Differential- und Integralrechnung Differential- und Integralrechnung Infinitesimalrechnung für Ingenieure insbesondere auch zum Selbststudium von l)r. ~.J(oestler Dr. M. Tramer und Dlpl.·Inaenleur, Buradorf Zllrlch Erster Teil Grundlagen Mit 221 Textfiguren und 2 Tafeln Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1913 Addltloul material to thls book ean be downloaded from http://extras.sprlnger.com. ISBN 978-3-642-89466-4 ISBN 978-3-642-91322-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-91322-8 Copyright 1913 by Springer-V erlag Berlin Heide1berg Ursprünglich erschienen bei Julius Springer in Berlin 1913 Softcover reprint of the bardeover 1st edition 1913 Vorwort. Will man in seinem Arbeitsgebiete selbständig werden, so ge nügt es nicht, nur die zutage geförderten Resultate der betreffenden Haupt- oder Hilfswissenschaft gläubig hinzunehmen, sondern man muß imstande sein, dieselben gelegentlich bis in alle Einzelheiten zu verfolgen, um sie auf diese Weise zum verwertbaren Eigenbesitz zu machen. Ganz besonders gilt dies heutzutage auch für den Tech niker, für den es zur Erreichung dieses Zieles nicht mehr zu um gehen ist, sei es als Studierender der Ingenieurwissenschaften, sei es als in der Praxis stehender Ingenieur, daß er die sog. höhere Analysis kenne. Und zwar genügt es im allgemeinen, nur die Prin zipien und Grundlagen derselben zu verstehen; diese sind aber um so mehr von Grund auf zu beherrschen, soll er diese Disziplin als Hilfsmittel zu fruchtbringender Tätigkeit in seinem Berufe ver werten können. Vor allem ist es auch notwendig, sich von einer oft einerseits durch ein ungerechtfertigtes Mißtrauen in die damit erreichbaren V orteile genährten Abschätzung, andererseits von einer auf über triebene Ängstlichkeit vor unüberwindlichen, zu hoch stehenden Dingen gegründeten Abneigung gegenüber dieser Rechnungsmethode frei zu machen und einzusehen, daß nur das tiefere Erfassen des Inhaltes der "höheren Analysis" oder der "höheren Mathematik" 1) oder der "Infinitesimalrechnung"2) - wie die "Differential- und Integralrechnung" zusammenfassend auch genannt wird - das Be wußtsein erzeugen kann, daß man es hier mit einer sicher fundierten Wissenschaft zu tun hat und nicht mit einer Annäherungsmethode, die dazu noch mehr oder weniger willkürlich sei, wie vielfach in Technikerkreisen noch angenommen wird. 1) Bei dieser Geleg·enheit wollen wir gleich hier hervorheben, daß es n i eh t ganz korrekt ist, wenn man die Differential- und Integralrechnung schlechtweg als "höhere Analysis" oder "höhere Mathematik" bezeichnet, da sie eigentlich nur die Einführung in die höhere Analysis bzw. höhere Ma thematik bedeutet und es doch gewöhnlich nicht gebräuchlich ist, den Namen eines Gesamtgebietes für ein begrenztes Spezialgebiet zu benützen. 2) Bezüglich Begründung dieser Bezeichnung vg'L S. 459-60. IV Vorwort. Nur daraus kann man sich erklären, daß noch manche Tech niker, selbst nur zu oft solche mit Hochschulbildung, über jeden Aufsatz, der mit Differentialquotienten oder Integralen arbeitet, hinweggehen, ohne ihn auch nur versuchsweise näherer Prüfung zu unterwerfen und daraus Gewinn zu ziehen. Wir sind deshalb auch den Schwierigkeiten, die sich tatsächlich bieten und wohl auch die Hauptveranlassung zu obigen Erschei nungen geben mögen, nicht, wie es oft geschieht, ausgewichen, sondern wir haben sie nach Möglichkeit zu lösen versucht. Diese Umstände vor allem sind es, verbunden mit der Über zeugung einer hohen fördernden Eigenschaft des gründlichen Stu diums, sowie der Möglichkeit der Erlangung einer tieferen Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge, welche uns, bestärkt durch manche Erfahrung, bewogen haben, daran zu gehen, diese notwendigen Fundamente einläßlicher und darum gelegentlich auch etwas breit für die Zwecke des Ingenieurs darzustellen. Wir hoffen aber auch von auf andern Wissensgebieten Arbei tenden, namentlich vom Naturforscher und vom Mathematiker das Interesse für die vorliegende Darstellung gewinnen zu können. Abgeschlossen im September 1911. Burgdorf und Zürich, April 1912. Die Verfasser. Inhaltsverzeichnis. I, Einleitung. li. Einführung der Zahl. Seite § 1. Die rationale Zahl 3 § 2. Die irrationale Zahl 6 § 3. Die imaginäre Zahl . 38 § 4. Die gewöhnliche komplexe Zahl 40 § 5. Die höhere komplexe Zahl, insbesondere die Quaternion 49 m. Die Vektoren-Rechnung. § 6. Die gerichtete und nicht gerichtete Größe 67 § 7. Addition und Subtraktion von Vektoren 72 ~ 8. Das Produkt zweier Vektoren . . . . . 74 § 9. Die Komponentendarstellung des Vektors. Grundvektoren 81 § 10. Spezielle Skalare und V ektorcn 98 § 11. Division von Vektoren . . . 106 0 0 0 • 0 0 0 • 0 • • • • IV. Die Funktion. § 12. Zahl und Größe 114 § 13. Konstante und Variable . 120 § 14. Einführung der Funktion 122 § 15. Y eranschaulichung der Funktion 133 V. Stetigkeit und Unstetigkeit. § 16. Unendlich kleine, unendlich große und endliche Zahlen und Größen ...... 239 0 • ~ 17. Grenzwert der Variablen 262 § 18. Grenzwert der Funktion 276 § 19. Stetigkeit der Funktion 319 VI. Differential und Integral. § 20. Der Differentialquotient . . . . . . . . . 352 § 21. Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 384 § 22. Das Differential. . 400 0 0 0 § 23. Das Integral o . . . . . . . 413 0 • • • 0 • VII. Historische Schlußbetrachtung, Kurzer Abriß über den Entwicklungsgang der Differential- und Inte- gralrechnung . . . . . 450 0 0 0 Sach- und Namenrcgoister 461 I. Einleitung·. Bevor wir mit der Entwicklung des eigentlichen Gegenstandes be ginnen, wollen wir dem Leser einige Leitgedanken mitteilen, die ihm für das Studium des Buches dienlich sein dürften. In der Darstellung suchten wir möglichste Anschaulichkeit zu er reichen, ohne aber auf die streng analytischen Methoden zu verzichten. Die anschauliche geometrische Darstellung ist stets Begleiterin und Helferin für das Verständnis der manchmal etwas abstrakten Unter suchungen, die aber für sichere Fundierung nicht zu umgehen sind. Die so erzielte mathematische Strenge muß aber unterstützt werden durch die möglichste Exaktheit der Verwendung aller jener Begriffe, die nicht durch mathematische Symbol~ ausgedrückt worden sind, son dern für die man bestimmte Worte, eingeführt durch entsprechende Definitionen, verwendet. Diese (die Exaktheit) ist aber nur zu er reichen, wenn diese Worte dann immer und einzig in dem einmal fest gelegten Sinne gebraucht werden, was selbstverständlich zu auch manch mal unschönen Wiederholungen eines Wortes führen muß, die man aus diesem Grunde entschuldigen möge. Was einzelne Abschnitte anbelangt, so sei auf jenen über die Quaternionen und über die Vektoranalysis zunächst hingewiesen mit der Bemerkung, daß das Buch ganz gut studiert werden kann, ohne diese Abschnitte zu berücksichtigen. Immerhin möchten wir auch ihre Lektüre, insbesondere diejenige des letzteren, der immer mehr an Be deutung gewinnenden Vektorenrechnung, angelegentliehst empfehlen. Daß wir einen ziemlich ausführlichen Abschnitt über graphische Methoden und Veranschaulichungen eingeschaltet haben, braucht wohl in Rücksicht auf das im Vorwort Gesagte nicht mehr besonders be gründet zu werden; ist ja die graphische Veranschaulichung der veränderlichen Erscheinungen eines der wichtigsten Hilfsmittel des Ingenieurs. Dabei wurde auch der Gebrauch und die Bedeutung der zwar noch verhältnismäßig wenig bekannten, aber wichtigen Logarithmenpapiere erläutert. Wir versuchten ferner, darin eine Klassifikation der verschiedenen graphischen Veranschaulichungsarten Koestler.Tramer, Differential· u. Integralrechnung. I. 1 2 Einleitung. zu geben, wobei wir besonders betonen wollen, daß alle dort angeführ ten Beispiele der Ingenieur-Praxis entnommen worden sind und dem nach anhand beigegebener Literaturangaben leicht nachgeprüft und weiter verfolgt werden können. Da die Zahl das erste, nicht zu umgehende Mittel jedes irgendwie mit der Mathematik sich Beschäftigenden bildet und daher auch hier als Grundelement unserer Betrachtungen zur Geltung kommen muß, so haben wir ihre ausführliche Behandlung vorangestellt. II. Einführung der Zahl. § 1. Die rationale Zahl. Um die Menge der Einzeldinge, die zusammen eine Gruppe bilden, bzw. um die Mächtigkeit einer solchen Menge, z. B eine Gruppe von Bäumen, Menschen u. dgl., durch einen einzigen Ausdruck zu be zeichnen - wobei man von den individuellen Verschiedenheiten ab sieht, sie also für den Akt des Zusammenfassens als völlig gleichberech tigt betrachtet -, erhielt man die natürlichen Zahlen, die in eine fort schreitende Reihe geordnet, die sog. na.ti;rUche Zahlewreihe: 1, 2, 3, 4, 5, 6, ... bilden. Sie ist die Grundlage alles Rechnens. Die Anwendung der Subtraktion auf diese natürlichen Zahlen führt zur Unterscheidung von positiven und negativen ganzen Zahlen. Diese erweisen sich als vorzügliches Hilfsmittel beim Operieren mit praktischen Größen, die ein ihnen ähnliches Verhalten zeigen. Z. B. ist es der Fall bei Gewinn und Verlust, Vermögen und Schuld usw., wobei man die letzteren in der Rechnung jeweils durch positive und negative Zahlen symbolisch ersetzt. Diese Zahlen werden durch das sog. posi tive und negative Vorzeichen ("+"und"-") gekennzeichnet. Bei Ausführung der Subtraktion stößt man dann auch auf die Zahl von der Form a - a, welche man mit "Null" (0 ) 1) bezeichnet; sie bildet die Grenze zwischen den positiven und den negativen Zahlen, Die durch die negativen Zahlen und die Null erweiterte natürliche Zahlenreihe lautet dann folgendermaßen: ... ' -5, -4, -3, -2, -1, o, +1, +2, +3, +4, +5, ... Doch kann unter Umständen die Unterscheidung von positiven und negativen Zahlen belanglos werden. Man spricht dann von deren absolutem Wm·t und meint damit den Wert der Zahl ohne Rücksicht 1) Die Null und die negativen Zahlen führten vermutlich die Inder zuerst ein, während sie die alten Griechen nicht besaßen (vgl. Klein, F. autogr. v. Helli'll{fer, "Math. v. höh. Standp. aus" 1908, S. 63). 1*