FORSCHUNGSBERICHTE DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN Nr.1893 Herausgegeben im Auftrage des Ministerpräsidenten Heinz Kühn von Staatssekretär Professor Dr. h. c. Dr. E. h. Leo Brandt DK 656.7.052.4 Privatdozent Dr.-Ing. Rainer ßernotat Dipl.-Ing. Dieter Dry Dipl.-Math. Hannelore Widlok Institut für Flugführung und Luftverkehr der Technischen Universität Berlin Direktor: Professor Dr.-Ing. Edgar Rößger Die Voranzeigen als anthropotechnisches Hilfsmittel bei der Führung von Fahrzeugen SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH 1968 ISBN 978-3-663-20092-5 ISBN 978-3-663-20452-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-20452-7 Verlags-Nr.011893 © 196 8 b Y Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 196B Gesamtherstellung : Westdeutscher Verlag Vorwort In den frühen fünfziger Jahren wurde in den USA ein Verfahren publiziert, bei dem mit Hilfe eines »Modells« eine Vorhersage des Verlaufes einer Regelgröße gewonnen wurde. Diese Vorhersage erleichtert dem Menschen seine Aufgaben als Regler in einem System und erbringt eine höhere Gesamtleistungsfähigkeit. In der Abteilung Anthropotechnik des Instituts für Flugführung und Luftverkehr wurden Vorversuche zu einem neuartigen Vorhersageverfahren nach dem »Extra polationsprinzip« durchgeführt, deren Ergebnisse zur Erteilung eines Forschungs auftrages durch das Landesamt für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen führte. Der vorliegende Bericht stellt das Ergebnis der einjährigen Studie dar. Fräulein Dipl.-Math. H. WIDLOK wirkte vor allem im ersten Teil der Untersuchungen mit. Ihre Aufgaben wurden später von Herrn Dipl.-Ing. D. DEY wahrgenommen. Dem Lande Nordrhein-Westfalen als Auftraggeber und der Deutschen Gesellschaft für Ortung und Navigation als vermittelndem Gremium sei an dieser Stelle noch ein mal besonderer Dank ausgesprochen. Weiterhin möchten wir den Herren Wissen schaftlichen Räten Dr. rer. nato habil. RÄNIKE und Dr.-Ing. habil. ZEHLE für ihre Mitwirkung danken sowie den zahlreichen Versuchspersonen, die sich oft außerhalb der normalen Arbeitszeit zur Verfügung stellten. Der Bericht enthält weiterhin einen Ausschnitt einer Arbeit von Herrn Dr. W. HOLLISTER vom Massachusetts Institute of Technology, der im Rahmen eines Austauschprogramms von Juli bis Oktober 1966 am Institut für Flugführung und Luftverkehr tätig war und an einem diese Forschungsarbeit berührenden Thema arbeitete. Die Verfasser Im Januar 1967 3 Zusammenfassung In der Flugführung wird die größte Wirksamkeit durch eine möglichst enge Zusam menarbeit zwischen dem Menschen und der Maschine erreicht. Ihre Eigenschaften sollen sich ergänzen. Das Leistungsvermögen des Menschen (seine Vielseitigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kombinationsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit) wird von einem automatischen Regler bisher nicht erreicht und gewährleistet eine hohe Flexi bilität des Gesamtsystems. Befindet sich der Mensch als Übertragungsglied im Regelkreis, so versucht er stets durch Bildung eines Vorhaltes sein verzögerndes Übertragungsverhalten zu kompen sieren und die Regelgüte des Systems zu verbessern. Zu dieser Vorhersage benutzt er seine aus der Vergangenheit gewonnenen Erfahrungen über das Verhalten der Regelstrecke, über die möglichen äußeren Störeinflüsse und über den Zeitverlauf des Leitwertes. Die Vorhersage des Istwertes erfordert besonders bei schwierigen Regelstrecken eine starke Konzentration des Menschen auf seine Aufgabe. Durch eine errechnete V or anzeige kann ihm durch Entlastung von der Vorhaltbildung die Regelung stark er leichtert (unter Umständen sogar erst ermöglicht) und die Regelgüte entschieden verbessert werden. Die verschiedenen Voranzeigeverfahren werden betrachtet und das Extrapolations verfahren eingehend beschrieben. Die Brauchbarkeit einer Voranzeige nach dem Extrapolationsverfahren zur Stabili sierung von Regelstrecken höherer Ordnung wird experimentell untersucht. Versuchs aufbau, Versuchsdurchführung und Versuchsauswertung werden eingehend beschrie ben und dabei die Problematik bei der Messung an Mensch-Maschine-Systemen aufgezeigt. Die Versuche ergaben, daß die Stabilisierung schwieriger Regelstrecken bei Zuhilfe nahme einer Voranzeige von den Versuchspersonen bedeutend schneller erlernt wird. Im ausgelernten Zustand konnten die Versuchspersonen durch die Voranzeige eine starke Erhöhung der Regelgüte (größere Dämpfung, höhere Einstellgeschwindigkeit) gegenüber der Regelung ohne Voranzeige erreichen. Theoretisch erlangt die Voranzeige ihre größte Bedeutung bei Systemen höherer Ordnung, die durch den Menschen stabilisiert und gleichzeitig gelenkt werden müssen. Hier sollen zukünftige Experimente Klarheit verschaffen. 4 Inhalt 1. Einführung .................................................... . . . . . . 7 1.1 Das Mensch-Maschine-System .................................... 7 1.2 Der Mensch als Regler ........................................... 8 1.3 Die Bedeutung der Voranzeige .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4 Die Problemformulierung ........................................ 11 2. Die Voranzeige ...................................................... 11 2.1 Wählbare Parameter der Voranzeige ............................... 11 2.2 Voranzeigeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13 2.2.1 Das Modellverfahren ............................................ 13 2.2.2 Das statistische Verfahren ........................................ 14 2.2.3 Die Tendenzanzeige (Quickened Display) ........................... 16 2.2.4 Das Extrapolationsverfahren ...................................... 17 2.3 Die Auslegung einer Voranzeige nach dem Extrapolationsverfahren .. .. 18 2.3.1 Ergebnisse der Voruntersuchungen ................................ 18 2.3.2 Offene Fragen zur Auslegung ..................................... 20 2.3.3 Ansatz zur Berechnung der optimalen Vorhersagezeit ................ 22 2.3.4 Das Versuchsprogramm .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 3. Experimente zur Voranzeige ........................................... 27 3.1 Der Versuchs aufbau ............................................. 27 3.1.1 Simulation der Regelstrecke und der Voranzeige .................... 27 3.1.2 Das Anzeigegerät ............................................... 27 3.1.3 Das Bedienelement .............................................. 28 3.1.4 Die Stärung .................................................... 28 3.1.5 Die Bewertung der Regelung ..................................... 29 3.1.6 Der Schreiber .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... 30 3.2 Die Versuchs durchführung ....................................... 30 3.2.1 Die Messungen ................................................. 30 3.2.2 Problematik der Messungen ...................................... 31 3.3 Die Versuchsauswertung ......................................... 33 3.3.1 Die Nulldurchgänge und Richtungsänderungen des Knüppelsignals .... 33 3.3.2 Der Regelfehler als Funktion der Vorhersagezeit .................... 33 3.3.3 Die Knüppelauslenkung als Funktion der Vorhersagezeit ............. 36 3.3.4 Der Regelfehler als Funktion der Knüppelauslenkung ................ 36 3.3.5 Prüfung des Ansatzes zur Berechnung der optimalen Vorhersagezeit ... , 37 5 4. Ergebnisse der Experimente ........................................... 38 4.1 Die Voranzeige und das Lernverhalten ............................. 38 4.2 Die Voranzeige bei der Stabilisierung instabiler Regelstrecken .. , . . . . .. 38 4.3 Die Voranzeige bei der Lenkung von Regelstrecken höherer Ordnung 39 5. Schlußbemerkung .................................................... 40 Verzeichnis der Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 Verzeichnis der Abbildungen .......................................... '" 41 Verzeichnis der Tabellen ................................................. 42 Literaturverzeichnis ..................................................... 43 Anhang ................................................................ 45 6 1. Einführung 1.1 Das Mensch-Maschine-System Jedes System, welches in der sinnvollen Zusammenwirkung von Mensch und Maschine zur Erreichung eines bestimmten Zieles besteht, bezeichnet man als Mensch-Maschine System. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Führung von Fahrzeugen durch den Menschen (Abb. 1). Istwert Abb. 1 Mensch-Maschine-System Das Anzeigegerät (A), der Mensch, das Bedienelement (B) und das Fahrzeug bilden hier einen Regelkreis. Es wird angenommen, daß der Mensch nur in diesem einen Kreis arbeitet. Diese Annahme ist besonders im Hinblick auf die vielfältigen Fähigkeiten des Menschen eine notwendige Voraussetzung für die Untersuchung einer Anzeige. Das Anzeigegerät informiert den Menschen über den Istwert der Regelgröße (Ausgangs größe) und meistens auch über ihren Leitwert (Sollwert, Führungsgröße, Eingangs größe). Das Bedienelement gibt dem Menschen die Möglichkeit, den Istwert über die Über tragungsfunktion des Fahrzeuges so zu beeinflussen, daß die Differenz zwischen Leitwert und Istwert (die Regelabweichung) möglichst minimal ist. Die Regelabwei chungen können infolge äußerer Störungen, durch die Instabilität der Regelstrecke oder durch beide Ursachen auftreten. In dem vorliegenden Regelkreis wurde die Funktion des Menschen so weit einge schränkt und vereinfacht, daß er in den meisten Fällen durch einen automatischen Regler ersetzt werden könnte. Diese Vereinfachungen müssen aber gemacht werden, um die Wirkung einer speziellen Einflußgröße auf den Menschen und das Gesamtsystem untersuchen zu können. Aus ihnen darf nicht zwangsläufig die grundsätzliche Ersetz barkeit des Menschen gefolgert werden. Insbesondere bei komplexen Fahrzeugen sind solche menschlichen Eigenschaften, wie »Mehrkanalregelungsfähigkeit«, Anpassungs fähigkeit, Kombinationsvermögen und Entscheidungsfähigkeit durch Einsicht in die Zusammenhänge von Bedeutung. Durch sie ist es in vielen Fällen möglich, eine ein geleitete Mission des Mensch-Maschine-Systems auch beim Auftreten unvorhergese hener Situationen positiv zu Ende zu führen. Mensch-Maschine-Systeme sollen so konstruiert sein, daß die Intelligenz des Menschen mit den Fähigkeiten der Maschine (Leistung, Schnelligkeit) möglichst optimal verknüpft werden [1, 2]. Maßzahlen für die Güte eines solchen Systems sind zum Beispiel der Regelfehler (infolge Störungen), die Einstellgeschwindigkeit, die Einstellgenauigkeit und die Lenkfähigkeit (das Führungsverhalten). Für die Beurteilung müssen aber neben der Regelgüte die Anforderungen an den Menschen beachtet werden. Hier sind besonders die Erlernbarkeit der Aufgabe, ihre 7 Schwierigkeit für den Menschen und die damit verbundene physische und psychische Beanspruchung zu nennen. Der Mensch ist das am wenigsten bekannte Glied des betrachteten Regelkreises. Die Bestimmung seines Übertragungsverhaltens mit den zu berücksichtigenden Einflüssen ist gegenwärtig Forschungsziel in zahlreichen Ländern. 1.2 Der Mensch als Regler Die Übertragungsmöglichkeiten des Menschen sind äußerst komplex. Das ist der große Vorteil des Menschen gegenüber der Automatik, aber gleichzeitig die große Schwierigkeit bei seiner theoretischen Erfassung. Für das Gesamtproblem ist kein Lösungsweg in Sicht [3]. Um Teillösungen zu erhalten, beschränkt man sich auf ein Eingangs- und ein Ausgangssignal. Bei der Beschreibung des menschlichen Übertragungsverhaltens wird vorausgesetzt, daß der Mensch wirklich nur eine regelnde Funktion übernimmt, in der seine Hand lungen in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem auf ihn wirkenden Reiz stehen und Änderungen des Regelverhaltens durch Denkprozesse ausgenommen sind. Der artige Einschränkungen sind für zahlreiche Aufgaben zulässig. Umfassende Untersuchungen, vorwiegend in amerikanischen Forschungslaboratorien (NASA, MIT), haben den Nachweis erbracht, daß das menschliche Übertragungs verhalten dann durch folgende Charakteristika weitgehend bestimmt ist: 1. Endliche Reaktionszeit 2. Tiefpaßverhalten 3. Abhängigkeit von der Aufgabe 4. Abhängigkeit von der Regelstrecke 5. Abhängigkeit von der Umgebung 6. Abhängigkeit von der angebotenen und gespeicherten Information 7. Abhängigkeit von physiologischen und psychologischen Größen 8. Abhängigkeit von den wirkenden Störungen 9. Zeitabhängigkeit 10 . Vorhersagefähigkeit 11. Lernfähigkeit 12. Nichtlineares Verhalten 13. Zufällige Komponenten im Übertragungsverhalten Unter gewissen Einschränkungen, zum Beispiel Einkanalregelung einfacher Regel strecken nach optischer Anzeige bei niederfrequenten Störungen, kann der menschliche Operator durch eine quasi-lineare Übertragungsfunktion der Form und eine Zufallsfunktion beschrieben werden [4]. Hierin ist Ts die Reaktionszeit des Menschen und T N die neuromuskuläre Verzögerung. Beide Größen sind verhältnismäßig konstant (0,2 und 0,1 sec) [5]. Kp ist der Verstärkungsfaktor des Menschen. TL ist eine Vorhaltzeitkonstante und TI eine Verzögerungskonstante. Der Verstärkungsfaktor und das Korrekturglied mit TL und TI stellen sich so ein, daß die Regelaufgabe möglichst gut erfüllt wird [5]. Ihre direkte Abhängigkeit von der Übertragungsfunktion der Regelstrecke ist meßbar [13]. 8 Der zufällige Anteil der menschlichen Ausgangsgröße hängt von verschiedenen Einflüssen ab, zum Beispiel von der Konzentration und der Anspannung des Menschen, von der Regelaufgabe und der Informationsgüte. Besteht die Möglichkeit großer Störungen und muß der Mensch schnell reagieren, um große Regelabweichungen zu verhindern, so ist er geneigt, auch ohne Eingangssignal ständig ein Ausgangssignal zu erzeugen, weil er aus der Bewegung heraus schneller reagieren kann. Ein ähnliches Verhalten zeigt er, wenn ein Leitwert genau einzuhalten ist [6]. Bei kontinuierlicher Regelung (andauernder Störung) hat die Reaktionszeit keine Bedeutung für das Übertragungsverhalten mehr [7]. Es liegt die Annahme nahe, daß sie durch den gebildeten Vorhalt kompensiert wird [8, 9]. Bei der Durchführung von Regelaufgaben versucht der Mensch stets den zukünftigen Wert (Vorwert) der Regelgröße (Istwert) vorherzusagen [31]. Diese Extrapolation der Bewegung in die Zukunft ist für ihn wichtig, um rechtzeitig und planvoll reagieren zu können. Für dieses Verhalten gibt es viele Beispiele (Autofahrer, Ballspieler). Aller dings handelt es sich dabei meistens nicht um instabile Regelstrecken. Instabil soll eine Regelstrecke genannt werden, wenn für XE(t1) = 0 mit XE(t< t1) =1= 0 lim XA(t) =? 00 t --;. 00 gilt. Danach sind Strecken mit mehr als einer Integrationsstufe oder mit Polen in der rechten Halbebene instabil. Zur Vorhersage der Ausgangsgröße braucht der Mensch Angaben über 1. den Istwert, 2. die Änderung des Istwertes, 3. die Übertragungsfunktion der Strecke, 4. die zukünftigen Störungen. Der konstante Leitwert oder sein zeitlicher Verlauf müssen ihm bekannt sein. Die Art der auftretenden Störungen kennt er meistens durch seine Erfahrung mit dem System. Die Übertragungsfunktion der Strecke lernt der Mensch durch Übung kennen. Ist die Strecke instabil, so bereitet die zur Stabilisierung notwendige Vorhaltbildung dem Menschen Schwierigkeiten. Enthält die Strecke zwei Integrationsstufen (Beschleu nigungssystem), so ist die Schwierigkeit schon recht beachtlich. Die Stabilisierung einer mehr als dreifach integrierenden Strecke durch den Menschen mittels einer ein dimensionalen Anzeige ist bisher nicht bekannt geworden. Den Istwert und die Änderung des Istwertes muß der Mensch aus der Anzeige ent nehmen. Sie soll seine einzige Informationsquelle sein. Die Art der Informations darstellung ist deshalb von besonderer Bedeutung. 1.3 Die Bedeutung der Voranzeige Die Anzeige ist eine Decodierungseinrichtung zur Darstellung von Information in vom Menschen erfaßbaren Symbolen. Sie ist ein Bindeglied zwischen dem Menschen und der Maschine. Informiert eine Anzeige über den augenblicklichen Zustand einer Regelgröße, so heißt der angezeigte Wert Istwert (Xi) und die Anzeige Istwert-Anzeige. Informiert sie über einen zukünftigen Zustand, so spricht man von Vorwert (xv) und Voranzeige. Bei der Auslegung einer Anzeige müssen der Inhalt, der Übermittlungsweg, die Form, der Ort und die Zeit der Anzeige beachtet und geeignet festgelegt werden [31]. 9