es verstärkt auch die Inkludierten in seinen Bann, bei denen sich eine Angst breit macht, schon morgen ein ähnliches Schicksal wie jene zu erleiden. Vulnerabilität und Prekarität prägen den Alltag des modernen Menschen, dessen Traum einer kontinuierlichen Verbesserung seines sozialen Status dem Albtraum des Absackens ins soziale Nirgendwo gewichen ist.8 Zeit- gleich mit dieser Desillusionierung des an Aufstiegskarrieren orientierten modernen Lebensplans mehren sich die Anzeichen einer gesellschaftlichen Desintegration und eines Brüchigwerdens des sozialstaatlichen Fundaments, auf dem die Gesellschaften der Nachkriegszeit ruhten.9 Aktive Abgrenzungsbemühungen auf der Seite der Inkludierten, Fatalität und Apathie auf der Seite der Exkludierten lassen ein Klima der sozialen Kälte entstehen, in dem egoistische Belange zum al- leinigen Fixpunkt der Lebensgestaltung hypostasieren. Soweit der Befund, der zurzeit länder- übergreifend unter dem Namen der Exklusion weite Teile der sozialwissenschaftlichen Debatte beherrscht. Das theoretisch-begriffliche Gerüst, auf dem die gegenwärtige Exklusionsdebatte ihre zentra- len Thesen entwickelt, bleibt weitestgehend an marxistischen Klassentheorien und Theorien sozi- aler Schließung bzw. Schichttheorien orientiert, obgleich Versuche unternommen werden, Unter- schiede und Weiterentwicklungen hervorzuheben. Alles in allem erweckt dies aber eher den Eindruck, als würde hier Altbewährtes neu aufpoliert und in einem zeitgemäßen, neue Forschun- gen rechtfertigenden Gewand verkauft, denn weitere Erkenntnisgewinne zu erwarten. Weite Teile der Exklusionsforschung lassen sich dabei von der Frage leiten, wie unter den Bedingungen der Krise der modernen Gesellschaft eine richtige im Gegensatz zu einer falschen Sozialpolitik aus- zusehen habe. Die Gegenüberstellung solcher Alternativen impliziert, dass sich Fehlentwicklun- gen der Moderne von ihren Errungenschaften isolieren und dank dieser Extraktionsleistung mit lokal wirksamen Gegenmaßnahmen bekämpfen lassen. Die derzeit geführten Diskussionen um den Zustand unserer Gesellschaft vermitteln entsprechend den Eindruck, es handele sich dabei um die medizinische Sezierung eines pathologischen Körpers. Gewiss, bei der Frage, welches Organ denn von Krankheit befallen und inwieweit der Organismus in Mitleidenschaft gezogen sei, herrscht keine Einigkeit, Konsens jedoch über den Tatbestand des Befalls. Und so entbrennt der Streit um den Krankheitszustand des Patienten ‚Gesellschaft’ und einer seinem Krankheits- stadium angemessenen Therapiewahl. Mit jedem Befund – denn darin liegt der funktionale Kern einer medizinischen Diagnostik begründet – eröffnet sich die Hoffnung auf Heilung und damit 7 Vgl. LENSKI, Gerhard: Macht und Privileg. Eine Theorie sozialer Schichtung. Frankfurt (Main) 1973. 8 Vgl. CASTEL, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Mittelweg 36 (2000), S. 11-25; CASTEL, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000. 9 Vgl. dazu die Beiträge in HEITMEYER, Wilhelm (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt (Main) 1997. 6 die Plausibilität der Beobachtung selbst. So wie eine Krankheit auf die Möglichkeit der Gesun- dung verweist, so scheinen sich in der Krise der modernen Gesellschaft bereits ihre Lösungen vorgezeichnet zu finden. Auffallend bei dieser Herangehensweise ist jedoch, dass die allermeisten aktuellen Forschungsvorhaben die historische Dimension des Exklusionsbegriffs fast gänzlich unterbelichtet belassen.10 Ein Schwund an Theorie und eine Stärkung der Empirie sind die logi- schen Konsequenzen dieser Gegenwartsbefangenheit. Innerhalb der Soziologie gilt es allerdings eine die Gesellschaft beschreibende, primär Sozial- lagen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Randständigkeit etc. problematisierende von einer das Ver- hältnis von Individuum und Gesellschaft analysierende Begriffsverwendung zu unterscheiden.11 In diesen beiden methodischen Zugängen spiegeln sich die makrosoziologischen Theorietraditio- nen der Ungleichheitstheorie auf der einen und der Differenzierungstheorie auf der anderen Seite wider.12 Vertreter der Ungleichheitstheorie legen ihr Hauptaugenmerk auf die Lebenslage von Personen, die sich jenseits der geschichteten Ordnung einer Gesellschaft bewegen. Von diesem Befund ausgehend formulieren sie die Frage, welche ordnungsstabilisierenden Gegenmaßnahmen für die Verwirklichung der kompletten Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder zu ergreifen sind. Vertreter der Differenzierungstheorie drehen diese Argumentationslogik schlicht um. Ausgangs- punkt bildet hier die Analyse der Inklusion, also der Bedingungen, die gegeben sein müssen, da- mit Individuen als Personen überhaupt für die Gesellschaft relevant werden können. Exklusion erscheint aus diesem Blickwinkel als ein unumgänglicher struktureller Effekt der Inklusion, dem als solcher jedoch noch keine pejorative Bedeutung zufällt. Wer also etwas über die Exklusionen einer Gesellschaft in Erfahrung bringen will, hat sich zunächst über ihre Inklusionsbedingungen zu informieren. Mit der differenztheoretischen Verwendung des Begriffspaars wird das soziologi- sche Forschungsinteresse von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erhalts einer 10 Der in Trier gegründete SFB 600 Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart hat sich dementsprechend zum Ziel gesetzt, dieses Forschungsdesiderat zu schließen. Vgl. dazu die Beiträge in GESTRICH, Andreas / LUTZ, Raphael (Hg.): Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Ar- mut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt (Main) 2004. 11 Zu dieser Unterscheidung vgl. LEISERING, Lutz: Desillusionierung des modernen Fortschrittglaubens. ‚Soziale Exklusion’ als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept. In: SCHWINN, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt (Main) 2004, S. 238-268. Eine ähnliche Begriffsunterscheidung verwendet auch NASSEHI, Armin: Exklusion als soziologischer und sozialpolitischer Begriff? In: Mittelweg 36 (2000), S. 18-25. Instruktive Überblicke über die verschiedenen soziologischen Theorietraditionen, in denen der Exklusionsbegriffs steht, verschaffen SILVER, Hilary: Social exclusion and social solidarity: Three paradigms. In: International Labour Review 133 (1994), S. 531-578; HAHN, Alois: Theoretische Ansätze zu Inklusion und Exklusion. In: BOHN, Cornelia / HAHN, Alois (Hg.): Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch. Bd. 16. 2002/03. Berlin 2006, S. 67-88. 12 Als Vertreter der differenzierungstheoretischen Begriffsverwendung seien hier exemplarisch folgende Autoren genannt: LUHMANN, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: LUHMANN, Niklas: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 237-265; STICHWEH, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005. Eine besonderen Akzent auf die historische Anwendbarkeit des Be- griffspaars legen BOHN, Cornelia: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006; BOHN, Cornelia / HAHN, Alois: Patterns of Inclusion and Exclusion. Property, Nation and Religion. In: Soziale Systeme 8 (2002), S. 8-26; FUCHS, Peter: Weder Herd noch Heimstatt – Weder Fall noch Nichtfall. Die doppelte Differenz im Mittelalter und in der Moderne. In: Soziale Systeme 3 (1997), S. 413-437. 7 sozialen Ordnung auf die nach den Bedingungen der Möglichkeit ihres Zustandekommens ge- lenkt. Im Zuge dieses Perspektivenwechsels tritt ein Sachverhalt zutage, der mit den modernen Prämissen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im unmittelbaren Widerstreit zu stehen scheint: Ohne die Exklusion des Menschen wäre die Inklusion der Person in die Gesellschaft undenkbar. Die Dissertation folgt im Weiteren dieser differenztheoretischen Perspektive. Ihr geht es dementsprechend nicht darum, in den Kanon der Kritik an der momentan nur defizitären Ver- wirklichung der modernen Gesellschaft einzustimmen. Vielmehr sollen Exklusionsphänomene mittels der systemtheoretischen Differenzierungstheorie interpretiert und durch die Untersu- chung eines vergangenen fundamentalen Umbruchs sozialer Strukturen historisch kontextualisiert werden. Niklas Luhmann bezeichnet diese Brüche als evolutionär unwahrscheinliche Umstellun- gen der gesellschaftlichen Differenzierungsform, oder etwas dramatischer formuliert: als alle Le- benssphären des Menschen durchdringende Katastrophen.13 Es gilt also der Frage nachzugehen, ob und inwiefern vieles von dem, was gegenwärtig als Anzeichen eines Strukturwandels gedeutet wird (Innen-Außen-Spaltung, Kontingenz von Lebensläufen, Verräumlichung sozialer Ausgren- zung, Mehrdimensionalität und kumulative Effekte von Exklusion), schon im Übergang von stra- tifikatorisch zu funktional differenzierten Gesellschaften sich dokumentieren lässt. Der Disserta- tion liegt dabei die These zugrunde, dass solche Krisenbefunde lediglich daran teilhaben, jene Bedingungen der Möglichkeit zu konkretisieren, auf deren Grundlage Gesellschaften ihre Sozial- ordnung konstituieren. So ist für eine soziologische Herangehensweise, der es allein um die Ana- lyse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geht, am Befund steigender Arbeitslo- senzahlen auch weniger die Bestimmung ihrer konkreten Ursachen, als vielmehr das sich mit ihm verbindende Krisenbewusstsein, weniger die Erfolgsaussichten etwaiger Gegenmaßnahmen, als vielmehr das mit ihnen verfolgte Ziel erklärungsbedürftig. Denn jede Forderung nach Gegen- maßnahmen setzt die Vorstellung einer idealen Gesellschaftsordnung voraus, in der sich unter optimalen Voraussetzungen das dem Menschen gemäße Leben in Freiheit und Würde – das gute Leben, wie es noch in den Gesellschaftstheorien der antiken Philosophie hieß – verwirklicht. Und so mag derzeit zwischen den Experten bei der Frage nach den wirtschaftspolitisch notwendigen Konzepten durchaus Uneinigkeit herrschen. Aber ob man nun durch kreditfinanzierte Staatsaus- gaben eine mangelnde Nachfrage zu kompensieren oder durch Beschränkung der Staatsausgaben, Deregulierung und Eigenverantwortung freie Wirtschaftsräume zu ermöglichen sucht, in beiden Fällen besteht ein grundsätzliches Einvernehmen darüber, dass hohe Arbeitslosigkeit die Gefahr in sich birgt, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Solidarität der Gesellschaftsmitglieder zu unterminieren. Die Botschaft einer solchen Aussage ist so einfach wie plausibel: Arbeitslosigkeit 13 Vgl. LUHMANN, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt (Main) 1997, S. 655. 8 hat nicht nur Auswirkungen auf denjenigen, der unmittelbar von ihr betroffen ist, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes. Krisenbefunde informieren also weniger über Einzelschicksale, obschon sich der ein oder andere durchaus in ihnen wieder zu erkennen vermag, sie benennen vielmehr die Bedingungen, die innerhalb einer Gesellschaft für den Erhalt ihrer sozialen Ordnung als unerlässlich erachtet werden. Allein der Verweis auf ein Arbeitslosenniveau, das im Vergleich zu Messungen vergan- gener Jahrzehnte gegenwärtig einen beispielslosen Spitzenwert erzielt, reicht noch nicht aus, um der Moderne zwingend eine Krise attestieren zu können. Für sich genommen bleibt das Ohne- Arbeit-Sein solange unproblematisch, wie es nicht in Relation zu einer sozialen Ordnungsvorstel- lung gebracht wird, die in dem Zusammenwirken der Kräfte und Interessen wie auch der Entfal- tung der menschlichen Persönlichkeit durch Arbeit die Grundbedingungen sozialen Zusammen- lebens erblickt. Soziale Krisen sind demnach nicht einfach objektiv messbar, sie werden vielmehr durch diskursive Praktiken erzeugt, die sich über den Umweg der Bezeichnung einer Anomalie dem Wunschbild einer idealen Gesellschaft nähern. Sie finden allerdings nur dort Gehör, wo die Gewissheiten des Alltags selbst zu verblassen beginnen, wo also ein Bedarf entstanden ist, die unversehens vor Augen tretenden Risiken der Zukunft zu minimieren. Um die Abhängigkeit ge- sellschaftlicher Entwicklungen von politischen Entscheidungen symbolisieren zu können, greifen Krisenbefunde auf Unterscheidungen zurück, denen ein Zeitbezug inhärent ist. Indem die eine Seite der Unterscheidung die Abweichung von der anderen Seite zum Ausdruck bringt, lässt sich die Möglichkeit der Transformation von Unordnung in Ordnung, d.h. die Herstellung von bzw. die Rückkehr zur gesellschaftlichen Einheit, in Aussicht stellen. In der Kontrastierung von Un- ordnung und Ordnung bestätigt sich die Letztere in ihrer Bedeutung für den Erhalt der Sozialität. Und so muss jeder Krisenbefund geradezu zwangsläufig in einem Appell münden: Seht her, was passiert, wenn wir nicht die Bedingungen jener Ordnung, in der wir leben, pflegen und hegen! Der Kunstgriff, der hier vollzogen wird, um einer Ordnungsvorstellung Plausibilität einzuverlei- ben, besteht darin, das Problem wohlweislich nicht als eigentliche Ursache, sondern als Symptom einer Störung auszuweisen. Denn wäre es ihre Ursache, bliebe noch die Frage zu klären, inwie- weit die Ordnung nicht selbst daran beteiligt war, ihre eigenen Probleme hervorzubringen. In dem Moment, in dem man die Ordnung selbst als Grund eines Problems wahrnimmt, käme jeder Versuch der Problembehebung einer Revolution gleich. Wer aber von Krisen redet, der hat gera- de nicht die Substitution der alten durch eine neue Ordnung im Sinn, der vertraut vielmehr auf die Errungenschaften des Bestehenden, die es lediglich im vollen Umfang auszuschöpfen und gegebenenfalls veränderten Umweltbedingungen anzupassen gilt. Erst dadurch, dass man das Problem zum Symptom einer Störung degradiert, eröffnen sich Möglichkeiten, es durch die Eli- minierung von Fehlerquellen, also durch die Annäherung an das Ideal einer sozialen Ordnung, 9 mehr oder minder zu lösen. Nichts könnte dann näher liegen, als die Lösung des Arbeitslosen- problems der Arbeit selbst zukommen zu lassen: Was Arbeit schafft, ist sozial! Krisenbefunde enthüllen demnach nur vordergründig die innerhalb einer Gesellschaft bestehenden Probleme. Betrachtet man sich die sozialen Formen, anhand derer Krisen festgestellt werden, lässt sich er- kennen, dass sie bereits ihre Lösungen anbieten. Krisenmanagement über Arbeit zu organisieren, ist keineswegs eine Erfindung unserer Zeit. Gerade der Blick in die Vergangenheit offenbart die lange Tradition, welche die Arbeit aufzuwei- sen hat, wenn es darum geht, Antworten auf soziale Krisen zu geben. Fast könnte man geneigt sein zu sagen, die Geschichte der Arbeit ist eine Geschichte ihrer Kompetenz, gesellschaftliche Krisen zu bewältigen bzw. ihnen zuvorzukommen. Bereits der biblische Mythos des Sündenfalls verortet die Arbeit in einem solchen Kontext. Seit seiner Vertreibung aus dem Paradies steht der Mensch vor der Aufgabe, in der irdischen Welt für seine Subsistenz selbst Sorge zu tragen und somit den Weg zurück zu Gott unter der Mühsal und dem Schmerz seiner Arbeit zu beschreiten (Gen. 3,17-19). Im ausgehenden Mittelalter wird die Verordnung von Arbeit zum Bestandteil einer Sanktionsgewalt, mit der sich die Obrigkeit Mittel an die Hand zu geben hofft, den im Überhandnehmen des Bettler- und Vagabundentums zum Ausdruck kommenden Auflösungs- tendenzen der ständischen Gesellschaftsordnung Einhalt zu gebieten. Der Müßiggang erscheint hier als das Sinnbild eines sittlichen Versagens jener Menschen, die sich von ihrer Berufung durch Gott abgewendet haben und die der Arbeit bedürfen, um wieder auf den Pfad der Tugend zu- rückzukehren. Im 17. und 18. Jahrhundert wird das Arbeitsgebot schließlich allein auf den Nut- zen für den Staat bezogen. Einem Staat, dessen Mitglieder nicht zu arbeiten gewillt sind, kann es nicht anders als schlecht gehen. Um zukünftiges Unheil abzuwenden und die Wohlfahrt zu si- chern bzw. zu mehren, wird diesem entsprechend die Autorität zugesprochen, prospektiv in das soziale Zusammenleben der Menschen einzugreifen. Bekanntlich waren es vor allem die Forde- rungen nach Arbeits- und Zuchthäusern, die zu jener Zeit als die geeigneten Mittel betrachtet wurden, um den unnutzen Personengruppen einer Gesellschaft Herr zu werden. Die Liste an historischen Fallbeispielen, in denen die Arbeit als Mittel des Krisenmanage- ments und der Müßiggang als das Übel in Erscheinung tritt, dessen sich eine Gesellschaft zu er- wehren hat, ließe sich an dieser Stelle beliebig weiterführen. Immerzu sehen sich dabei die Mü- ßiggänger dem Vorwurf ausgesetzt, ein Leben auf Kosten der Allgemeinheit zu führen und somit den moralischen Minimalkonsens einer Gesellschaft zu unterlaufen. Denn dieser scheint eben zu besagen: Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich und darf nur in den Fällen auf die Solidari- tät der Gemeinschaft hoffen, in denen er von einem Schicksalsschlag heimgesucht wird, dem er sich nicht durch sein eigenes Handeln und freies Entscheiden zu entziehen vermag. Aber lässt sich aus dem Umstand der permanenten Wiederkehr bestimmter Argumentationsmuster zwangs- 10
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