ebook img

Die Wahrheit Der Niederlandischen Malerei: Eine Archaologie Der Gegenwartskunst PDF

494 Pages·2021·11.515 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Die Wahrheit Der Niederlandischen Malerei: Eine Archaologie Der Gegenwartskunst

Die Wahrheit der Niederländischen Malerei Publiziert mit Unterstützung der Universität für angewandte Kunst Wien. Umschlagabbildung: Hieronymus Bosch, Der Gaukler, ca. 1502. Einbandgestaltung: Sara De Bondt unter Verwendung einer Fotografie nach einer Arbeit von Bernadette Corporation. Foto: © Stedelijk Museum / Photo: GJ. van Rooij. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Sara De Bondt, Gent Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6631-0 (hardback) ISBN 978-3-8467-6631-6 (e-book) Inhalt Vorwort  .......................................................... ix 1. Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit  ............................ 1 1.1. Die Kunstwerdung der Malerei  ............................... 1 1.2. Ästhetik der Wahrheit oder Philosophie der Malerei?  .......... 7 1.3. Die symbolischen Voraussetzungen einer Wahrheit der Malerei  ..................................................... 12 1.4. Die Fragwürdigkeit der Wahrheit in der Malerei  ............... 20 2. Einführung II: Die Aktualität der Niederländischen Malerei  ....... 27 2.1. Das altniederländische Bild-, Malerei- und Kunstverständnis  ... 27 2.2. Repräsentation, Realismus, Reflexivität  ....................... 34 2.3. Antagonistisches, analytisches und synthetisches Bild  ......... 38 2.4. Ausblick: Das Dispositiv der Malerei entfaltet sich  ............. 46 3. Das Bild als Schwelle  ............................................. 53 3.1. Was ist ein Bild?  ............................................. 53 3.2. Die Aktualisierung des Heiligen und der devotionale Sinn der Malerei  ................................................. 61 Jan van Eyck, Robert Campin, Rogier van der Weyden 3.3. Arbeit mit und an der Schwelle: „Die Geburt der Gegenwart“  ... 67 Jan van Eyck, Petrus Christus 3.4. Aktualisierung als Virtualisierung: Die Möglichkeit der Malerei als Kunst  ............................................ 77 Petrus Christus, Hugo van der Goes 4. Wahrheit und Lüge im antagonistischen Bild  ..................... 87 4.1. Antwerpen nach 1500: Radikal veränderte Bedingungen der Kunstproduktion  ............................................ 87 4.2. Antagonistische Bildstrategien: Von der Schwelle zum Konflikt  ..................................................... 99 Hieronymus Bosch, Quinten Metsys, Marinus van Reymerswaele, Jan Sanders van Hemessen, Der Braunschweiger Monogrammist 4.3. Die Erfindung des Realismus als Reflexion antagonistischer Seinsweisen  ................................................. 113 Pieter Aertsen, Joachim Bueckelaer vi Inhalt 4.4. Antagonismus und Allegorese: Konfliktbewältigung vs. Unversöhnlichkeit  ........................................... 130 Pieter Bruegel d. Ä., Crispin van den Broeck, Pieter van der Borcht 5. Die Ewigkeit des Augenblicks und das analytische Bild  ............ 153 5.1. Das letzte antagonistische Bild und die gesellschaftliche Neugründung in der holländischen Malerei  ................... 153 Adriaen van de Venne 5.2. Bild und Analysis: Elemente, Relationen und Formen  .......... 164 Hendrik Goltzius, Hercules Segers 5.3. Die Analytik der Räume und der Gegenstände in Haarlem  ..... 171 Jan van Goyen, Pieter Claesz – Osias Beert, Clara Peeters, Jacques de Geyn II. –, Pieter Saenredam 5.4. Zustand, Situation, Handlung: Die Analytik des Sozialen. Von Haarlem nach Amsterdam  ............................... 195 5.4.1. Das Situative als Genre  ................................ 199 Willem Buytewech, Frans Hals, Judith Leyster, Adriaen Brouwer, Adriaen van Ostade, Albert Eckhout 5.4.2. Auf dem Weg zur Handlung  ........................... 217 Rembrandt van Rijn, Bartholomaeus van der Helst 5.5. Die Analytik der Gegenstände, der Räume und der Situationen: Der Augenblick von Delft  .................................... 240 5.5.1. Die Absorption des Bildes  ............................. 246 Carl Fabritius, Pieter de Hooch, Johannes Vermeer 5.5.2. Soziale Differenz im analytischen Bild  .................. 274 Jan Steen, Gabriel Metsu, Jacob Ochtervelt 5.5.3. Allegorie der Verdichtung  ............................. 282 Johannes Vermeer 6. Der Augenblick der Ewigkeit und das synthetische Bild  ........... 295 6.1. Rekonstruktion der Gesellschaft aus Malerei: Das Antwerpen der Reconquista  ............................. 295 6.2. Bild und Synthesis: Kraft und Kräfteverhältnisse  ............... 299 6.3. Die Grammatik des synthetischen Bildes  ...................... 304 Jan Brueghel d. Ä. 6.4. Verklärung und Gewalt. Die Pragmatik des synthetischen Bildes  ....................................................... 328 Peter Paul Rubens 6.4.1. Der nackte männliche Körper als Mythem  .............. 328 Inhalt vii 6.4.2. Von der Überwindung der irdischen Gewalt zu deren triumphaler Verherrlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.5. Platz schaffen. Die unaufhebbare Differenzialität des synthetischen Bildes  ......................................... 362 Peter Paul Rubens, Jacob Jordaens, Adriaen Brouwer, Michaelina Wautier, David Teniers d. J. 7. Die Transformation der Niederländischen Malerei und die Emergenz moderner Kunst  ....................................... 385 7.1. Ein Nachleben zwischen imaginärer Überwindung und symbolischer Transformation  ................................ 385 7.2. Die praktische Dimension der Aneignung: Erneuerung und Dynamisierung als Kunst  .................................... 391 7.2.1. Das Neue der Erneuerung  ............................. 391 Jacques-Louis David und die Malerei der Moderne 7.2.2. Dynamisierung durch die Projektideen  ................. 397 Modernismus, Avantgarde und Realismus 7.3. Die diskursive Dimension der Aneignung: Ausblendung und Überbietung in der Kunstkritik  ............................... 409 7.3.1. Die spekulative Idee der Kritik  ......................... 409 7.3.2. Die ‚Urszenen‘ der modernen Kunstkritik und ihre Folgen  ................................................ 413 Lessing, Diderot, Rousseau 7.4. Das Unbestimmte bestimmen: Kunstkritische Perspektiven auf eine mögliche Avantgarde  ................................ 429 Nachwort: Philosophie und Malerei – das spekulative Bild  ......... 437 Literaturverzeichnis  ............................................. 453 Vorwort Kunst in der Moderne muss wahr sein. Als ein Erbe der idealistischen Kunst- philosophien lassen sich alle konkreten Ansprüche an Autonomie und Frei- heit, Authentizität oder Originalität nur vor dem Horizont einer gemeinsamen Vorstellung von Wahrheit erheben. Cézanne kündigte an, uns die Wahrheit in der Malerei zu sagen; dieser Ankündigung folgten philosophische Definitions- versuche, die in der Kunst ein Entbergen der Wahrheit des Seins, die Emanation von Sinn, die Rettung vor jeder Entfremdung oder gar die objektive Wahr- heit der geschichtlichen Tendenz erkennen wollten.1 Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Frage, wie die Wahrheit zu einem solch entscheidenden ästhetischen Kriterium und somit zur eigentlichen Bestimmung von Kunst in der Moderne werden konnte. Dies ist sowohl historisch unplausibel – die Ästhetik als philosophische Disziplin entsteht im 18. Jahrhundert gerade durch eine Zurückweisung onto-theologischer, wissenschaftlicher oder politischer Wahrheitsbegriffe – als auch aktuell äußerst umstritten. Doch aller postmodernen Ernüchterung zum Trotz können die Versuche einer Rück- kehr zu einer reinen Erfahrungsästhetik im Kantischen Sinn oder zu einer materialistischen Rhetorik des Poetischen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Theorien selbst, in ihrem jeweiligen Bezug auf den Allgemeinbegriff von Kunst wahrheitsästhetische Aspekte stets mit voraussetzen. Umso mehr gilt dies für die prononcierten Formen heutiger künstlerischer Praktiken, ob sie nun aktivistisch, performativ, konzeptuell oder objektontologisch gefasst sind; sie scheinen mir sinnvoll nur durch einen wahrheitsästhetischen An- spruch fassbar zu sein, den zu überwinden sie bemüht sind. Doch wie findet die Wahrheit ihren Weg in die Kunst? Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung stellt die Annahme dar, dass wir es hierbei nicht ein- fach mit einer höchst ideologischen Erfindung der idealistischen Philosophie zwischen Schiller, Schelling und Hegel zu tun haben, die wir leicht abstreifen könnten um eine anti-idealistische Bestimmung von Kunst zu erreichen. Ent- scheidend ist vielmehr, dass im Idealismus der Allgemeinbegriff von Kunst wahrheitsästhetisch gefasst wird. Dieser Allgemeinbegriff – die Rede von der Kunst – lässt sich nicht mehr als Summe partikularer Bestimmungen fassen; er stellt etwas fundamental Neues und den eigentlich produktiven Faktor jeder künstlerischen Produktion seither dar. Dementsprechend können moderne Kunst und Gegenwartskunst weder nach immanenten: materiellen, kulturellen, 1 Ich habe hier die unterschiedlichen wahrheitsästhetischen Bestimmungen bei Martin Heidegger, Hans Georg Gadamer, Theodor W. Adorno und Georg Lukács im Sinn. x Vorwort medialen oder performativen Aspekten erfasst noch am rein ideellen, begriff- lichen, transzendenten oder ahistorischen Maßstab bemessen werden; viel- mehr sind beide Seiten für das moderne Kunstverständnis unverzichtbar. Jede empirische Praxis braucht eine Ausrichtung am transzendentalen Begriff; und jeder spekulative Begriff von Kunst muss sich an konkreter, praktischer Be- anspruchung bewähren. Die Wahrheit der Kunst kann daher weder in ihrer Materialität noch in ihrer Idealität liegen, sondern nur in der Spannung, die sie jeweils zwischen ihrer empirisch-materiellen Praxis und dem spekulativ- transzendentalen Begriff von Kunst herzustellen in der Lage ist. Die Wahrheit liegt genau in dieser Differenz, und die Geschichtlichkeit eines künstlerischen „Materialstandes“ (Adorno) wäre daran festzumachen, in welcher Form es jed- weder materialen, performativen oder medialen Bestimmung gelingt als Kunst Sinn zu beanspruchen. Die leitende Forschungsfrage meiner Untersuchung betriff daher zum einen, wie man – post-idealistisch – den wahrheitsästhetisch gefassten Allgemeinbegriff von Kunst systematisch im Zusammenhang mit den strukturellen und symbolischen Bedingungen der Moderne insgesamt besser verstehen kann und andererseits, wie man dieses spezifisch moderne Verständnis von Kunst historisch-genealogisch herleiten kann. Dies wiederum kann weder als rein praktische noch als rein begriffliche Geschichte geschehen, sondern nur als konkrete Problemgeschichte aus einem historisch spezifischen Spannungsfeld heraus, in dem die Frage nach der Kunst und ihrer Wahrheit zu einem existenziellen Anliegen von Selbstbestimmung und Selbstbehauptung einzelner künstlerischer Positionen geworden war. Diese Problemlage scheint mir auf exemplarische Weise zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert in den Niederlanden gegeben gewesen zu sein. Hier entstand nicht nur eine aus sich vielfach überlagernden ökonomischen, politischen und religiösen Konflikten hervorgehende historische Dynamik, die für jedes künstlerische Selbstverständnis völlig neue Bedingungen und Heraus- forderungen schuf, sondern auch ein spezifisches Verständnis des Bildes, der Malerei und der Kunst insgesamt, das sich deutlich vom humanistischen der italienischen Renaissance abhebt. Es betrifft in seinem Kern das Gemälde oder Tableau selbst als Vorstellung eines Werks, das als konkretes Objekt nicht definitiv aufgestellt werden kann, sondern zunehmend gezeigt oder aus- gestellt werden muss, und somit durch Konversation verhandelt, aber auch getauscht und gehandelt werden kann. Die Unbestimmtheit von Funktion, Wert und Bedeutung wird unhintergehbar für die einzelnen Gemälde bzw. Werke. Es lässt sich sogar behaupten, dass die Idee des Werks erst vor dem Hintergrund dieser kategorialen Unbestimmtheit auftritt. Diese Unbestimmt- heit ermöglicht die Auseinandersetzung um die Malerei als Kunst; sie tritt in Form eines ‚Spiels‘ zwischen den Künstlern bzw. Künstlerinnen und ihrem Vorwort xi Publikum auf. Ein Bild von Hieronymus Bosch (Abb. 2) zeigt genau eine solche spielerische Verhandlung zwischen der Figur des Künstlers als eines Gauklers und seinem Publikum, mit dem er über das Tableau hinweg kommuniziert bzw. interagiert. Das platonische Vorurteil der Malerei gegenüber verwandelt sich in die positive Bestimmung ihrer Möglichkeit als Kunst.2 Hierbei handelt es sich jedoch keineswegs um eine gelingende Kommunikation, sondern um eine, die in ihren intersubjektiven wie interobjektiven – auf das Tableau bezogenen – Dimensionen mit ihren Verfehlungen, mit Täuschung und Ent- täuschung rechnet. Es ist dieses Muster, das uns noch heute bei jedem Aus- stellungsbesuch begegnet; ein solcher ist sogar nur dann als Erfahrung von Kunst interessant, wenn er sich in dieses Muster einschreiben lässt und darin das spezifische Moment einer Unbestimmtheit auftritt, das als notwendige Be- dingung jeder Wahrheit der Kunst gelten kann. Gerade dieses Unbestimmte wird im 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der Frage, was Kunst sei. Bei Marivaux findet sich die Unbestimmtheit („Je ne sais quoi“) noch gegen die Wahrheit gerichtet; bei Schelling wird sie zum entscheidenden, andere Wahr- heitsformen übertreffenden Kriterium einer spezifischen Wahrheit der Kunst. Entscheidend für meinen Rekonstruktionsversuch ist die Verknüpfung, die der Prozess der Kunstwerdung der Malerei in den Niederlanden mit dem akuten Problem ihrer Wahrheit eingeht. Nicht weil man sich der Wahrheit in der Malerei sicher gewesen wäre, sondern weil sie so radikal auf dem Spiel stand, wurde sie zu einem spezifisch malerisch-künstlerischen Einsatz. Inner- halb der fundamentalen religiösen, politischen und ökonomischen Konflikte der Zeit musste immer erst ein symbolischer Ort beansprucht werden, von dem aus die je eigene künstlerische Produktion Sinn, Funktion und Wert zu generieren in der Lage war. In diesem Sinne sind die historischen Niederlande gleichsam das Experimentierfeld der Moderne geworden. Von dieser Diagnose ausgehend soll im Folgenden ein möglichst detailreiches Panorama der Niederländischen Malerei entworfen werden, innerhalb dessen spezifische Ideen des Bildes, der Malerei und der Kunst auftreten. Auf Basis der grund- legenden Bildidee der altniederländischen Malerei, des Bildes als Schwelle, kommt es im 16. und 17. Jahrhundert zu einer forcierten Entwicklung eines Bilddenkens, dem ich mich in Form von weiteren spekulativen Bildbegriffen 2 Hieronymus Bosch, Der Gaukler, ca. 1502, St.-Germain-en-Laye, Musée Municipal, 53 × 65 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gaukler_(Bosch)#/media/Datei:Hieronymus_Bosch_ 051.jpg; es existieren mehrere Versionen. Hierzu: Jürgen Müller, „Nie wieder Hütchenspiel! Deutung eines Rätselbildes“, in: FAZ, 12. 3. 2018. Müller sieht in der sprachlichen Verwandt- schaft von Tisch und Tableau im Niederländischen ein Indiz, das Bild als Allegorie der Malerei zu lesen, vor dem Hintergrund der platonischen Definition des Künstlers als Gauklers und Trickbetrügers. xii Vorwort anzunähern versuche. Leitend für dieses Vorgehen war die Annahme, dass es genau solche Bildbegriffe bzw. Bildideen sind, die die Vorstellungsweisen der Moderne, worum es bei Malerei als Kunst gehen könnte, entscheidend prägen werden. Das Bild wird zur empirisch-transzendentalen Schnittstelle, an der die Wahrheit in ihrer raum-zeitlichen Besonderheit in Erscheinung treten kann. Im Unterschied zum perspektivischen Bildverständnis Albertis geht es im Bild als Schwelle etwa um die Symbolisierung des konkreten Um- felds des Bildes in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht; nicht um eine objektive, quasi wissenschaftliche Distanz zu den dargestellten Gegenständen, sondern um deren bedeutungsvolle bzw. wahrhafte Nähe und Aktualität, wodurch der Akt der Bildbetrachtung selbst im Bild stets mit konzipiert werden kann. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, im Kontext der massiven politischen, religiösen und sozialen Spannungen, die mit der Verlagerung des ökonomischen Zentrums von Brügge und Gent nach Antwerpen einhergehen, wird die Idee eines antagonistischen Bildes formuliert, das sich als konkreter Einsatz inner- halb der verschiedenen Konflikt-Szenarien verstehen lässt. Die Malerei bildet hier keine Welt ab, und sie repräsentiert keine vorgegebenen Auffassungen; sie positioniert sich vielmehr selbst aktiv im Rahmen der akuten gesellschaft- lichen Konfliktfelder zwischen Arm und Reich, religiösen und ökonomischen Wertsphären, der wahren und der falschen Religion, dem Einzelnen und der Masse, der städtischen und der ländlichen Bevölkerung, Männern und Frauen, lokalen und globalen Bezugspunkten. Keine versöhnende Aufhebung ist hier in Sicht; die Malerei ruft vielmehr die Gegensätze erst auf und entwirft sich selbst in einer engagierten, ebenso behauptenden wie reflexiven Form. Ihr Realis- mus lässt sich nicht mehr aus den diversen Nachahmungstheorien herleiten, sondern einzig aus dem Anspruch, das soziale Feld zu durchqueren und nach Orientierungen zwischen Wahrheit und Lüge zu suchen. In der zunehmenden Spaltung der niederländischen Gesellschaft nach 1585 in eine calvinistisch, kapitalistisch und kolonialistisch geprägte Republik auf der einen Seite und einen von einer breiten Bildkultur getragenen Modellstaat im Rahmen der universalen, gegenreformatorisch-dynastischen Reichsidee auf der anderen Seite entstehen weitere, zueinander komplementäre Vorstellungen von Bild, Malerei und Kunst, in denen der Antagonismus jeweils überwunden werden soll. Hierbei kommt es sowohl zu einer Zuspitzung der jeweiligen Bildidee als auch zu einer Auslagerung der polaren Gegenbilder auf die jeweils andere Seite. Gerade in dieser Gespaltenheit werden sich diese Bildideen, das ana- lytische und das synthetische Bild, als bestimmend für die Moderne erweisen. Von dieser für die holländische und die flämische Malerei grundlegenden Unterscheidung ausgehend, soll die Genese der wiederum zumeist strikt antagonistisch angelegten Wahrheitsnarrative der modernen Kunstkritik

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.