Die moderne Wirtschaft beschreibt sich selbst durch Preise und durch Informationen über Preise. Das mag in der Wirtschaft genügen, zumal anders größere operative Genauigkeit und schnelle Verständigung auch bei wachsender Komplexität kaum zu gewinnen wären. In der Gesell- schaft genügt es nicht, denn hier kann beobachtet werden, daß in den Preisinformationen, mit denen sich die Wirtschaft versorgt, Informatio- nen über die Auswirkungen der wirtschaftlichen Operationen in der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt der Wirtschaft systematisch zu wenig Berücksichtigung finden. Der Erfolg der Wirtschaft gefährdet Gesellschaft und Natur. Die vorliegende Beschreibung der Wirtschaft der Gesellschaft, die sich für beide Aspekte, den Erfolg und die Gefährdung, interessiert, setzt dort an, wo die Wirtschaft selbst sich bereits aufhält: an einer höchst eigenartigen Gemengelage von Instabilität und Stabilität, von hochgra- diger Temporalisierung und Unbeweglichkeit, von Entsachlichung und Erfindungsreichtum, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit aller ele- mentaren Operationen. Sie beschreibt die Instabilität selbst als Repro- duktionsmechanismus und fragt von dort aus nach den Auswirkungen einer sich selbst destabilisierenden Wirtschaft auf zum Beispiel Politik und Erziehung, natürliche Ressourcen und menschliche Motive. Niklas Luhmann, geb. 1927, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, hat im Suhrkamp Verlag u. a. veröffentlicht: Funktion der Re- ligion, 1982 und 1992 (stw 407); Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1, 1980 und 1993 (stw 1091). Band 2, 1981 und 1993 (stw 1092). Band 3, 1989 und 1993 (stw 1093); Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 1982 und 1994 (stw 1124); Das Recht der Gesellschaft, 1993; Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984 und 1987 (stw 666); Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990 und 1992 (stw 1001). Niklas Luhmann Die Wirtschaft der Gesellschaft Suhrkamp Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft / Niklas Luhmann. - 2. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1152) ISBN 3-518-28752-4 NE: GT suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1152 Erste Auflage 1994 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1988 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 2 3 4 5 6 7 - 01 00 99 98 97 96 Inhalt Vorwort 7 I Preise 13 z Die Wirtschaft der Gesellschaft als autopoietisches System 43 3 Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems 91 4 Doppelkreislauf im Wirtschaftssystem 131 5 Kapital und Arbeit: Probleme einer Unterscheidung 151 6 Knappheit 177 7 Geld als Kommunikationsmedium: Über symbolische und diabolische Generalisierungen 230 8 Soziologische Aspekte des Entscheidungs- verhaltens 272 9 Medium und Organisation 302 10 Grenzen der Steuerung 324 Register 350 Vorwort Soweit Soziologen sich überhaupt mit Fragen der Wirtschaft be- faßt haben, ist ihre Einstellung zur wirtschaftswissenschaftli- chen Forschung eher ergänzend oder auch »kritisch« gewesen. Talcott Parsons beispielsweise hat noch unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 und nach sorgfältiger Lektüre der soziologischen Klassiker den individuell-utilitaristischen Aus- gangspunkt der Wirtschaftswissenschaften für unhaltbar, ja für schlechthin unrealistisch erklärt. Jede Handlung habe eine kul- turelle und eine soziale Komponente.1 Deshalb sei es schon im Ansatz verkehrt, mit Arrow das Problem der Sozialität als ein Problem der Aggregation individueller Präferenzen zu behan- deln. Auch Helmut Schelsky hat von einer Überbewertung der »Entscheidung« gesprochen.2 Neuere Publikationen fordern, in der Radikalität und in der theoretischen Orientierung dahinter zurückfallend, die stärkere Berücksichtigung wirtschaftsexter- ner Faktoren, des Eingebettetseins von Konzepten für Rationali- tät, für Konkurrenz und für Konflikt.3 Das könnte unter dem 1 Vgl. Talcott Parsons, Economics and Sociology: Marshall in Relation to the Thought of His Time, Quarterly Journal of Economics 46 (1932), S. 316-347; ders., Some Reflections on >The Nature and Significance of Economics«, Quarterly Journal of Economics 48 (1934), S. 511-545; und in ausgereifter Form Talcott Parsons/Neil J. Smelser, Economy and Society, New York 1956. Mehr als diese Publikationen erkennen lassen, ist diese »Wirtschaft und Gesellschaft«-Perspektive theoriebiogra- phisch der Motor gewesen, der Parsons zu einer Theorie der Dekompo- sition des Handelns in Einzelfunktionen und dann zu Teilsystemen des Handlungssystems angeregt hat. 2 In einem Vortrag, in dem sich der Soziologe den Wirtschaftswissen- schaften gegenüber kollegial als »Laie« einführt. Siehe Helmut Schelsky, Die Wirtschaftwissenschaft und die Erfahrung des Wirtschaf- tens: Eine laienhafte Betrachtung, Wiesbaden 1980. 3 Vgl. z.B. Neil J. Smelser, On the Relevance of Economic Sociology for Economics, in: Tjerk Huppes (Hrsg.), Economics and Sociology: To- wards an Integration, Leiden 1976, S. 1-26; Amitai Etzioni, Encapsulat- ing Competition, Journal of Post-Keynesian Economics 7 (1985), S. 287-302; Richard Swedberg, Economic Sociology and Exogenous Factors, Social Science Information 24 (1985), S. 905-920. 7 Gesichtspunkt der »Institutionalisierung« von Wirtschaft zu- sammengefaßt und in eine den Ökonomen an sich nicht un- bekannte Tradition zurückverwiesen werden. Damit wird an Problemstellungen der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie, insbesondere an das Problem der rationalen Entscheidung und an das Problem der konfliktträchtigen Verteilung angeknüpft - und zugleich vermieden, in den Hoheitsbereich einer anderen wissenschaftlichen Disziplin einzugreifen. Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge sind nicht als Kritik dieses soziologieüblichen Ausgangspunktes gemeint. Sie sind erst recht nicht als Kritik der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung zu verstehen. Sie setzen nur anders an - und rechnen damit, daß man sich auf dem weiteren Weg schon hin und wieder, wenn vielleicht auch in etwas überraschender Weise, begegnen wird und dann in der Situation immer noch entscheiden kann, ob in Konsens oder in Dissens und mit wel- cher Vorfahrtsregulierung. Der Ausgangspunkt hier liegt nicht in einer Gegenüberstellung von wirtschaftlichen und sozialen Aspekten à la »Wirtschaft und Gesellschaft«.4 Erst recht halte ich die Unterscheidung wirt- schaftlich/sozial/kulturell für irreführend. Alles wirtschaftliche Handeln ist soziales Handeln, daher ist alle Wirtschaft immer auch Vollzug von Gesellschaft. Vielleicht wird das von nieman- dem bestritten, aber dann sind eben die angeführten Unterschei- dungen inadäquat, wenn es darum geht, die Beobachtung und Analyse der wirtschaftlichen Aspekte des gesellschaftlichen Ge- schehens zu beschreiben. Wir behandeln deshalb die Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft - und das soll der Titel »Die Wirt- schaft der Gesellschaft« ankündigen. Man gewinnt mit diesem Ausgangspunkt den Vorteil, neuere Entwicklungen in der allgemeinen Systemtheorie verfolgen und sie für die Darstellung der Wirtschaft der Gesellschaft nutzen zu können. Sowohl die Gesellschaft als auch die Wirtschaft werden als soziale Systeme begriffen, und die Verbindung beider liegt in einer Theorie der Systemdifferenzierung, die Differenzierung als Wiederholung der Systembildung in Systemen auffaßt. Auf diese 4 Vgl. dazu auch Richard Swedberg, The Critique of the »Economy and Society« Perspective Düring the Paradigm Crisis: From the United States to Sweden, Acta Sociologica 29 (1986), S. 91-112. Weise lassen sich Konzepte der neuen Kybernetik zweiter Ord- nung (der Kybernetik des Beobachtens von Beobachtungen) und Ansätze zu einer Theorie selbstreferentieller Systeme anzapfen. Man kann prüfen, ob und wie die Vorstellungen über operative Geschlossenheit und strukturelle Kopplung zur Klärung klassi- scher Probleme der Geldwirtschaft beitragen können, und dabei wird immer mit im Blick zu halten sein, wie das Gesellschaftssy- stem begriffen werden muß, damit eine solche Anwendung mög- lich ist. In jedem Falle werden, und daran muß man sich mühsam gewöhnen, Systeme nicht einfach als Objekte behandelt, die ne- ben anderen Objekten in der Welt existieren und von einem un- abhängigen Beobachter richtig oder falsch beschrieben werden können; sondern Gegenstand einer Beobachtung ist jeweils eine Differenz, eine Differenz von System und Umwelt, und dies mit der Zusatzannahme, daß es die selbstreferentielle Schließung des Systems ist, die diese Differenz erzeugt und reproduziert. In verschiedenen Hinsichten, die wir hier nicht vorwegnehmend diskutieren sollten, führt dieser Theorieansatz zu einer Steige- rung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens und zu er- höhten Ansprüchen an begriffliche Genauigkeit - und dies auf einem ganz anderen Wege als dem üblichen der Mathematik. Man kann dann zum Beispiel über Geld oder über den Markt nicht mehr so reden, als wüßte man, worum es sich handelt, und als sei nur noch ein Problem der Erklärung konkreter Erschei- nungen zu lösen. Nimmt man das, was wir »Autopoiesis der Wirtschaft« nennen werden, als Ausgangspunkt und reduziert man folglich das, woraus Wirtschaft besteht, auf ein Netzwerk von selbstproduzierten Ereignissen, das ständig reproduziert wird oder anderenfalls einfach aufhören würde zu existieren, dann stößt man in einem sehr radikalen Sinne auf die Frage der Bedingungen der Möglichkeit und damit nicht zuletzt auf die Frage der damit verbundenen Einschränkungen (constraints) für die Reproduktion von Zusammenhängen. Sowohl der Problem- bezug Knappheit als auch das Tauschmittel Geld, sowohl die Anthropologie der Bedürfnisse als auch das Entscheiden als Form des Prozessierens von Kontingenz verlieren damit ihre grundbegriffliche Selbstverständlichkeit und müssen system- theoretisch kontrolliert rekonstruiert werden. Anhand von zen- tral gewählten Themen soll mit den Untersuchungen dieses Ban- 9 des ausprobiert werden, wohin eine Theorie treibt, wenn sie so anfängt, und welche theorietechnischen Entscheidungen dabei anfallen. Eine zweite Ambition bezieht sich auf Gesellschaftstheorie. »Die Wirtschaft der Gesellschaft« - das sagt auch, daß wir mit einer Analyse der Wirtschaft etwas über die Gesellschaft erfah- ren können, und spezieller: mit der Analyse der Geldwirtschaft etwas über die moderne Gesellschaft. Für diese Zwecke muß die Begrifflichkeit so aufbereitet werden, daß sie sich, mit ent- sprechenden Veränderungen, auch auf andere Bereiche gesell- schaftlicher Kommunikation anwenden läßt - also etwa auf das politische System oder das Erziehungssystem, auf das Religions- system, das Wissenschaftssystem, das Rechtssystem und die Familiensysteme. Die Hintergrundannahme für einen solchen Vergleich lautet: daß die moderne Gesellschaft im Unterschied zu allen Vorläufern als primär funktional differenziertes System aufgefaßt werden kann. Das erklärt dann Unterschiede als bedingt durch den Unterschied der Funktionen und erklärt Vergleichbarkeiten durch die allgemeinen Erfordernisse der Par- tizipation an den besonderen Bedingungen funktionaler Diffe- renzierung. Auch hierfür zieht die Analyse ihre Ressourcen aus der allgemeinen Systemtheorie, zusätzlich aber auch aus der Kommunikationstheorie und, soweit Geld in Betracht kommt, aus einer Theorie generalisierter symbolischer Medien. In dieser Hinsicht versucht der vorliegende Band nicht zuletzt, einen Bei- trag zur Gesellschaftstheorie zu leisten. Denn wenn es gelänge, die wichtigsten Kommunikationsbereiche der modernen Gesell- schaft überzeugend als ausdifferenzierte, operational geschlos- sene Funktionssysteme zu beschreiben und Ähnlichkeiten wie Unterschiede dingfest zu machen, wird sich damit der Eindruck festigen, daß solche Übereinstimmungen nicht rein zufällig vorkommen, sondern einer Konstruktion der modernen Gesell- schaft, die sich dieser theoretischen Instrumente bedient, Plau- sibilität verleihen können. Insofern bietet dieser Band einen Ausschnitt aus umfassend angelegten gesellschaftstheoretischen Forschungen, dem weitere Publikationen für andere Funktions- systeme folgen sollen. Historisch gesehen liegt darin ein radikaler Bruch mit der mehr- hundertjährigen Tradition der »Politischen Ökonomie«. Dieser io