VERSTKNDLICHE WISSENSCHAFT NEUNZEHNTER BAND DIE WELT DER SINNE VON W. v. BUDDENBROCK • SPRINGER-VERLAG BERLIN· GOTTINGEN' HEIDELBERG DIE WELT DER SINNE EINE GEMEINVERSTANDLICHE EINFDHRUNG IN DIE SINNESPHYSIOLOGIE VON W. v. BUDDENBROCK o. O. PROFESSOR DER ZOOLOGIE AN DER UNIVERSITAT MAINZ ZWEITE, NEUBEARBEITETE AUFLAGE 6. - II. TAUSEND MIT 55 ABBILDUNGEN SPRINGER-VERLAG BERLIN· GOTTINGEN· HEIDELBERG 1953 Herausgeber der Naturwlssenschaftlichen Reihe: Prof. Dr. Karl v. Frisch, Miinchen ISBN-13: 978-3-642-86398-1 e-ISBN-13: 978-3-642-86397-4 DOl: 10.1007/978-3-642-86397-4 Aile Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdruckliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch odcr Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfaltigen Copyright 1953 by Springer-Verlag OHG. Berlin· Gottingen . Heidelberg Softcover reprint of the hardcover 2nd edition 19S 3 Briihlsche Universitatsdruekerei GieSen Inhaltsverzeichnis 1. Von den Sinnen im allgemeinen I. Die Umwelt des Tieres ........... . 1 2. Die Sinneszelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die spezifische Disposition S. 7. - Die spezifische Energie der Sinneszentren S. II. - Die Zeichensprache der Sinne S. 12. ,. Reizstarke und Reizerfolg ...•........... 14 4. Die Beantwortung des Sinnesreizes .......... . 16 Die Empfindungen S. 16. - Die Reflexbewegungen S. 17. Die Erregung des Nervensystems S. 19. 5. Die Sinnesorgane . . . . . . . . . . . • 22 Sinnesorgan und Zentralnervensystem S. 25. 6. Der Sitz der Sinne. . . . . . . . . . . . 7. Lust und Unlust. . . . . . . . . . . . . . . Die Sinneslust S. 36. - Unlust und Schmerz S. 39. II. Die einzeInen Sinne I. Der Lichtsinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Der Formensinn S. 45. - Das Bewegungssehen S. 49. - Die LichtkompaBbewegung S. 5I . - Die Phototaxis S. 54. - Der Hautlichtsinn S. 58. 2. Vom Farbensinn ................... 61 Der Farbensinn der Insekten S.6,. - Der Farbensinn der Wirbeltiere S. 66. - Zapfen und Stabchen S. 66. - Die Drei farbenlehre S. 68. - Schwarz S. 72. 3. Die Konstanz der Sehdinge . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die Adaptation S. 76. - Weill und Grau S. 77. - Die Konstanz der GroBe S. 78. 4. Vom Horen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Gesang und Liebe S. 81. - Von den GehOrorganen S. 84. Die Resonanzhypothese S. 87. - Det GehOrsinn der Fleder miuse S. 89. - Der Gehorsinn der Schmetterlinge S. 90. - Der GehOrsinn der Fische. S. 90. 5. Vom Riechen und Schmecken ..........•..• 93 Die Witterungund die Liebe S. 96. - Freund und Feind S. 98. - Das Auffinden der Nahrung S. 99. - Von der Geruchs scharfe S. 100. - Etwas von den Geruchsstoffen S. 104. - Der Geschmackssinn S. 106. 6. Det Tastsinn . . . . . . . . . . • • . • . . . • . . . 109 Die Leistungen des menschlichen Tastsinnes S. 109. - Einiges von den Ta.'1treBexen der Tiere S. 112. - Det Kraftsinn S. 115. vn 7. Der Wllrmesinn ........•...•..••.•. II7 Die Bevorzugungstemperatur S. II7. - Die Regulation der Korperwiirme S. II9. 8. Die Schwerkraft und ihre Organe . . . . . . . . . . . . IZZ Die Statocyste und ihre Reflexe S. IZ5. - Wie die Katze vom Dach fant S. IZ9. - Die Bogengange S. 151. 9. Die propriorezeptiven Sinnese1emente • . . . . . • • • • I H Der Lagesinn S. lB. - Das Entfemungsmessen S. IH. 10. Das Zusammenwirken der Sinne ...........• 158 Die doppe1te Sicherung S. 138. - Ein Reiz loscht den anderen aus S. 140. - Die Willensfreiheit S. 142. - Die Assoziationen S.143· VIII I. Von den Sinnen im allgemeinen 1. Die Umwelt des Tieres Die Welt, die uns umgibt, ist durchfl.utet von unendlich vielen Krliften. Wenn wir an einem stillen Abend den Klangen lauschen, die der Radioapparat aus fernen Landern uns vorzaubert, so wissen wir, daB ein buntes Durcheinander der verschiedensten elektromagnetischen Wellen uns umgibt und durchdringt. Sie sind iiberall, im wahrsten Sinne des W ortes allgegenwartig, aber ohne den merkwiirdigen Apparat, den der Mensch erschuf, wiir den wir gar nichts von ihnen gewahr werden. Die Radiowellen sind nun allerdings keine Naturerscheinungen, der Lautsprecher lehrt uns aber auch solche kennen. Es knackt und brummt, und wir wissen, daB irgend eine elektrische atmospharische Entladung unsere Musikfreude beeintrachtigt. Diese Entladungen gibt es sicherlich, solange die Welt steht, wer sich aber auf seine natiir lichen Sinne verla.l3t, vernimmt sie nicht. Unser Auge lehrt uns die gleiche Beschranktheit unserer Sinne. Es ist das einzige Organ, mit dessen Hilfe wir solche elektro magnetische Wellen wahrnehmen. Es gibt nun solche in allen Dimensionen. In ununterbrochener FoIge gehen sie von den kilometerlangen Wellen, deren die drahtlose Telegraphie sich bedient, bis zu den iiberaus winzigen ultravioletten Strahlen und den noch viel kleineren Rontgenstrahlen. In dies em riesigen Bereich ist uns durch unser Auge nur die schmale Zone des sicht baren Lichts zuganglich, deren Grenzen bei ca. 800 p,p, und 390 p,p,l liegen. AIle anderen Strahlen sind unserem Lichtsinn fUr ewig verschlossen. Um das Bild zu vervollstandigen, brauchen wir jetzt nur noch einenkurzen Weg in das Reich der Tone zu machen. Auch un serem Horvermogen sind nach beiden Seiten uniibersteigliche Schranken aufgerichtet. Wir horen keinen Ton, moge er noch so 1 I p,p, = I millions tel Millimeter. I v. Buddenbrock, Welt der Since I stark sein, der weniger als I 5 Schwingungen pro Sekunde macht, und eCenscv. enig alle diejenigen, deren Frequenz uber 20000 Schwingungen pro Sekunde hinausgeht. Es fUgen sich diese Beispiele, die sich leicht vermehren lie13en, zu einem geschlossenen Bilde, in dem die Begrenztheit unserer Sinne zutage tritt. Wir sehen, daB es zwei verschiedene Welten gibt: Die groBe objektiv vorhandene, physikalische Welt, die der Physiker mit seinen 1n strumenten millt und wagt, und die subjektive Welt, die den Sinnen des Organismus zuganglich ist und die wir als seine Um welt bezeichnen. Wollen wir die Beziehungen der physikalischen Welt zu irgend einem Organismus studieren, so genugt naturlich der engste Aus schnitt um ihn herum; wir wollen ihn seine Umgebung nennen. Sie enthiilt alle uberhauptvorhandenen Krafte, und wir konnen den Satz pragen, daB fUr alle Geschopfe, die am selben Orte leben, die Umgebung identisch ist. Da die subjektive Umwelt stets nur ein kleiner Teil der Umgebung ist, folgt weiterhin, daB die Um welt eines bestimmten Tieres nicht immer die gleiche ist, sie iindert sich mit der Umgebung. Wenn der Zugvogel yom Norden nach Afrika fliegt, wechselt seine Umgebung in recht betracht lichem MaBe und mit ihr auch alles, was das Tier wahrnimmt. Wichtiger ist aber vielleicht die Einsicht, daB in einer und der selben "Cmgebung die "Cmwelt weitgehend von der Organisation des Tieres abhangt, das folglich seine Umwelt selbst sich schafft. Jedes Tier besitzt seine eigene, nur ihm eigentumliche Um welt, mit der es aufs engste zu einer untrennbaren Einheit ver woben ist, und die sich von der samtlicher anderer Tiere unter scheidet. Wir wollen uns dies an einem ganz einfachen Beispiele klar machen und hierzu am:e1:n:en, daB auf clem Zweige eines Baumes dicht neber:einancler zv. ei recht verschieclene Tiere sitzen, ein Vogel und eine Raupe. Ihre "Cmgebung ist vollig die gleiche, aber trotzdfm lebt jedes in seir:er eigenen "Cmwelt, die dem an deren verschlossen ist. Der Vogel schaut mit seinen scharfen Au glein n:unter in die R ur:cle. Nichts entgeht i1:m, was auf der Lar:dstr2£e geschieht cder auf dem I::enachbarten Felde. Er er spaht den Raubvogel, der hoch im blauen Atber seine Kreise zieht, so gut wie das Mauschen, das im Laube raschelt. Die 2. Raupe dagegen sieht von allen diesen Dingen gar nichts. Die Natur hat sie nur mit einigen recht primitiven kleinen Augen versehen, mit denen sie h6chstens unterscheiden kann, aus welcher Richtung die Sonnenstrahlen kommen und ob die Sonne scheint oder von Wolken verhiillt ist. Aber auch hiervon nimmt sie keine Notiz, solange sie wohlgeborgen im Geast des Baumes sitzt. Die Raupe ist ferner vollkommen taub, fiir den Vogel ist dagegen die Luft mit den verschiedensten Stimmen erfullt, von denen die der eigenen Artgenossen wichtigster Lebensinhllt sind. Es ist nun aber keineswegs so, daB der Vogel alle Triimpfe auf seiner Seite hat. Fur ibn ist es ziemlich einerlei, ob er auf einer Eiche oder einer Linde sitzt. Baum, so meint er, ist Baum. Fur die Raupe hingegen ist zwischen beiden Baumen ein himmelweiter Unterschied, denn die Blatter des einen munden ihr herrlich, wahrend sie lieber des Hungers stirbt, ehe sie ein einziges Blatt des anderen Baumes verzehrt. Wir lernen aus diesem Beispiele, daG sich die Umwelten zweier Tiere auch bei vollig gleicher Umgebung grundsatzlich unter scheiden konnen. Es ist notwendig, sich dies vollig klar zu machen und sich an den eigenartigen Gedanken der subjektiven Umwelt zu gewohnen, den erst der gro13e Forscher Jakob von Uexkiill (t 1944) schuf. Fruher ist stets der Fehler gemacht worden, daG man dachte, der Mensch sei das MaG aller Dinge und die Biene be trachte die Welt mit Menschenaugen, so wie wir es in der "Biene Maja" lesen. In Wirklichkeit gibt es fUr Mensch und Biene uber haupt nicht dieselben Dinge. Es gibt eine Bienenumwelt, eine Hundeumwelt, eine Umwelt fUr den Floh und wieder eine fiir den Bandwurm und so fort. Jedes Tier betrachtet die reale Welt mit seinen Sinnen und holt sich aus ihr nur das heraus, was fiir sein Leben wichtig und entscheidend ist. Die Reichhaltigkeit der Umwelt wachst mit der Organisations hohe eines Tieres. Man hat haufig dariiber gestritten, wodurch sich denn letzten Endes ein hoheres und ein niederes Lebewesen unterscheiden, und es ist dann wohl betont worden, daG das nie dere Tier trotz seiner einfacheren Organisation seine Lebensauf gaben genau so gut erfulle wie das hochstehende die seinen. Jedes Tier ist in seine naturliche Umgebung eingepflanzt, in die es vollendet hineinpaGt, die Amobe in den Schlamm des Tumpels, 1* ; der Mfe in den Urwald. Je deKreatur ist in ihrer Weise vollkommen und keine hat vor der anderen etwas voraus. Dies alles ist richtig, wenn wir nur die Erhaltung des Lebens als das Kern problem betrachten. Aber dennoch bleibt der unermeBliche Abstand zwischen hoch und niedrig bestehen und seine volle GraBe erkennen wir erst, wenn wir die Umwelten beider be trachten. Die Umwelt der niedersten Tiere ist von unsaglicher Armut. So gibt es bis zu den Wiirmern hinauf keinen Schall und fUr sie alle ist die Welt farblos, fiir viele in Finsternis gehiillt, und trotzdem stehen sie in ihrem Sinnesleben noch viel tiefer als etwa ein Mensch der zugleich blind und taub ist, denn auch der Tastsinn und der chemische Sinn leisten ungleich weniger als der unsere. Aber auch wenn derselbe Sinn bei verschiedenen Tieren vorhanden ist, leistet er doch oft ganzlich anderes. Es ist einfach unvergleichbar, was eine Schnecke, eine Biene und ein Vogel mit ihren Augen sehen, wenn sie das gleiche Objekt vor sich haben. Die Um welt oder, wie man auch sagen kann, die Welt der Sinne, ist die Grundlage fiir alles, was der Organismus tut und unter Iafit, sie ist auch die Basis fiir alles Psychische, was es in der Welt gibt. Die Umgebung kann aber noch auf eine andere Art als durch Sinnesreize auf den Organismus einwirken. Wenn wir uns im Sommer an den Strand legen, um unsre Haut braunen zu lassen, so sind hierbei gerade die ultravioletten Strahlen am wirksamsten, die wir mit unseren Augen nie und nimmer wahrnehmen kannen. Sie dringen aber in unsere Haut ein und verursachen die Pigment bildung oder, wenn wir uns zu lange den tiickischen Sonnen strahlen aussetzen, den schmerzhaften Sonnenbrand. Die ultra violetten Strahlen geharen also nicht zu unserer Sinneswelt und trotzdem iiben sie eine sehr kraftige Wirkung auf unseren Karper aus. Auch die Wirkung der Warme liegt meistenteils auBerhalb unserer Sinnessphare. Wenn ein Kaltbliiter, etwa ein Frosch, in eine kalte Umgebung gerat, so wird er dies zwar merken, aber die Wirkung, welche die Kalte auf den ganzen Karper, ja auf jede einze1ne Zelle und damit auf den Stoffwechsel ausiibt, hat hiermit gar nichts zu tun. Der Karper erleidet solche Einwir kungen, kann aber nicht auf sie reagieren. 4 In der 5phare der 5inne ist dies ganzlich anders. Auf Grund der Sinneswahrnehmungen vermag der Organismus auf die Reize der Umwelt zu reagieren, aktiv und handelnd tritt er den Machten entgegen, die in seinem Lebenskreise sich finden. Dies ist die tiefste und innerste Bedeutung unserer Sinne. Die Antworten, die das Lebewesen auf die Sinnesreize gibt, konnen sehr verschie dene sein, aber iibereinstimmend kann von ihnen allen behauptet werden, daB sie dem Organismus forderlich und niitzlich sind. Auf dies em sicheren Fundament ruht die Existenz jeder lebendigen Kreatur, die mit Hilfe ihrer Sinne ihr Leben meistert. Ein neu hinzutretender Sinnesreiz andert zumeist die Gesamt lage, in welcher der Korper sich befindet, er stort, wie man auch sagen kann, das bestehende Gleichgewicht, und der Korper rea giert, indem er, der abgeanderten Situation entsprechend, ein neues Gleichgewicht sich formt. Wir wollen uns dies an einem ganz einfachen Beispiel klarmachen. Wenn wir vom maI3ig erleuchteten Zimmer plotzlich ins grelle Sonnenlicht hinaustreten, wirkt die iibermaBige Lichtmenge storend. Das Auge reagiert aber sofort, indem es die Pupille verengert und die Lichtmenge heruntersetzt. Die Reaktion auf den Reiz loscht also seine Wirkung gewisser maBen aus. In der Sprache der Physiologen nennt man dies eine Regulation und man darf ohne allzu groBe Kiihnheit den Satz aussprechen, daB sehr viele Reizwirkungen auf solche Regulatio nen hinauslaufen. Mitunter liegen die Dinge etwas verwickelter, aber dem sich schlieBenden Kreise begegnen wir auch hier. Wenn der Hunger sich einstellt, wird das Tier unruhig. Wie der Jager seine Hunde ausschickt, um das Wild aufzuspiiren, so sendet das hungrige Tier seine Sinne aus, um neue Nahrung zu erspahen. Haben die Sinne das Tier zu ihr hingefiihrt, so wird der Magen gefiillt und der Hunger verschwindet, der am Anfang der ganzen Handlung stand. So sind die Sinne fUr jedes Getier die sicheren Fiihrer auf dem oft verschlungenen Pfade des Lebens. Wollen wir ihr Wesen und ihre Wirkung aber griindlich verstehen, so diirfen wir nicht bei dieser allgemeinen Erkenntnis stehenbleiben. Wir miissen die Sinne ein wenig aus der Nahe betrachten und hier lautet die erste Frage, mit welchen Elementen unseres Korpers wir fahig sind, die Reize unserer Umwelt in uns aufzunehmen. 5