DIE WIRTHSCHAFTLICHE KRISIS. DIE WIRTHSCHAFTLICHE KRISIS. VoN WIIJHELM OECHELH.AEUSER. KÖN. PREUSS. GEHEIMER COMMERZIENRATH. SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH 1876. ISBN 978-3-662-32242-0 ISBN 978-3-662-33069-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-33069-2 Vorwort. De! nachfolgenden Schrift muss ich eine Art "persönlicher Be merkung" vorausschicken. Es sind gerade zwanzig Jahre, seit ich zum letzten Mal in einer Broschüre über die "Eisenindustrie des Zollvereins" (Duisburg. 1855) auf dem Gebiet der wirthschaftlichen Publizistik thätig war. Ich stand damals vollständig auf dem Schutzzollstandpunkt. Geboren in einem der ältesten Eisendistrikte, wo man dieses Dogma mit der Mutter milch einsog, liess mein theoretisches Bedürfniss sich im Wesentlichen an dem Studium des bekannten Werkes von Fr. List genügen, diesem gefährlichen Brevier des volkswirthschaftlichen Dilettantismus. Die kleinen häuslichen Streitigkeiten zwischen den Puddlern und Hoch ·ofenbesitzern, die Freihandels-Lektionen, welche Ers~ere den Letzteren gaben, die ihnen das Rohmaterial lieferten, warfen die ersten Zweifel am Schutzzoll-Dogma in meine Seele. Ich entdeckte bei dieser Ge legenheit die Existenz des "Konsumenten", von der ich (wie auch jetzt noch Herr von Kardorff) keine Ahnung hatte. Fängt man aber erst an zu denken,- so ist's mit dem Glauben vorbei. So wurde ich Freihändler. Meine veränderten Ueberzeugungen habe ich nie, und.· gegen Niemanden, verleugnet. Allein ich ·hielt es nicht flir anständig, nun die Feder gegen die alten Freunde zu. flihren, und so legte ich sie, zwanzig Jahre lang, bei Seite. , Diese Rück sicht ist nun weggefallen, nachdem die Gesetzgebung in Sachen der Eisenzölle ihr letztes Wort gesprochen und die vollständige Aufhebung dekretirt hat. Allein der Schutzzoll-Izythum war nicht der Einzige, an dem ich damals in wirthscbaftlichen Dingen litt. Aller Irrthtim hat seinen inneren Zusammenhang. Ich schwor damals auch auf die weltbe gl11ekende Banknote, liess mich von dem plötzlichen Aufschwung des VI Aktienwesens in der Spekulationsperiode 1855/56 blenden, nahm, unter Andern , ohne genügende Kenntniss der Bkonomischen Grund lagen des Unternehmens, an der Bildung einer Gesellschaft Theil, die später zu Grunde ging, - kurz ich lebte, wenn auch in dem raschen Flug eines einzigen Jahres und nur äusserlich gestreift, viele Irr thl1mer durch, deren Aufdeckung die nachfolgende Schrift gewidmet ist. Sie hat somit rur mich in mancher Beziehung eine autobio graphische Bedeutung. Auf solchem Weg zur Erkenntniss zu gelangen, macht milde im Urtheil, aber auch fest in den Ueberzeugungen. Seit neunzehn Jahren an der Spize der Deutschen Kontinental-Gas-Gesellschaft, • und in viel fachen Geschäftsverbindungen gewerblicher und finanzieller Natur, habe ich unausgesetzt darnach gestrebt, meine theoretischen Kenntnisse zu erweitern und deren Richtigkeit am Maassstab praktischer Erfahrung zu erproben. Die Statistik des Gasverbrauchs einer so grossen Zahl von Anstalten, welche einen steten Einblick in den jeweiligen Stand jedes einzelnen Industriezweigs, des Handels und Verkehrs, überha.upt des allgemeinen Wohlstandes gewährt, kam meinen Unter suchungen vielfach zu Hülfe. Bei Gelegenheit der jetzigen wirthschaft lichen Krisis, die ich, was ihre spekulative Seite betriffi, als un be theiligter Zuschauer verlaufen sah, habe ich die Folgerichtigkeit meiner heutigen Ansichten abermals auf die Probe gestellt und unterbreite dieselben nunmehr, in der nachfolgenden Schrift, der öffentlichen Beurtheilung. Dessau, 15. November 1875. Wilh.Oechelhaeuser. I n hai t. Die wirthschaftIiche Krisis. Seite Charakteristik der wirthschaftlichen Krisen ... Einleitung. S. 1. - Ursachen des Ueberhandnehmens der Speku lation. S. 2. - Arbeit und Spiel. S. 3. - Einseitigkeiten in der po pulären Beurtheilung der Krisen. S. 4. - Kriterium des normalen wirthschaftlichen Zustandes. S.6. - Charakteristik der Hausse-Krisis. S. 10. - Der Umfang der Gütererzeugung nicht wesentlich gesteigert. S. 16. - Unwirthschaftliche Konsumtion der Güter. S. 18. - Ueber gang der Krisis auf den Geld- und Kreditmarkt. S. 20. - Der Rück schlag und die Baisse -Krisis. S. 22. - Wirthschaftliche Folgen der Krisen. 8. 26. Ursachen und Tragweite der gegenwiLrtigen Krisis. . . . 29 Irrthümer in der populiLren Beurtheilung dieser Ursachen. S. 29. - Erörterung der wirklichen Ursachen. 1. Die Aktiengesetzgebung. S. 31. - Kritik dieser Gesellschaftsform. S. 32. - Einfluss des Gesetzes vom 11. Juni 1870. S. 34. - I. Die Versicherungsgesellschaften. S. 37. H. Die Eisenbahnaktien. S. 38. - m. Die Bankaktien. S. 41. - IV. Die Bergwerks-und Hüttenaktien. S. 44. - V. Die Industrieaktien .. S. 46. - Gesammtbild des angerichteten Schadens. S. 49. - 2. Die Banknoten politik. S. 52. - Die wirthschaftliche Rolle des Geldes. S.53. - und der ftctiven Werthzeichen. S.55. - Die Darlehnskassenscheine von 1848. S.63. - Austausch der Noten gegen Wechsel. S.64. - Ihre Einlösbarkeit. S.68. - Das Uebermaass der Emission. S. 70. - 3. Die socialen Bewegungen. S.71. - Verderbniss des Arbeiterstandes. S. 74. - Abnahme der individuellen Arbeitsleistung. S. 75. - Die Ein flüsse von Aussen. S. 81. Verlauf der Krisis. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84 Einfluss der subjectiven Anschauungen. S. 84. - Die Krisis des Arbeitsmarkts. 8. 85. - Die Krisis des Geld- und Kreditmarkts. S. 88. - Das Schicksal der neuen Aktienunternehmungen. S. 90. Die Verschuldungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das Gründerthum. S. 93. - Die Verschuldungen der Regierungen. S.95. - der Eisenbahngesellschaften. S. 100. - der Börse. S.102. der Presse. S. 104. vm Selte Reformen der wirthschaftlichen Gesetzgebung ...... 106 Der Uebergang zur Goldwährung. 8.107. - Das Banknotengesetz vom 14. März 1875. 8. 107. - Die Reichskassenscheine. 8. 111. - Das Schutzzollsystem. S. 111. - Die Lage der Eisenindustrie. 8. 116. -' Reformen der Aktiengesetzgebung. S.119. - der Bankpolitik. 8.127. der socialen Gesetzgebung. S.128. - der Börsenverfassungen. S.129. des Lotteriewesens. S. 131. - der Eisenbahnpolitik. S. 131. Reformen im Unterrichtswesen . . . . . ........ 136 Zielpunkte der Reformen im Unterrichtswesen. S. 137. - Die Volks wirthschaftslehre als obligatorisches Lehrfach. S. 138. - Wichtigkeit fortschreitender volkswirthschaftlicher Bildung. S. 140. Anhang. Tabellen über die Dividenden- und Coursbewegungen an der Berliner Börse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Versicherungsgesellschaften. S. 146. - II. Eisenbahn-Stamm aktien. S. 147. - 111. Banken und Kreditgesellschaften. S. 148. - IV. Bergwerks- 'und Hüttengesellschaften. S. 11)1. - V. Industrie papiere. S. 1511. Charakteristik der wirthschaftllchen Krisen. Wer sich eingehend mit dem theoretischen und praktischen Stu dium wirthschaftlicher Fragen befasst, wird immer und immer wieder die Schwierigkeit erproben, die inneren Gesetze der äusserlich her vortretenden Bewegungen zu entdecken. Er wird namentlich finden, wie weit ab sie häufig, ja gewöhnlich, von den populäre.n Anschauungen und Erklärungsweisen liegen. Es hat dies vor Allem seinen Grund in der allzugrossen Nähe und Unmittelbarkeit, in der wir die wirth schaftlichen Vorgänge betrachten. Auf keinem Gebiete der Wissenschaft und Praxis ist es schwie riger aus der wechselvollen Fluth der uns umwogenden wirthschaft lichen Erscheinungen, im Wege der Abstraction, zur klaren Er kenntniss der treibenden Ursachen der die Bewegung beherrschenden Gesetze zu gelangen, als in der National-Oekonomie. Diese, dem Studium der Volkswirthschaft immanente Schwierigkeit wird aber be deutend gesteigert durch die Complication der· Erscheinungen. Selbst die einfachsten Vorgänge, z. B. Steigen oder Fallen des Preises einer bestimmten Waarengattung , resultiren häufig aus dem Zusammen oder Gegeneinanderwirken verschiedener Ursachen, von denen oft die eine allgemein fasslich hervortritt, während die andere, und vielleicht gerade die wichtigere, sich der oberßächlichen Beurtheilung voll kommen entzieht. Stets ist aber eine solche Complication der Ur sachen vorhanden, wenn es sich um aussergewöhnliche Bewegungen, um sogenannte Krisen in der Volkswirthschaft handelt. Und ist es oft schon schwierig, alle dabei mitwirkenden Ursachen, als solche, zu erkennen, wie viel schwieriger noch, den grösseren oder gerin geren. Antheil jeder einzelnen Ursache an dem. Gesammtresultat ab zuwägenl Die Kenntniss der Fundamentallehren der Volks wirthschaft ist hierzu unerlä.sslich, und damit gerade sieht es noch so traurig bei uns aus. Von aussen her, auf rein empirischem 1 2 Wege, dringt Niemand in das Labyrinth der Erscheinungen ein, aus welchen sich eine sogenannte Krisis zusammensetzt. Ueberhaupt erschliesst die Routine des "Geldverdienens" keineswegs die Einsicht in die Natur der wirthschaftlichen Vorgänge, wie das Vorurtheil so oft unterstellt. Aus dem Banquierstand z. B. ist fast noch nie ein be deutender Volkswirth hervorgegangen. Nichts ist überhaupt gefähr licher, als die Ziele der Privatwirthschaft ohne Weiteres mit denen der Volkswirthschaft zu identifiziren. Dort ist "Geld verdienen", hier die "Erzeugung wirthschaftlicher Werthe" die Losung, und BO oft beides zusammenfällt, so oft geht es auch auseinander. Es fällt zusammen beim Geld, welches durch Arbeit, es fällt auseinander beim Geld, welches durch Spiel verdient wird. Zwei Arbeiter, die ihre Erzeugnisse austauschen, werden Beide reicher; bei den Spielern verliert der eine stets so viel, als der andere gewinnt. Dort sum miren sich die Einzelgewinne zum Gesammtreichthum der Nation, hier heben lilie sich gegenseitig auf. Zwei Spieler zusammen ge nommen sind wirthschaftlich nicht mehr werth, als Ein Müssiggänger, und dessen Werth ist gleich Null. Nennen wir nun Arbeiter einen Jeden, der direct oder indirect, mit Kopf oder Hand, im Dienst der Landwirthschaft oder Industrie, des Handels oder Verkehrs, und nicht minder im Dienste der Wissenschaft oder des Staates, das Gute und Nützliche f6rdert, so ist glücklicherweise deren Zahl in den civi lisirten Ländern die weit überwiegende, sowie die Zahl derer, welche sich mit der Gesellschaft im Kriegszustande befinden, der Diebe, Ver brecher etc., täglich kleiner wird. Allein gleichzeitig sinjl aus der fortschreitenden Ausbildung des R.echtsstaates Institutionen hervorge wachsen , welche, so überwiegend wohlthätig und nützlich sie an sich sind, dennoch dem Missbrauch ein weites Feld geöffnet haben. Wir möchten die Gesammtheit dieser Einrichtungen als fortschreitende Mobilisirung der Werthe bezeichnen; Schulden oder Vermögen in ideelle Theile zu zerlegen und möglichst ohne Kosten oder hem mende Formen auf andere zu übertragen, - dies ist ihre practische Tendenz. Die Erweiterungen des Wechselrechts , die freisinnigen Be stimmungen der Gewerbeordnung, die Mobilisirung des Bergwerk vermögens , die neue Hypothekenordnung mit der erleichterten Thei lung und Uebertragnng fundirter Schulden, die Ausdehnung der Noten emissionen , vor allem aber die neue Actiengeset:tgebung, mit der Beseitigung des staatlichen Conzessionswesens und aller die Creirung und Uebertragnng von Actien oder Obligationen beschränkenden Be stimmungen, - diese und andere staatliche Maassregeln ähnlicher